studien zum west-östlichen divan - von Katharina Mommsen
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92 Verse zu m Wiener Kongreß<br />
Weg er bei seinen Arbeiten einschlug. Im dritten Teil der Chardinschen<br />
Reisebeschreibung interessierte ihn offenbar das Kapitel "De la<br />
Poesie" am meisten, was durch seine Thematik ohne weiteres verständlich<br />
ist. Infolgedessen las er dieses Kapitel vorweg. E s geschah<br />
das vermutlich am 6. Februar 1815. An diesem Tag entstand das ebenfalls<br />
durch Chardins Kapitel "De la Poesie" angeregte Gedicht "Vier<br />
Gnaden".9)<br />
Zu einem späteren Zeitpunkt - vielleicht erst im März 181 5 - kam<br />
Goethe nochmals auf die Stelle zurück, die er sich notiert hatte; er las<br />
jetzt "Saadi Anfang"sorgfältiger und schrieb daraufhin die Skizze für<br />
ein Gedicht nieder: "An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde". Mit<br />
dieser Skizze begann nun ein zweites Exzerptenblatt nach Chardin,<br />
auf dem weiter unten Aufzeichnungen aus andern, vorhergehenden<br />
Kapiteln des drit~n Teils der Voyages ·en Perse zu stehen kamen.<br />
Offenbar war Goethe an ·dem Tag, an dem er diese Aufzeichnungen<br />
machte, in besonders dichterischer Stimmung. In nicht weniger als vier<br />
Fällen, so sahen wir, formten sich die Lektüreeindrücke unmittelbar<br />
zu Gedichtskizzen. Darin unterscheidet sich dies Exzerptenblatt völlig<br />
<strong>von</strong> fünf andern mit Chardin-Notize n angefüllten Blättern, die auf<br />
uns gekommen sind. Hier dienen die N otizen fast ausschließlich der<br />
Gedächtnishilfe und Belehrung: interessante Stel len mit ihren Seitenzahlen<br />
werden festgehalt:en.9a)<br />
Kehren wir zu unserer Frage zurück, vo n woher die Aufzeichnung<br />
Nr. II des uns interessierenden Exzerptenblattes stammt, so kann die<br />
Antwort jetzt nicht mehr schwer sei n: sie muß gleichf~lls auf Chardin<br />
beruhen, da sich nunmehr der gesamte übrige Inhalt des Blattes als<br />
auf diesen Autor bezüglich erweist.<br />
Wir haben oben bei einem ähnlichen Fall gesagt, daß Rätselhaftes<br />
auf Goetheschen Notizblättern sich u. U. durch Beachtung des Nacheinander<br />
in der Handschrift klären läßt.10) Genau dieser Weg führt<br />
9) Goethe entlieh Chardins Voyagcs cn Perse aus der Weimarer Bibliothek 2). Januar.<br />
bis 19. Mai 181). Vgl. unten S. II4.<br />
9 a ) V gl. WA I 7, S. 28) ; Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 146 H.<br />
10) V gl. oben S. 1).<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 93<br />
uns auch hier <strong>zum</strong> Ziel. Wenn die auf solche Weise gefundene V orlage<br />
zu der Aufzeichnung: "Zaunkönige gewinnen Stimme" etwas<br />
anders aussieht, als man zunächst er·wartet, so wird uns das nicht<br />
wundernehmen. Wäre sie <strong>von</strong> einfacherer Beschaffenheit, so hätte sie<br />
nicht so lange verborgen bleiben können.<br />
Lesen wir unmittelbar ansch ließend an die Partie aus der französischen<br />
Übersetzung der Bustan-Vorrede <strong>von</strong> Saadi, welche die Aufzeichnung<br />
Nr. I eingegeben hat, weiter, so treffen wir sehr bald auf<br />
die Vorlage <strong>von</strong> Aufzeichnung Nr. II unseres Exzerptenblatts. Es<br />
heißt darin - auf derselben Seite 262 des dritten Teils <strong>von</strong> Chardin,<br />
aus der wir oben zitierten -:<br />
"E t ace t t eta b I e dei arg c s s c r e ga r cl c t' 0 n I ' a m i 0 u I' c n n e m i.<br />
Que si quelque malfaisant etoit saisi par sa ma in victoricuse,<br />
Qui est ce qui se tireroit sain et sauf d e I a m ai n des a c 0 I e r e ?<br />
Tous les etres, <strong>von</strong>t parfaisant ses ordres<br />
Tant Fils des H ommes, qu'Oiseaux, Fourmis ct MOllches,<br />
Et a l a t a b I e des a b ci: n ci: f i c e a I'hellre dll ma nger<br />
L'Oiseau SIMOURG vient du munt de Kaf prcndrc sa refection ...<br />
[Es folgen nun antithetische Beispiele vom Zorn und der Milde Gottes.]<br />
Si pour r e v e i Il e r s a c r a i n te dans !es ames i I t ire I' c p e e<br />
de sajLlst i ce,<br />
Les An g e s qui en sont les Mi n ist r es d e v i e n n e n t SOLI r d s<br />
et mLl ets;<br />
Mais s'il profere Lln 0 c t r 0 i dem i s e r i c 0 r d e :<br />
L e pet i t H e Z fl Z i l* c r i e r a, j' e n v e LI x fa ire la pro c I a m a t ion.<br />
[Zu * bemerkt Chardin: 0 i s e a LI p ILI S pet i t q LI ' LI n Mo i Cl e a u, renomme<br />
en Perse pOllr son plLlmage et pour son ra mag e.]<br />
Stellen wir fest, was hier alles mit Goethes Versen:<br />
Verschon uns Gott mit deinem Grimme!<br />
Zaunkönige gewinnen Stimme<br />
übereinstimmt, so ergibt sich: