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2,8 mb - Ludwig-Maximilians-Universität München

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Die Grenzen der Disziplinen sind historisch gewachsen – die Natur<br />

unterscheidet nicht zwischen Physik, Chemie und Biologie,<br />

sie ist ein Ganzes. Die Einteilung in Disziplinen erscheint zwar hilfreich,<br />

ist aber auch willkürlich. Naturwissenschaftliche Probleme konnten und<br />

können erfolgreich innerhalb einer Disziplin gelöst werden. Aber Antworten<br />

auf komplexe Fragestellungen unserer Zeit erfordern zunehmend<br />

interdisziplinäres Vorgehen. Als Beispiele für den großen Erfolg<br />

ein solchen Zusammenarbeit in der Geschichte der Wissenschaft seien<br />

hier der Einsatz des Mikroskops als physikalische Erfindung in der<br />

Biologie oder die Röntgenbeugung genannt, wodurch immer kleinere<br />

Einheiten von der Zelle bis zur<br />

Struktur und Funktion einzelner<br />

P R O<br />

Biomoleküle aufgeklärt wurden.<br />

Gerade in heutiger Zeit bietet interdisziplinäres<br />

Vorgehen in den<br />

Naturwissenschaften große Chancen<br />

und Perspektiven. So berühren<br />

komplexe Probleme etwa im<br />

Bereich Energie, Umwelt oder Gesundheit<br />

Aspekte verschiedener<br />

Disziplinen und benötigen deren<br />

konzertierten Einsatz. Interdisziplinarität<br />

erweitert das Methodenspektrum,<br />

führt so zu qualitativ<br />

neuen Beobachtungen und erzeugt<br />

eine Vielzahl neuer Ideen<br />

und Konzepte. Sie macht Lehrende<br />

bzw. Forschende in hohem<br />

Maße zu Lernenden, indem sie sie<br />

mit der Sprache, den Methoden und den Modellen der anderen Disziplin<br />

bekannt macht. Interdisziplinäres Vorgehen ist wissens-, problemoder<br />

durch wirtschaftliches Interesse getrieben. Die Industrie ist in hohem<br />

Maße von interdisziplinärer Forschung, nicht nur innerhalb der<br />

Naturwissenschaften, sondern auch zwischen Natur- und Ingenieurwissenschaften<br />

abhängig, um innovative Produkte und damit Arbeitsplätze<br />

zu schaffen.<br />

Interdisziplinarität spiegelt sich auch in der Berufungspolitik der Hochschulen<br />

wider: Wurden ursprünglich nur Professoren in Physik, Chemie<br />

sowie Biologie berufen, so wurden im letzten Jahrhundert bis heute<br />

neue Lehrstühle für Physikalische Chemie und Biochemie, Biophysik<br />

oder sogar Biophysikalische Chemie gegründet. Auch neu gegründete<br />

Forschungszentren, wie das Center for NanoScience (CeNS) der<br />

LMU, sind ausgewiesene interdisziplinäre Forschungsplattformen, in<br />

denen um ein großes Thema gruppiert in hohem Maße und sehr erfolgreich<br />

interdisziplinäre Forschung vorangetrieben wird.<br />

Interdisziplinarität zeitigt aber auch Probleme. Sie liegen in den Sprachbarrieren<br />

