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2,8 mb - Ludwig-Maximilians-Universität München

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Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid aus dem Leben<br />

geschiedenen Patienten litt an einer Tumorerkrankung.<br />

In den allermeisten Fällen wurde die Sterbehilfehandlung<br />

durch den Hausarzt zuhause beim<br />

Patienten durchgeführt. In Krankenhäusern und<br />

Pflegeheimen hingegen kam Sterbehilfe nur sehr<br />

selten vor. In vier der insgesamt 1.886 Fälle wurde die<br />

Staatsanwaltschaft eingeschaltet.<br />

Vergleicht man diese Zahlen mit den Ergebnissen<br />

einer landesweiten Studie aus dem Jahre 2001, die<br />

etwa 3.500 Fälle von Lebensbeendigung auf Verlangen<br />

und weitere 300 Fälle von Beihilfe zum Suizid zu<br />

Tage brachte, so ist davon auszugehen, dass nur<br />

etwa die Hälfte der tatsächlichen Sterbehilfehandlungen<br />

gemeldet werden.<br />

Zwei aktuelle Entwicklungen verdienen ferner Beachtung:<br />

2004 wurde erstmals ein Fall von Lebensbeendigung<br />

auf Verlangen bei einem Alzheimerpatienten<br />

gemeldet. Obwohl der Patient noch längere Zeit<br />

hätte leben können, sah die zuständige Kontrollkommission<br />

die Sorgfaltskriterien als erfüllt an. Anfang<br />

dieses Jahres wurde bekannt, dass zwischen 1997<br />

und 2004 insgesamt 22 Neugeborene mit Spina<br />

bifida (offener Rücken über der Wirbelsäule, an dem<br />

Rückenmark zutage tritt) und/oder Hydrocephalus<br />

(Überdruck im Kopf als Folge einer gestörten Regulierung<br />

des Gehirnwasserflusses) auf Verlangen der<br />

Eltern getötet wurden. In allen Fällen wurden die Ermittlungen<br />

seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt.<br />

Pressemitteilungen zufolge plant das niederländische<br />

Justizministerium ein Gesetz, das auch diese Form<br />

der Sterbehilfe unter bestimmten Voraussetzungen<br />

ermöglichen soll.<br />

Als zweites Land der Welt hat Belgien im Mai 2002<br />

ein Gesetz beschlossen, dass die Lebensbeendigung<br />

auf Verlangen ermöglicht. Das belgische Gesetz ist<br />

dem niederländischen in großen Teilen ähnlich: Wie<br />

in den Niederlanden ist ein freiwilliges, wohl überlegtes,<br />

andauerndes und unbeeinflusstes Verlangen<br />

des Patienten nötig. Das physische oder psychische<br />

Leiden des Patienten muss unerträglich, andauernd<br />

und unheilbar sein. Der Arzt muss sich vor Durchführung<br />

der Sterbehilfe mit einem zweiten, unabhängigen<br />

Arzt beraten und die durchgeführte Handlung<br />

einer Bundeskommission für die Kontrolle und<br />

Evaluation des Sterbehilfe-Gesetzes melden.<br />

Es gibt aber auch einige entscheidende Unterschiede:<br />

Zunächst ist der behandelnde Arzt verpflichtet,<br />

dem Patienten die Möglichkeiten der Palliativmedizin<br />

aufzuzeigen. Zudem ist er gehalten, Kontakt zu<br />

den Angehörigen und einem möglicherweise vorhandenen<br />

Pflegeteam aufzunehmen und mit diesen<br />

über den Patientenwunsch zu sprechen. Ferner verlangt<br />

das Gesetz, dass dieser schriftlich fixiert und zu<br />

den Krankenakten gelegt wird. Ist der Patient dazu<br />

nicht mehr in der Lage, so übernimmt dies eine volljährige<br />

Person seiner Wahl. Es besteht auch die Möglichkeit<br />

einer antizipierten Sterbehilfeerklärung. Der<br />

in der Öffentlichkeit am meisten wahrgenommene<br />

Unterschied besteht jedoch darin, dass der Patient<br />

nach belgischem Recht nicht in absehbarer Zeit sterben<br />

muss. Es genügt bereits, wenn er unheilbar krank<br />

ist, sein Tod aber zeitlich noch weit entfernt. In diesem<br />

