Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
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<strong>grundrisse</strong> 45 x 2013<br />
16<br />
regelrechten Bewegung, die manche Autoren an den<br />
Randbereich einer Revolution setzen. Aus England<br />
hat vermutlich Lenin seinen unsäglichen Begriff der<br />
Arbeiterkontrolle genommen. Vereinzelt konstituierten<br />
sich Räte auch in Frankreich, USA und Kanada,<br />
ohne allerdings nennenswert auf die nationale<br />
Politik Einfluss nehmen zu können. Natürlich ist<br />
der Übergang von Streikkomitees und räteähnlichen<br />
Strukturen zu klassischen Arbeiterräten fließend. In<br />
Südeuropa, von Portugal über Italien bis hin in den<br />
Balkan wurden auch die Bauern und Bäuerinnen aktiv<br />
und begannen das Land der Großgrundbesitzer<br />
zu okkupieren. Auch hier spielten verschiedene<br />
Formen der Selbstorganisation eine bestimmende<br />
Rolle. Und jenseits Europas, in China und Indien ist<br />
diese Zeit bekannt <strong>für</strong> ihre antikolonialen Kämpfe,<br />
die schließlich in die Unabhängigkeit führten.<br />
So verwundert es nicht, dass Räte 1927 in China<br />
auftauchen.<br />
Mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten<br />
die Bewegungen in Frankreich (1936) und vor<br />
allem in der spanischen Revolution (1936-1939).<br />
Für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg sind Arbeiterräte<br />
bezeugt <strong>für</strong> Osteuropa, Polen, der ungarischen<br />
Revolution 1956 und der Tschechoslowakei 1968.<br />
In Westeuropa flammen sie kurz im „Pariser Mai“<br />
1968 auf und erstehen wieder in der portugiesischen<br />
Revolution 1974/75. Weiter finden wir Räte in<br />
Algerien während des Unabhängigkeitskrieges und<br />
in Lateinamerika, Bolivien und Chile sowie im Iran<br />
1979. Selbstorganisationen spielten in vielen Erhebungen<br />
auch der letzten Jahre eine entscheidende<br />
Rolle, wenngleich sie nur kaum beschrieben wurden.<br />
Manche sich sozialistisch nennende Regierung<br />
versuchte bzw. versucht ihre Legitimation auf die<br />
Etablierung von Selbstverwaltung von Arbeitenden<br />
zu errichten, mit mehr oder minder großem Erfolg.<br />
Jugoslawien hatte hierzu eine reichliche Literatur<br />
produziert und natürlich ist hier Chavez in Venezuela<br />
nicht wegzudenken. Diese beeindruckende<br />
Liste zeigt zu Genüge, wie sehr die Emanzipationsversuche<br />
der arbeitenden Klassen eine intensive<br />
Beschäftigung verdienen.<br />
Seit dem Zusammenbruch des russischen Ungeheuers<br />
tut sich der Mythos schwerer, ohne eine<br />
hierar chisch-zentralistisch organisierte Partei und<br />
einen allgewaltigen Staatsapparat könne keine<br />
Gesellschaft errichtet werden, worin menschliche<br />
Freiheit und Selbstentfaltung herrschen. Dabei<br />
haben längst die Aufstände und Bewegungen in<br />
Kronstadt 1921, DDR 1953, Polen 1956, 1970 und<br />
1980, der CSSR 1968 und besonders die Revolution<br />
in Ungarn 1956 den wahren, antikommunistischen<br />
Charakter der Sowjetunion und ihrer Satelliten<br />
bewiesen. Der bereits in Spanien umlaufende<br />
Spruch, „wer den Kommunismus verhindern will,<br />
wähle kommunistisch“ bewahrheitete sich wenige<br />
Jahre später auf breiter Stufenleiter in Osteuropa.<br />
Die Leugnung der Selbstbewegungen und<br />
der Selbstorganisationen der arbeitenden Klassen<br />
sowie deren systematische Unterdrückung war das<br />
geheime Band der Herrschaften in Ost und West.<br />
Darum ist es nicht verwunderlich, dass sich das<br />
Gros der Herrschenden des früheren Osteuropa in<br />
den Chefetagen der neuen Gesellschaften gütlich<br />
tun konnte, wenngleich diese sich die Pfründe teilen<br />
mussten mit neuen Räubern aus dem Westen und<br />
den kriminellen Emporkömmlingen, welche sich<br />
mählich mit der Legalität des Reichtums arrangierten.<br />
Nun ist diese „Identität“ der Herrschaftsinteressen<br />
keine neue Erkenntnis, so schrieben Autoren der<br />
„Neuen Linken“ in den 60er und 70er Jahren davon.<br />
Da war es naheliegend, dass sich <strong>linke</strong> Studenten<br />
auf den Begriff der Räte, den sie richtigerweise aus<br />
einer kritischen Auseinandersetzung mit der revolutionären<br />
Zeit nach dem 1. Weltkrieg entwickelt<br />
haben, besannen, obwohl es hier natürlich auch eine<br />
gewisse Kontinuität der Kritik an der Sowjetunion<br />
und der Verteidigung eines „Sozialismus von unten“<br />
(Hal Draper) gab. Diese Rückbesinnung auf die<br />
Rätebewegung schuf eine regelrechte Rätediskussion,<br />
die leider daran mangelte, dass sie sich relativ<br />
schnell auf reine Organisationsvorstellungen und<br />
-entwürfe reduzierte. So entglitt der richtige Ansatz<br />
aus der Hand und erstarrte, ähnlich wie es mit den<br />
pädagogischen Prinzipien A.S. Neills geschah. Dabei<br />
schien es, dass diese Organisationsdiskussion mit<br />
aktuellen Prozessen parallel laufen wollte, wie im<br />
Pariser Mai, den Komitees in der Tschechoslowakei<br />
oder Polen sowie den Räten in Chile und Portugal.<br />
Nun sind aber alle sozialistischen Revolutionen und<br />
Erhebungen gemessen am Ziel der Errichtung einer<br />
sozialistischen Gesellschaft gescheitert. Dies bedarf<br />
einer Erklärung. Sicher könnten wir uns auf den bequemen<br />
Standpunkt stellen, dass der Sieg nur eine<br />
Frage der Zeit sei. Immerhin benötigte die bürgerliche<br />
Gesellschaft von der manuelinischen Revolution<br />
in Portugal 1389 bis zur Etablierung der bürgerlichen<br />
Welt nach 1789 über 500 Jahre, was beweisen