studien zum west-östlichen divan - von Katharina Mommsen
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48 Die Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />
<strong>von</strong> uns angeführten Abweichung im Wortlaut23) - auf einer Sammelhandschrift,<br />
die unter der Überschrift "Fragmente" II verschiedene<br />
Gedichtbruchstücke und Entwürfe enthält. Diese Handschrift - H 10<br />
der Weimarer Ausgabe - ist aber undatiert und zeitlich schwer zu<br />
bestimmen. Burdach behauptete, die "Stücke dieser Sammelhandschl}ift"<br />
bewiesen es, daß das Ganze "nicht später als 26. Juli 1814 entstanden<br />
sei".24) Das trifft nicht zu.<br />
Die Ir Aufzeichnungen stellen offenbar Reinschriften <strong>von</strong> Entwürfen<br />
dar, die an sich aus verschiedenen Zeiten stammen können. Nur<br />
die dritte Aufzeichnung hat Burdach überhaupt auf ihre Datierbarkeit<br />
untersucht und besprochen. Hier handelt es sich um Strophe 3 des<br />
Gedichts "Keinen ... Reimer , wird man finden". Aber diese Verse geben<br />
uns keineswegs, wie BUl'dach wollte, ein eindeutiges Datierungsindiz.<br />
Denn das vollständige Gedicht trägt die Doppeldatierung : ,,26. Jul.<br />
23. Dec. 1814". Jene dl'itte Strophe kann also auch im Dezember<br />
hinzugefügt sein. Ihr politisch gefäl'bter Inhalt nimmt do~hl Bezug<br />
auf den im September zusammengetretenen Wiener Kongreß,<br />
worüber Goethe November/Dezember r814 - nach seiner Rückkehr<br />
<strong>von</strong> der Rhein-Mainreise - mündliche und schriftliche Nachrichten<br />
erhielt. Wahrscheinlich wurde die Strophe ange regt durch einen Brief<br />
<strong>von</strong> G. Sartorius aus Wien und einen gleichfalls <strong>von</strong> Sartorius verfaßten<br />
Aufsatz über den Wien er Kongreß; beide trafen Anfang Dezember<br />
1814 bei Goethe ein. 25)<br />
Ein anderes sehr wichtiges Datierungsindiz, <strong>von</strong> dem BUl'dach nicht<br />
spricht, würde gleichfalls auf Entstehung der S,"!.mmdhandschrift im<br />
Dezember schließen lassen. Als siebentes "Fragment" erscheint in der<br />
Handschrift die dritte Strophe des Gedichts ,,~dung" (Buch<br />
Hafis). "Nachbildung" aber entstand, wie aus Goethes Tagebuch<br />
bekannt ist, am 7. Dezember 18141<br />
Die "Sommernacht"-Strophe steht in der Handschrift an letzter,<br />
elfter Stelle, also hinter der dritten Strophe <strong>von</strong> "Nachbildung". Das<br />
23) V gl. oben S. 35.<br />
21,) WA I 6, S. 475, zu Paralip. 13.<br />
25) V gl. unten S. 103 f.<br />
Lebensanregungen zu "Sommern acht" 49<br />
weist doch recht deutlich auf ihre Entstehungs2Jeit: Dezember r814,<br />
und hierher ist auch - nach allem, was wir bisher wissen - die Sammelhandschrift<br />
2JU datieren: zwischen 7. Dezember (Datum <strong>von</strong><br />
"Nachbildung") und 15. Dezember (Datum <strong>von</strong> "Sommernacht"). Unrichtig<br />
ist es jedenfalls, wenn Beutler, gestützt auf Burdach, behauptet,<br />
der Anfang <strong>von</strong> "Sommernacht" sei "während des Aufenthalts in<br />
Berka (13. Mai bis 28. Juni), also wirklich zur Zeit der kürzesten<br />
Nächte gedichtet".2G)<br />
Um das Problem der winterlichen Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />
zu lösen, muß man nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten. Zu<br />
vermuten ist, daß sehr bedeutsame Anregungen mitwirkten. Diese<br />
gilt es zu finden. Zunächst soll darum untersucht werden, wieweit<br />
etwa lebendige Eindrücke, Vorgänge, Erinnerungen auf die Entstehung<br />
des Gedichts Einfluß hatten. Sodann sind Anregungen durch<br />
Quellen in Betracht zu ziehen.<br />
IV.Lebensanregungen<br />
Unmittelbare Anregungen durch Lebenseindrücke kann, wenn auch<br />
in begrenztem Maße, der Jenaer Aufenthalt im Dezember ~8r4 gebr~cht<br />
haben. Mehrmals besuchte Goethe das Observatorium. Am<br />
17· Dezember 1814 vermerkt sein Tagebuch: "Sternwarte. Zwey Sonnenflecken.<br />
Durchgang der Sonne durch den Meridian." Häufige Gespräche<br />
mit dem Jenaer Astronomen v. Münchow haben mit Sicherheit<br />
in jenen Tagen das Interesse auf astronomische Fragen und Erscheinungen<br />
gelenkt.<br />
Bedeutsamer ist noch etwas anderes. Einen Tag vor Beginn der<br />
Arbeit an "Sommernacht" kam es "bey Tisch" zu einem Gespräch<br />
über den "Pestaluzzischen Rechen-Unterricht" (Tagebuch 14. Dezember<br />
1814). Dabei wurden Goethes Gedanken in den Bereich des Päd-<br />
..4 .<br />
2(;) West-östlicher Divan. Hrsg. voo Ernst Beutler. Bremen 1956. S. 704.<br />
4: <strong>Mommsen</strong>, Divan·Studien