Fall ist zwischen dem schriftlich dokumentierten<br />

Wunsch nach Sterbehilfe und der Durchführung derselben<br />

eine Wartefrist von einem Monat vorgeschrieben.<br />

Im Septe<strong>mb</strong>er 2004 hat die Bundeskommission erste<br />

Zahlen veröffentlicht: Demnach wurden von Septe<strong>mb</strong>er<br />

2002 bis Deze<strong>mb</strong>er 2003 259 Fälle von Tötung<br />

auf Verlangen gemeldet. In 91,5 Prozent dieser Fälle<br />

war der Patient als terminal, in 8,5 Prozent als nicht<br />

terminal eingestuft. 41 Prozent der Sterbehilfehandlungen<br />

wurden zu Hause beim Patienten, 54 Prozent<br />

in Krankenhäusern und fünf Prozent in Pflegeheimen<br />

durchgeführt. 80 Prozent der gemeldeten Fälle ereignete<br />

sich im flämischen Teil Belgiens, 20 Prozent<br />

im wallonischen. Dieses Ergebnis dürfte auf die kulturellen<br />

Unterschiede dieser beiden Landesteile<br />

zurückzuführen sein.<br />

Nach einer Studie gab es 1998 circa 640 Fälle von<br />

Tötung auf Verlangen in Flandern. Da bis Deze<strong>mb</strong>er<br />

2003 – also 15 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes<br />

– in ganz Belgien nur 259 Fälle gemeldet wurden,<br />

muss man davon ausgehen, dass die Mehrzahl der<br />

Sterbehilfefälle von den belgischen Ärzten nicht gemeldet<br />

wird.<br />

Die gesetzlichen Reglungen in den Niederlanden und<br />

Belgien verfolgen das Ziel, die Praxis der aktiven Sterbehilfe,<br />

die nachweislich auch in anderen Ländern<br />

existiert, transparenter zu gestalten, und die Lebensbeendigung<br />

auf Verlangen als letzten Ausweg für<br />

schwerstkranke Menschen zu ermöglichen, deren<br />

Leiden durch andere Maßnahmen nicht mehr zu lindern<br />

ist. Dieses Ziel ist – unabhängig davon, wie man<br />

persönlich dazu stehen mag – als Versuch, moralisch<br />

verantwortlich mit diesem Problem umzugehen, zu<br />

respektieren.<br />

Die Praxis in beiden Ländern zeigt jedoch, dass dieses<br />

Ziel nur zum Teil erreicht wurde. Ein grundlegendes<br />

Problem besteht in der geringen Meldebereitschaft<br />

der Ärzte. Selbst in den Niederlanden,<br />

wo die Praxis der aktiven Sterbehilfe seit gut 20 Jahren<br />

von den Gerichten geduldet wird, wird nur etwa<br />

jede zweite Sterbehilfehandlung gemeldet. Man darf<br />

annehmen, dass insbesondere jene Fälle, in denen<br />

die Sorgfaltskriterien nicht in vollem Umfang erfüllt<br />

sind, nicht gemeldet werden. Dies stellt die Funktion<br />

der Kontrollkommissionen und mit ihr die Effektivität<br />

der gesetzlichen Regelungen als solche erheblich in<br />

Frage. Ein weiteres Problem besteht in der schleichenden<br />

Ausweitung der „Indikation“ zur Sterbehilfe.<br />

Während Sterbehilfe ursprünglich als Ultima-Ratio-<br />

Lösung für Patienten gesehen wurde, deren Leiden<br />

auf keine andere Weise mehr gelindert werden kann,<br />

zeigt die Praxis, dass die aktive Sterbehilfe im Falle<br />

ihrer gesetzlichen Zulassung nicht auf diese enge<br />

Patientengruppe beschränkt bleibt. Die gesellschaftliche<br />

Akzeptanz dieser Lösung führt vielmehr dazu,<br />

dass sie auch von anderen (Patienten-)Gruppen, wie<br />

psychisch Kranken, oder Eltern für ihre behinderten<br />

Neugeborenen eingefordert wird.<br />

Ob diese Erfahrungen in Summe nun für oder gegen<br />

eine gesetzliche Zulassung der aktiven Sterbehilfe<br />

sprechen, kann und muss jeder für sich beurteilen.<br />

Ich persönlich respektiere den Weg, den die Niederländer<br />

und Belgier in dieser Frage eingeschlagen<br />

haben, lehne ihn aber für Deutschland ab.<br />

MUM 01 | 2006 ESSAY<br />

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