Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>grundrisse</strong> 45 x 2013<br />
20<br />
bisherigen Regierung setzt, als vielmehr den bestehende<br />
Staatsapparat durch eine Vielzahl territorialer<br />
revolutionärer Organe zu ersetzen, die sich nichtsdestotrotz<br />
auf gesamtstaatlicher Ebene zusammenschließen.<br />
Drei Formen lassen sich beobachten, was<br />
ebenfalls die Weitsichtigkeit Marxens unterstreicht,<br />
der im „Bürgerkrieg“ in dieser Frage Raum <strong>für</strong> unterschiedliche<br />
Interpretationen gelassen hat.<br />
1. Die Hierarchie der Staatsgewalt wurde durchschnitten,<br />
aber auf örtlicher Ebene blieb die alte<br />
Verwaltung in Grundzügen bestehen, wurde aber<br />
den lokalen Arbeitsorganen untergeordnet. In<br />
gewisser Hinsicht entsprechend der englischen und<br />
amerikanischen Lokalverwaltung, wie Marx und<br />
Engels sie sahen, wenngleich ohne darüber errichteter<br />
Staatsgewalt. Hier ist auch offenbar, dass die<br />
wesentlichen Staatsfunktionen bestehenbleiben und<br />
vorerst noch getrennt (entfremdet) sind gegenüber<br />
der Gesellschaft, wenngleich ihr nicht mehr übergeordnet.<br />
Darum erscheint es mir konsequent, hier<br />
noch von einem politischen System (Staat?) zu<br />
sprechen. Vorteil dieser Vorgehensweise der Revolution:<br />
die niedere Angestelltenschafft wird nicht vor<br />
die Tür gestellt, so dass sie ihr Wissen in den Dienst<br />
des Sozialismus stellen kann. Nachteil: die alten<br />
Vorurteile und Prozeduren in den Ämtern bleiben<br />
bestehen und werden sich grundlegenden Änderungen<br />
nur widerstrebend anpassen. Deutschland gibt<br />
ein sehr schönes Beispiel <strong>für</strong> diese Vorgehensweise,<br />
selbst nach den einschlägigen Erfahrungen 1919<br />
griffen die Zentralräte des aufständischen Ruhrgebiets<br />
1920 nur ausnahmsweise in die konkreten<br />
Verwaltungsabläufe ein.<br />
2. Die alten Gewalten verweigerten die Zusammenarbeit<br />
bzw. sabotierten und zwangen die Räte<br />
selbst in die konkrete Staatsverwaltung einzugreifen<br />
bzw. deren Aufgaben zu übernehmen und<br />
auszuführen, m. a. Worten, einen eigenen Verwaltungsapparat<br />
aufzubauen. Dies ist die Konsequenz<br />
von dem, was Marx schrieb, die Kommune sollte<br />
sowohl eine arbeitende als auch gesetzgebende Körperschaft<br />
sein. Spanien hat hier<strong>für</strong> einige Beispiele<br />
hervorgebracht.<br />
3. Die meisten Revolutionen haben eine Vielzahl<br />
von Mischformen hervorgebracht, worin die alte<br />
Kommunalverfassung teilweise erhalten blieb, den<br />
Räten zwar untergeordnet, diese sich aber nur<br />
teilweise unmittelbar an der kommunalen Arbeit<br />
beteiligten.<br />
Allen diesen Formen ist natürlich gemein, dass sie<br />
von der erstarkenden Konterrevolution baldigst<br />
zurückgedrängt und schließlich beseitigt, bzw. vollständig<br />
entmachtet wurden.<br />
Es will sich mir die Vorstellung aufdrängen, dass wir<br />
unter „Eroberung der politischen Macht“ die Macht<br />
des Proletariats in den Gebietskörperschaften<br />
verstehen sollten, die im deutschen Sprachraum mit<br />
Gemeinden gefasst sind, worauf dann ein nach unten<br />
hin unmittelbar verantwortliches politisches Gebäude<br />
errichtet wird. Das mag dann „sozialistischer<br />
Staat“ genannt werden oder auch nicht, das hierarchische<br />
Prinzip jedenfalls, dass eine Minderheit<br />
ihren Willen mittels eines Apparat der Mehr heit<br />
aufzwingen kann, ist hierin erledigt. Der Gesamtwille<br />
sollte durch die Konstitution von der Basis her<br />
kontrollierter Kongresse bestimmt werden. Hier<br />
finden die verschiedenen Rätemodelle ihren Platz,<br />
ob aus Deutschland oder in Zusammenhang mit der<br />
russischen Verfassung von 1918. Solche theoretischen<br />
Spekulationen haben ihre Berechtigung, weil<br />
die Geschichte bisher zu wenig Zeit hatte, Beispiele<br />
hervorzubringen, worin diese Organisation mit den<br />
demokratischen Prämissen in Kongruenz gebracht<br />
werden konnte. Aber sie sollten nicht als allein<br />
seligmachende Modelle missverstanden werden, die<br />
nur der Wirklichkeit aufgestülpt werden müssen.<br />
Alle historischen Rätekongresse und ihre ausführenden<br />
Organe weisen gravierende Mängel bezüglich<br />
ihrer demokratischen Legitimation auf. Doch wer<br />
wollte mit heutigen Maßstäben die Wahlen früherer<br />
Republiken messen?<br />
Dass Spanien keine Bestrebung zu einer nationalen<br />
Koordination der Selbstverwaltungsorgane hervorgebracht<br />
hat, ist kein Argument gegen meine<br />
Überlegung, denn <strong>für</strong> die einzelnen Regionen sind<br />
die entsprechenden Komitees und Tendenzen zur<br />
Zusammenfassung sehr wohl nachweisbar.<br />
Auch hier sollte der demokratische Prozess als<br />
Pro zess begriffen werden, nicht anders wie in der<br />
Genese des bürgerlichen Parlamentarismus. An<br />
seinen historischen Ursprüngen war die Wählerschaft<br />
auf eine geringe Anzahl Personen beschränkt,<br />
Personen, die befähigt waren, mindestens eine<br />
bestimmte Summe an Steuer zu entrichten. Bis zur<br />
Durchsetzung des allgemeinen Stimmrechts im<br />
20. Jahrhundert war die Souveränität des Volkes<br />
sozusagen die Souveränität des Reichtums und des<br />
Eigentums. Also mögen wir den proletarischen