Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
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Vorläufige Thesen zu einem System der Angst<br />
drastischen Rückgang der globalen Reallöhne<br />
führt, also durch die radikale Kürzung der globalen<br />
Produktionskosten gewonnen wird, befrachtet die<br />
Ressourcen, die <strong>für</strong> den Konsum gebraucht werden<br />
(konkurrierende Nachfrage), mit Unsicherheit.<br />
Verbrauchermärkte brauchen noch immer die<br />
Teilnahme der Massen, die <strong>für</strong> immer vom Einkommen<br />
in der Lohnform abgeschnitten sind. Damit<br />
Produktion und Handel weitergehen können, wird<br />
die Verbrauchernachfrage irgendwie finanziert<br />
werden müssen. Die erste panische Lösung – daraus<br />
auch die aktuelle Schuldenkrise – war die immense<br />
Kreditfinanzierung auf der Grundlage fiktiven Kapitals<br />
gewesen. Arbeit als eine legitime Quelle des<br />
Konsums, also des Unterhaltes, wurde weitgehend<br />
durch Kredit ersetzt, eine Vergesellschaftung von<br />
Zirkulation und Nachfrage auf zweiter Ebene. Ähnliche<br />
Fragen wurden früher durch eine staatliche<br />
Version (Wohlfahrtsstaat) dieses Angebots von Anreizen<br />
<strong>für</strong> Akkumulation, Investition und Reinvestition<br />
in einer geordneten, regulierten Art gelöst. Dieser<br />
gesellschaftliche Kreditvorschuss wurde durch<br />
souveräne Staatsmacht und territoriale Expansion<br />
(Kolonialismus) garantiert, die unproduktive Löhne<br />
in den fortgeschrittenen Ökonomien (sprich weißen<br />
Nationen) hautsächlich im Staatssektor finanzieren<br />
sollten, was Frieden und Ordnung im Inneren<br />
möglich machte, während das zunehmend imaginäre<br />
Modell von Vergesellschaftung durch Arbeit intakt<br />
gehalten wurde. Der Abbau solcher staatlicher<br />
Ressourcen und sozialdemokratischer politischer<br />
Maßnahmen zur Finanzierung von Konsum (inklusive<br />
Wohnung, öffentlicher Verkehr, Erziehung, etc.)<br />
durch die neokonservative Konterrevolution (von<br />
den 1970ern bis jetzt) ließ ein noch nie dagewesenes<br />
Rätsel auftauchen.<br />
5) Die gesellschaftlichen und ökonomischen Kräfte<br />
der Staaten wurden genau zu dem Zeitpunkt<br />
radikal beschnitten, da es keine andere Macht gab,<br />
an die sich die neue nicht produktive Mehrheit<br />
wenden konnte, um zu fordern, dass ihr Überleben<br />
(Lebensstandard, Aufstiegsmöglichkeit, materielle<br />
Verbesserung) als Bedingung menschlicher Existenz<br />
in organisierter Gesellschaft (Zivilisation) aufrecht<br />
erhalten bliebe. Dies also war der Moment, in<br />
dem die mächtige herrschende Ideologie ernsthaft<br />
damit begonnen hat, zwischen bürgerlicher und<br />
sozialer Gleichheit zu unterscheiden, deren Synthese<br />
von der nun vergessenen Katharsis von 1945<br />
versprochen worden war (man denke an die Reihe<br />
sozialer Verfassungen, die von antifaschistischen<br />
Wählermehrheiten in Italien, Österreich, Frankreich,<br />
Deutschland, etc. in den 1940ern und 1950ern<br />
angenommen wurden, vom Sowjetblock ganz zu<br />
schweigen). Das war die Zeit, da der alte Konflikt<br />
zwischen Freiheit und Gleichheit (vorgetragen von<br />
einem altertümlich aristokratischen Liberalismus,<br />
eine Reaktion auf die Französische Revolution)<br />
wiederbelebt wurde, da, Gleichheit wieder als Neid<br />
und Missgunst definiert wurden, was von gerissener<br />
totalitärer List in Anschlag gebracht wurde. Das war<br />
ein recht erfolgreicher Kniff, um den Forderungen<br />
nicht produktiver, aber empirisch schwer arbeitender<br />
Mehrheiten nach unbegrenztem Kredit zuvorzukommen,<br />
da Löhne <strong>für</strong> unproduktive Arbeit nichts<br />
als (vermummter) Kredit und Lohnerhöhungen<br />
nicht als erweiterter Kredit sind. Neokonservative<br />
Regierungen (und alle gegenwärtigen Regierungen<br />
der entwickelten Länder sind neokonservativ) sind<br />
nicht in der Lage, dies zu gewährleisten. Zeit, die<br />
mit fremder Tätigkeit verbracht wird, wie in der<br />
Verwaltung, im Staatssektor, ist keine Arbeitszeit<br />
irgendeiner „natürlicher“ Art, sie kann es sein und<br />
dann wieder nicht.<br />
6) Der Verfall sozialer und ökonomischer Macht<br />
des Staates bedeutet nicht den Verfall all seiner<br />
Mächte, also der Fähigkeit des Staates, gesetzlichen<br />
Zwang der einen oder anderen Art auszuüben. In<br />
diesem Fall ganz im Gegenteil. Der Staat findet sich<br />
in einer Lage, wo er entscheidet, gezwungen ist, zu<br />
entscheiden, wer staatliche Mittel zum Überleben<br />
erhält und wer nicht, was in der gegenwärtigen<br />
Gesellschaft bedeutet, dass er die Pflicht und das<br />
Vorrecht hat, über Leben und Tod zu entscheiden.<br />
7) Denn es ist ein Gebot der Stunde, dass gegenwärtige<br />
Staaten – in einer Situation, wo Produktion<br />
und Akkumulation sich schnell steigern und die<br />
Masse der Produzenten sich ebenso schnell verringert<br />
– die Kriterien finden, nach denen manche<br />
Gruppen zu staatlichen Mitteln (jenseits von<br />
Kapital und Arbeit) durch gesetzliche und gerichtliche<br />
Bescheide legitimerweise berechtigt sind und<br />
manche nicht.<br />
8) Die Legitimation zu gesellschaftlichem Leben<br />
und zu gesellschaftlichem Tod, die den Betroffenen<br />
zugeteilt wird, ist den Regierungen aufgezwungen.<br />
Ein typischer Fall ist die Subprime-Hypothekenkrise<br />
in den Vereinigten Staaten. Da die Finanzierung<br />
der nicht produktiven niedrigen Mittelschicht<br />
durch Lohnerhöhungen und direkte Unterstützun-<br />
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