zwischen den Disziplinen, den Berührungsängsten beim Verlassen<br />

des Kompetenzbereichs innerhalb der eigenen Disziplin und dem<br />

hohen Zeitaufwand, um Wissen in der anderen Disziplin zu gewinnen,<br />

was mittelfristig auch zu einem Wissensverlust in der eigenen Disziplin<br />

führen kann. Voraussetzung für erfolgreiche interdisziplinäre Arbeit<br />

sind Kommunikation, Kooperation und Koordination. Nur wenn die<br />

Sprache und das persönliche Miteinander stimmen, wenn die Fähigkeiten<br />

aus den einzelnen Disziplinen richtig gewählt sind, sich ergänzen<br />

und durchdringen und die Untersuchungen gut koordiniert<br />

werden, stellt sich der Erfolg ein. Eine Grundvoraussetzung ist jedoch<br />

eine hohe Professionalität in der jeweils eigenen Disziplin, denn nur so<br />

kann der anderen etwas geboten werden.<br />

+ CONTRA<br />

MUSS ERFOLGREICHE<br />

FORSCHUNG INTER-<br />

DISZIPLINÄR SEIN ?<br />

Inwieweit Forschung interdisziplinär ausgerichtet ist bzw. sein<br />

muss, hängt im Wesentlichen vom jeweiligen Fach ab. Ist für<br />

eine innovative naturwissenschaftliche Forschung die Interdisziplinarität<br />

nahezu unabdingbar, so gilt dies für eine erfolgreiche<br />

geisteswissenschaftliche Forschung nicht zwingend.<br />

Disziplinen sind Zufallsprodukte der Wissenschaftsgeschichte,<br />

entstanden in Prozessen der Förderung wissenschaftlicher<br />

Erkenntnis durch funktionale Spezialisierung und<br />

immer feinere Differenzierung der Methoden, Fragestellungen<br />

und Sehepunkte. Mit faszinierender begrifflicher Prägnanz hat<br />

Max Weber betont, daß der erhoffte „Fortschritt der Wissenschaft“<br />

unumgänglich an Spezialisierung gebunden bleibt, an<br />

die mit neuen, genaueren Begriffen und Deutungstechniken verbundene<br />

Verselbständigung überkommener Teilfächer zu methodisch<br />

autonomen Disziplinen. Doch je genauer Einzelnes erkannt<br />

wurde, desto lauter ertönte<br />

die Klage, daß die Spezialisten<br />

in ihren Partikularperspektiven<br />

„das Ganze“ aus<br />

dem Blick verloren hätten.<br />

Seit der ersten romantischen<br />

Denkrevolution um 1800 bildet<br />

diese Kritik an borniertem<br />

akademischen Fachmenschentum<br />

und disziplinenspezifischer<br />

Blickverengung die Begleitmusik<br />

eines Forschungsbetriebs,<br />

in dem inzwischen<br />

selbst die große Mehrheit der<br />

Philosophen und Theologen<br />

keinerlei Ganzheitsattitüden<br />

mehr pflegen. Schwundstufen<br />

idealistischer Syste<strong>mb</strong>astelei<br />

lassen sich zwar gegenwärtig noch beobachten, etwa in den Allvernetzungsphantasien<br />

mancher externer Synergiegewinnexperten,<br />

die <strong>München</strong>s „Wissenschaftslandschaft“ neu ordnen<br />

wollen.<br />

Der Glaube, daß interdisziplinäre „Forschungsverbünde“ oder<br />

transdisziplinäre „Cluster“ der entscheidende Ort zur Erzeugung<br />

innovativer, besserer Erkenntnis seien, mag Natur-, Technikoder<br />

Lebenswissenschaftler in den weißblauen Himmel der<br />

schnellen Verwertbarkeit führen. Doch in den Geisteswissenschaften<br />

folgen Innovationsoffensiven einer signifikant anderen<br />

Logik. Inka Mülder-Bach hat darauf hingewiesen, daß alle bedeutenderen<br />

Bücher der Geisteswissenschaften der letzten 50<br />

Jahre in „Einsamkeit und Freiheit“ geschrieben wurden, relativ<br />

fern von den institutionellen Zwängen einer „Wissenschaft als<br />

Großbetrieb“ (Adolf von Harnack).<br />

Gewiß blicken auch Geisteswissenschaftler über den Tellerrand<br />

des eigenen Faches, und eine disziplinäre Spezialperspektiven<br />

entgrenzende Bildung schadet ihnen ebensowenig wie das Gespräch<br />

über Fächergrenzen hinweg. Aber Erkenntnisfortschritt<br />

verdankt sich in den Geisteswissenschaften weithin der Kreativität<br />

des Einzelnen. Gute Geisteswissenschaften gleichen den<br />

Künsten darin, daß Sensibilität und Weltoffenheit des denkenden<br />

Individuums, seine Reflexionskraft und Bildung, die entscheidenden<br />

Produktivkräfte sind.<br />

MUM 01 | 2006 FORUM<br />

27<br />

7 Professor Dr. Christoph Bräuchle,<br />

Lehrstuhlinhaber für Physikalische Chemie<br />

an der LMU und Vorstand des Centers for<br />

NanoSience (CeNS)<br />

7 Professor Dr. Friedrich Wilhelm Graf,<br />

Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik<br />

an der LMU

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