Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
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<strong>grundrisse</strong> 45 x 2013<br />
44<br />
gen durch die Regierung kulturell unmöglich war,<br />
hat die US-Regierung durch staatliche Institutionen<br />
wie Fanny Mae und indirekt unterstützte Banken<br />
und Versicherungen <strong>für</strong> diese sozialen Gruppierungen<br />
Wohnraum durch Hypothekarkredite finanziert.<br />
Als das Kapital dazu nein sagte (die Verluste waren<br />
beträchtlich), wurde die Klassenherrschaft durch das<br />
Fälligstellen der Kredite und den Zusammenbruch<br />
der Kreditinstitute, die den Staatszielen diente,<br />
die Mittelschicht über Wasser zu halten, wieder<br />
bestätigt. Die Krise – ein Instrument kapitalistischer<br />
Disziplinierung – hat gezeigt, dass es vor den rigiden<br />
Entscheidungen, denen der Staat gegenübersteht,<br />
kein Entkommen gibt. Die Ent scheidungen sind<br />
bedrückend. Entweder würden sie den Kredit zerschlagen<br />
und Hunderte Millionen zu erbärmlicher<br />
Armut verurteilen und so den Konsum beschränken,<br />
was die Nachfrage reduzieren und die Produktion<br />
und Profite und Vermögen zerstören wird, oder sie<br />
würden den Kredit finanzieren durch Schaffung und<br />
Neuschaffung von fiktivem Kapital, was die Erhöhung<br />
von Steuern erforderlich macht mit Kapitalflucht<br />
und folgendem Zurückfahren der Produktion,<br />
also im Wesentlichem demselben Ergebnis.<br />
9) Die einzige Möglichkeit ist, die Anzahl der<br />
Leute, die von staatlich garantiertem Kredit abhängen,<br />
zu reduzieren und die Verbrauchernachfrage<br />
durch verschärfte Ungleichheit auf einem akzeptablen<br />
Niveau zu halten – indem produktive Löhne in<br />
den neu industrialisierten Ländern (wie China, Indien,<br />
Vietnam, etc.) extrem niedrig gehalten werden.<br />
10) Aber wie können die Regierungen entscheiden,<br />
welche Gruppen sozialer Rechte beraubt werden,<br />
das heißt nicht marktgebundener Mittel <strong>für</strong> nicht<br />
produktive Bevölkerung (der im öffentlichen Dienst,<br />
in den Dienstleistungsindustrien, die in keiner<br />
Weise Industrien sind, in den Pflegeberufen, in Erziehung,<br />
Forschung und Kunst und anderen, weiter<br />
unten beschrieben)?<br />
11) Die Antwort ist zweifach: moralisch und<br />
biopolitisch. In einer der größten Wenden in der<br />
westlichen (oder europäischen) Geschichte wurde<br />
eine gründliche Neuformulierung der politischen<br />
Legitimität vorgenommen, ohne dass die gewöhnlichen<br />
Beobachter und Auguren davon eine Ahnung<br />
hätten – wie üblich.<br />
12) Zuerst wurde der gute alte Unterschied zwischen<br />
Besitzenden und Besitzlosen ideologisch zum<br />
Verschwinden gebracht, wobei die mit legitimem<br />
Einkommen (Kapital und Arbeit) auf der einen<br />
und die ohne legitimes Einkommen auf der anderen<br />
Seite sich fanden. In Kontinentaleuropa wird<br />
von tätiger und untätiger Bevölkerung gesprochen.<br />
Die untätige Bevölkerung – Arbeitslose, Alte und<br />
Pensionisten, Studenten, Kranke, die, die sich um<br />
Kinder oder alte Verwandte kümmern (vornehmlich<br />
natürlich alleinerziehende Mütter), Marginalisierte,<br />
Unvermittelbare, körperlich oder geistig<br />
Behinderte, Obdachlose, fahrendes Volk, urbane<br />
Nomaden, manchmal unnütze Künstler, Forscher,<br />
Lehrer – wird, manchmal unter Einschluss des<br />
Prekariats, <strong>für</strong> wertlos, parasitär, unwürdig erklärt.<br />
Die Maßnahmen von Inklusion, positiver Diskriminierung,<br />
sozialer Unterstützung sind – vielleicht<br />
mit den Ausnahmen von ineffizienter Umschulung<br />
und lebenslangem Lernen – gründlich kompromittiert.<br />
Diese Teile der Bevölkerung werden bestraft,<br />
diskriminiert, verfolgt und drangsaliert, vorsätzlich<br />
dem Hunger ausgesetzt, ermuntert, bald zu sterben.<br />
In einer Gesellschaft, in der Arbeit als Sozialisationsmodell<br />
schon längst nicht mehr funktioniert,<br />
wird Arbeit als Kardinaltugend hochgepriesen, ohne<br />
Eudämonismus und Hedonismus (oder die demotische<br />
subbourgeoise Variante des Konsumismus)<br />
zu verleugnen. Frühere Versionen des Liberalismus<br />
anerkannten die Rolle von Glück, von zufälliger<br />
Verteilung von Verdiensten als Nebenprodukt von<br />
Freiheit, aber sie nahmen üblicherweise Abstand<br />
davon, Glück <strong>für</strong> eine Tugend zu halten – sonst<br />
hätten sie keinen Anlass gehabt, es zu verteidigen.<br />
Heutige Regierungen meinen, Unglück bestrafen<br />
zu müssen und sind bereit, in reinster Nietzscheanischer<br />
Manier zu erklären, dass die gesellschaftliche<br />
Stellung (mit jedweder Position innerhalb der<br />
gesellschaftlichen Arbeitsteilung) ein Ausdruck<br />
von innerer Energie und Verdienst ist. Aber wo<br />
Nietzsche Sklaverei vorschlug und pries, haben es<br />
zeitgenössische Regierungen mit Nichtarbeitern zu<br />
tun. Worum es geht, ist nicht die Repression untergeordneter,<br />
niedriger Arbeiter, sondern die Rechtfertigung<br />
des gesellschaftlichen und in der Folge<br />
biologischen Todes derer, die nicht arbeiten können,<br />
da ihre Arbeit von Maschinen vollbracht wird.<br />
13) Die Selektion – ich bin mir der nicht<br />
Darwin’schen Konnotationen des Begriffs wohl<br />
bewusst, da wir hier nicht von natürlicher Selektion<br />
sprechen – derer, die entsprechend ihrer körperlichen<br />
Merkmale und ihres instinktiven Verhaltens<br />
(Gesundheit, Alter, manchmal Geschlecht und