studien zum west-östlichen divan - von Katharina Mommsen
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20<br />
Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
Denn vor Gott ist alles herrlich,<br />
Eben weil er ist der beste;<br />
Und so schläft nun aller Vogel<br />
In dem groß und kleinen Neste.<br />
Einer sitzt auch wohl gestängelt<br />
Auf den Ästen der Cypresse,<br />
Wo der laue Wind ihn gängelt,<br />
Bis zu Thaues luft'ger Nässe.<br />
25 Solches hast du mich gelehret,<br />
Oder etwas auch dergleichen;<br />
Was ich je dir abgehöret<br />
Wird dem Herzen nicht ent.weichen.<br />
Eule will ich, deinetwege n,<br />
30 Kauzen hier auf der Terrasse,<br />
Bis ich erst des 'Nordgesti rn es<br />
Zwillings-Wendung wohl er passe.<br />
Und da wird es Mitternadlt seyn,<br />
[Zuerst: Und da wird es denn wohl Nacht seyn,]<br />
Wo du oft zu früh ermunterst,<br />
35 Und dann wird es eine Pracht seyn,<br />
Wenn das All mit mir bewunderst.<br />
In der Rede des Schenken finden wir zwei dem Inhalt nach ganz<br />
verschiedene Teile: einmal eine Erwiderung auf die an ihn gerichtete<br />
Frage - sie umfaßt ,die erste Strophe (V. 5-8) und die beiden letzten<br />
(V. 29-36); sodann, als E inschub, eine phantasievolle Digression, die,<br />
wie wir sehen werden, wesentlich diplomatischen _Charakter hat: die<br />
fünf Strophen V. 9 bis 28.<br />
Was die eigentliche Erwiderung betrifft, so enthält sie ein indirektes<br />
Eingeständnis des Nichtwissens. Der Knabe kann die ihm gestellte<br />
Rede des Schenken 39<br />
astronomische Frage nicht beantworten. Er gibt das aber nicht geradewegs<br />
zu, sondern überspielt geschickt seine Verlegenheit indem er<br />
aktivsten Lerneifer zeigt und sich anerbietet, sofort auf e~pirischeni<br />
Wege die fehlende Kenntnis zu erwerben. Er will die Nacht im Freien<br />
wachend verbringen, bis -<br />
Bis ich erst des Nordgestirnes<br />
Zwillings-Wendung wohl erpasse.<br />
Und da wird es Mitternacht seyn,<br />
[Zuerst: Und da wird es denn wohl Nacht seyn]<br />
Deutlich bekunden diese Verse, daß der Knabe genau erkannt hat,<br />
worum es eigentlich geht: nach etwas Astronomischem ist er gefragt<br />
worden. Und wenn er auch die eigentliche Antwort nicht weiß so<br />
will er doch demonstrieren, daß er 'schon genügend Astronomie' beherrscht,<br />
um der Sache nachgehen 2U können. So prunkt er mitastronomischer<br />
Terminologie. Trotzdem gibt er sich eine wirkliche Blöße.<br />
Irrig glaubt er, wenn er nur lange genug warte, werde es zweifellos<br />
am Ende "wohl Nacht seyn". Die handschriftlich überlieferte Fassung<br />
~es Verses 33 ist aufschlußreich. Im Stadium der Gedichtkonzeption<br />
heß Goethe den Schenken gar nicht speziell vom Eintritt der "Mitternacltt",<br />
-sondern einfach <strong>von</strong> dem der Nacht, der Dunkelheit reden.<br />
Dies sollte uns zur Vorsicht mahnen gegenüber allen Thesen <strong>von</strong> mitternächtlichen<br />
islamischen Gebeten etc.<br />
Wie das Verhalten des Schenken im Erwiderungs-Teil seiner Rede<br />
dargestellt ist, das trägt alle Merkmale des Goetheschen Realismus.<br />
So reagieren Knaben, wenn eine Frage, die sie nicht beantworten können,<br />
sie in die Enge treibt. Sie suchen das Blamiertsein zu überspielen<br />
durch Bekundung <strong>von</strong> Lerneifer, durch Demonstration sonstigen Wissens.<br />
Bei Platon gibt es vielfache Beispiele dafür. Überhaupt darf des<br />
Sokrates Lehrweise als Hintergrund zu dem pädagogischen Gespräch<br />
der "Somtnernacht" gedacht werden: durch Fragen die Schüler in die<br />
Situation des Blamiertseins zu bringen, das gehört ja <strong>zum</strong> Wesen der<br />
sokratischen Elenktik.