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Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte

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<strong>grundrisse</strong> 45 x 2013<br />

42<br />

Heim im Spätkapitalismus stellt sich als Freiheit<br />

von der Bewegung dar. Heim, das heißt Familie<br />

und ihr gesellschaftlicher Schutz durch Gesetzgebung,<br />

verteidigt durch staatlichen Zwang, scheint<br />

standfest, ein Synonym <strong>für</strong> permanent. Freiheit von<br />

Wandel, begriffen als zwingende, aber willkürliche<br />

Wurzellosigkeit. Unnötig zu sagen, dass das eine<br />

Illusion ist, aber eine bemerkenswerte Illusion. Bemerkenswert<br />

vor allem wegen seiner jüngsten Transformation,<br />

wobei der gesellschaftliche Schutz (der<br />

Wohlfahrtsstaat und Egalitarismus der Verteilung)<br />

nunmehr schon eine furchterregende Bedrohung <strong>für</strong><br />

die Sicherheit von Heim bedeutet.<br />

Eine der wichtigsten Paradoxien des Zeitalters ist<br />

die gleichzeitige Verwandlung des Egalitarismus –<br />

vorgeblich eine Sichtweise im Interesse der Mehrheit<br />

– in eine elitäre Doktrin als einen Minderheitenstandpunkt.<br />

Politische Siege (bei Wahlen oder<br />

ideologisch) und Mehrheiten bei Meinungsumfragen,<br />

irriger- aber verständlicherweise als „populistisch“<br />

tituliert, wurden durch Widerstand gegen<br />

sogenannte Sozialgesetzgebung (hauptsächlich<br />

verschiedene Formen von Hilfe <strong>für</strong> Bedürftige) erreicht,<br />

einen Widerstand, der von jenen unterstützt<br />

wird, die von dem profitierten, das abzulehnen sie<br />

nun geneigt sind. Menschen, die sich vor der rücksichtslosen<br />

Energie des globalen Wettlaufs <strong>für</strong>chten,<br />

scheinen bereitwillig zur Demolierung ihres eigenen<br />

(sozialen und nationalen) Heims beizutragen.<br />

Es handelt sich um eine große, ideologische Transformation<br />

mit schwerwiegenden politischen und<br />

kulturellen Konsequenzen, die dringend genaue<br />

Analyse erfordert.<br />

Es ist nicht nur Klassenkampf von oben (obwohl es<br />

das auch ist, und zwar sehr), aber die Analyse muss<br />

auch die Transformation des strukturellen Hauptkonflikts<br />

der bürgerlichen Gesellschaft in Rechnung<br />

stellen – das Ergebnis einer mächtigen „passiven<br />

Revolution“ –, die ihn entschieden biopolitisch 2<br />

macht. Diese biopolitische Wendung ist teilweise<br />

definitiv rückschrittlich – sie rehabilitiert Herkunft<br />

und Stand als Grundlage der Bildung von Schichten,<br />

wogegen die bürgerliche Revolution gekämpft<br />

hat – und teilweise fortgeschritten, ultramodern,<br />

indem sie die Sistierung oder Aufhebung des<br />

Klassenkampfes vortäuscht und das Zentrum der<br />

fundamentalen Auseinandersetzung vom Eigentum<br />

zur Bedingung des Menschseins verschiebt. Zählen<br />

wir erst diese Veränderungen, wie sie in den doxa<br />

des Zeitalters erscheinen, auf und machen dann ein<br />

paar verstreute kritische Anmerkungen:<br />

1) Technologische Veränderungen – von der Automatisierung<br />

und Robotik über Digitalisierung und<br />

Nanotechnologie bis zu den Wundern der Biochemie<br />

– haben zum ersten Mal in der Geschichte<br />

die menschliche physische (körperliche) Anstrengung<br />

in der Produktion von Gütern unbedeutend<br />

gemacht. Das wurde von einem noch nie da gewesenen<br />

Wachstum von Produktivität und Arbeitsintensität<br />

begleitet, was die Mehrheit der globalen<br />

Arbeitskraft <strong>für</strong> immer überflüssig macht. Strukturelle<br />

Arbeitslosigkeit ist nicht länger ein Problem,<br />

wenn auch allgemein, verderblich und notwendig,<br />

sondern wesentliche Bedingung des Menschseins.<br />

Die Mehrheit der Menschheit wird nie wieder<br />

wertproduktiv sein.<br />

2) Arbeit – als das hauptsächliche Sozialisationsmodell<br />

im Kapitalismus – hört zu bestehen auf. Die<br />

Institutionen im Kapitalismus wurden eingerichtet,<br />

um die Mobilisierung des durchschnittlich begabten<br />

Menschen zur Teilnahme an entfremdeter Arbeit<br />

sicherzustellen, also an Tätigkeiten, die von den<br />

individuellen Absichten getrennt, aber das einzige<br />

Mittel zum Überleben <strong>für</strong> die Habenichtse sind.<br />

Mobilisierung und Zwang haben diesen Zweck<br />

unter legal und juristisch gleichen Bürgern bedient,<br />

wobei sie Nischen von Subsistenz, Handwerk,<br />

unabhängigen Höfen und so weiter zerstörten. In<br />

der klassischen bürgerlichen Gesellschaft haben die<br />

Leute ihr Leben in Institutionen verbracht: Schule,<br />

Armee, Kirche, Verein, Gewerkschaft, Massenpartei,<br />

Sportklubs, organisierte Freizeitaktivitäten, kommerzielle<br />

Popkultur, Boulevardpresse und Radio,<br />

Fangruppen, Nationen, Familien und so weiter.<br />

Kollektive Mitgliedschaft in staatlichen und zivilgesellschaftlichen<br />

Institutionen war vorrangig. Dieser<br />

institutionelle Charakter des fordistischen Kapitalismus<br />

wurde weggefegt, in Stücke geschlagen durch<br />

die schwindende Nachfrage nach Beschäftigten.<br />

3) Trotz dieser Veränderungen ist eine fundamentale<br />

Gegebenheit dieser Gesellschaften gleichgeblieben:<br />

Es gibt weiterhin nur zwei anerkannte Quellen<br />

<strong>für</strong> Einkünfte, nämlich Kapital und Arbeit. Beide<br />

werden immer marginaler, werden Minderheitsphänomene.<br />

4) Was immer auch durch gesteigerte Produktivität<br />

und Abbau der Beschäftigung, was zu einem

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