studien zum west-östlichen divan - von Katharina Mommsen
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36 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
aus, wie lange dies [der Dämmerungsvorgang] noch dauern werde." Das Unlogische<br />
dieser Interpretation liegt auf der Hand. Gerade der Dichter weiß um die<br />
Verhältnisse der kürzesten N ach t. Wie wäre er sonst imstande, den Schenken Zu<br />
"belehren"? Infolgedessen kann er nicht überrascht und seine Frage (V. 3. 4) nicht<br />
Ausdruck der Ver w und e run g sein.<br />
Burdach 16) setzte das durch Düntzer in die Interpretation hineingebrachte Psychologisieren<br />
fort. Für ihn stellen nun die Verse 3 und 4 überhaupt keine Frage mehr<br />
dar, sondern lediglich einen "in Pragcform sich kleidenden Ausruf". Diesen "Ausruf"<br />
habe der Schenke "als Ausdruck der Ungeduld" mißverstanden. Daraufhin bemühe<br />
er sich, den Eintritt der Mitternacht festzustellen, weil sie die vom Islam<br />
empfohlene Gebetsstunde bringe, bei der "der Andächtige mit dem Gesicht die<br />
Richtung nach Mekka einzuhalten habe" etc. Man sieht, die durch nichts zu rechtfertigende<br />
Umdeutung der Frage in einen "Ausruf" hat für Burdach in Wahrheit<br />
nur den Zweck, seine Lieblingsidee <strong>von</strong> den islamischen Gebetspflichten heranzubringen.<br />
(Wieweit wirklich in "Sommern acht" die Stelle vom Anschauen des<br />
Sternenhimmels [V. 9-16] durch Mohammed-Srrüche der "Sunna" inspiriert sein<br />
könnte, soll unten bei Behandlung der Quellen erörtert werden.)<br />
Staiger kommt darauf zurück, daß der Dichter in den Versen 3 und 4 tatsächlich<br />
den "Wunsch" äußere, etwas zu wissen. "Der Knabe", so führt er weiter aus,<br />
"schickt sich an, den Wunsch mit aller Aufmerksamkeit zu erfüllen." Allerdings sei<br />
des Dichters "Frage nur rhetorisch aufzufassen". Denn es stelle sich heraus, daß er<br />
"längst Bescheid weiß über die Dämmerung" .lI) Dem wäre nur hinzuzufügen: der<br />
Schenke legt in der Tat großen Eifer an den Tag - wir werden darauf noch zurückkommen.<br />
Bezüglich dessen, was der Dichter eigentlidl zu wissen wünscht, bleibt er<br />
jedoch die Antwort schuldig. Hierin, besonders aber .auch in dem Umstand, daß der<br />
Dichter wirklich "Bescheid weiß" über das, was er "wissen möchte", scheinen uns<br />
wesentliche Argumente dafür zu liegen, daß die "rhetorische" Frage zugleich auch<br />
eine p ä d a g 0 g i s ehe ist. Jede pädagogische Frage setzt ja das Wissen des<br />
Lehrenden vuraus: in sofern ist jede pädagogische Frage eine rhetorische.<br />
Beutler hält gleichfa ll s - gegenüber Burdach - daran fest, daß die Verse 3 und 4<br />
eine Frage enthalten. Über das Verhältnis dieser Frage <strong>zum</strong> Wissen des Dichters<br />
sagt er nur: "Der Greis weiß, daß es diesmal kein volles Dunkel geben, daß der<br />
Schimmer der gesunkenen Sonne vom Westen über den nördlichen Horizont nach<br />
Osten gleiten wird. Seine Frage gilt nur der Dauer der Helligkeit im Westen." 18)<br />
Hi) Jubiläumsa usgabe a. a. O.<br />
17) Staiger a. a. O. S. 127 (= Corona X I, S. 84).<br />
18) Beutler a. a. O. S. 699 ff.<br />
Rede des Schenken 37<br />
Die Frage ist also für Beutler nicht pädagogischen, sondern rein informativen Charakters.<br />
Der Dichter will erfahren, wann Mitternacht eintritt, denn dann möchte er<br />
- hier sind wir wieder bei Burdachs islamischem Gebet - zusammen mit dem<br />
Knaben seine Andacht verrichten . Wie Burdach und Düntzer legt Beutler der Frage<br />
einen Sinn unter, den sie nicht hat: man darf es Goethe zutrauen, daß er einen so<br />
spezifischen Inhalt auch kl ar <strong>zum</strong> Ausdruck hätte bringen können. Übrigens findet die<br />
gemeinsame Andacht nach Beutlers Meinung in der "Sommernacht" wirklich statt!<br />
("Dann schickt der Greis den Knaben zur Ruhe.") 19) Hier wird jene Verlagerung des<br />
Schwerpunkts auf das Religiöse, <strong>von</strong> der wir in der Einleitung sprachen, ins Extrem<br />
gesteigert. Mit eigenen Lieblingsvorstellungen dichtet man an dem Gedicht weiter.<br />
Überblickt man die verschiedenen Auffassungen der Eingangsfrage,<br />
so ergibt sich: einzig Staiger ist es um eine wirkliche Kongruenz mit<br />
dem Wortlaut der Dichtung zu tun. Doch gerade sein Hinweis, die<br />
Frage habe nur rhetorischen Charakter, durfte uns darin bekräftigen,<br />
sie als pädagogisdl aufzufassen. Betrachten wir nun, wie der weitere<br />
Verlauf des Gedichts sich darstellt, wenn wir da<strong>von</strong> ausgehen, daß<br />
die Eingangsfrage ein pädagogisches Gespräch einleite. Die Antwort<br />
des Schenken lautet:<br />
10<br />
S eh enke.<br />
Willst du, Herr, so will ich bleiben,<br />
Warten außer diesen Zelten,<br />
Ist die Nacht des Schimmers Herrin,<br />
Komm' ich gleich es dir zu melden.<br />
Denn ich weiß du liebst das Droben,<br />
Das Unendliche zu schauen,<br />
Wenn sie sich einander loben<br />
Jene Feuer in dem Blauen.<br />
Und das hellste will nur sagen:<br />
Jetzo glänz' ich meiner Stelle,<br />
15 Wollte Gott euch mehr betagen,<br />
Glänztet ihr wie ich so helle.<br />
I") A. a. o. S. 702.