Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
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<strong>grundrisse</strong> 45 x 2013<br />
22<br />
Spanien und Portugal und mutatis mutandis in<br />
Ungarn 1956). Erst jetzt ist die Klasse der Arbeitenden<br />
gezwungen über die bisherigen Grenzen<br />
hinauszugehen und die Betriebe zu besetzen und in<br />
eigene Regie weiterzuführen. Aber auch dies gehört<br />
noch in das Arsenal des klassischen Klassenkampfes.<br />
Die Übernahme der Betriebe und die Fortführung<br />
der Produktion auf Rechnung der Belegschaften<br />
sind noch keine Schritte jenseits des Kapitalismus.<br />
Erst wenn diese „Sozialisierungen“ epidemisch<br />
werden, setzen sich die Grundlagen <strong>für</strong> die Etablierung<br />
neuer gesellschaftlicher Verhältnisse. Dieser<br />
Schritt, der ungemein schwierigste, impliziert die<br />
Konstituierung der Arbeiterschaft als Klasse. (Ginge<br />
eine solche Konstituierung der Revolution voraus,<br />
so wäre die Hälfte der Miete bereits eingebracht.)<br />
Es ist offenbar, dass diese Konstituierung nur die<br />
politische Einheit der Arbeitenden meinen kann,<br />
was verschiedene Arbeiterparteien nicht ausschließt,<br />
wohl aber ihren antagonistischen Kampf um die<br />
Führung und jegliches sektiererisches Vorgehen.<br />
Diese Tendenz, die Einheit der arbeitenden Klasse<br />
herzustellen – ich würde hier gerne in Anlehnung<br />
an E. P. Thompson von der Konstituierung der<br />
arbeitenden Klasse sprechen – lässt sich sowohl <strong>für</strong><br />
Russland (Herbst 1917), <strong>für</strong> Spanien, <strong>für</strong> Deutschland<br />
nur teilweise (Ruhrgebiet 1920) und ganz<br />
besonders <strong>für</strong> Ungarn 1956 darstellen.<br />
Doch welche Beziehung besteht zwischen diesem<br />
politischen Rätesystem und der ökonomischen Befreiung<br />
der Arbeiterinnenklasse? Mit der Revolution<br />
im Herbst 1956 hatte Ungarn praktisch bewiesen,<br />
dass die Eroberungen der Roten Armee keinen Sozialismus<br />
verwirklicht hatten. Als die Versammlung<br />
der Arbeiterinnen und Arbeiter Ende Oktober<br />
1956 quasi in Vertretung der gesamtungarischen<br />
Arbeiterschaft erklärte „die Fabriken gehören den<br />
Arbeitern“ machte sie offenbar, dass das verstaatlichte<br />
Eigentum kein Eigentum in den Händen des<br />
werktätigen Volkes ist und zeigte den Weg auf, den<br />
die sozialistische Umgestaltung zu gehen habe. Den<br />
Betriebsübernahmen während der russischen Revolution<br />
fehlte noch dieses bewusste und souveräne<br />
Auftreten. Nur selten erwägten die Belegschaften,<br />
sich das Betriebseigentum anzueignen, bestenfalls<br />
dann, wenn die Eigentümer ihre Betriebe vorsätzlich<br />
in den Konkurs trieben, was allerdings im Verlauf<br />
des verschärften Klassenkampfes geschah, wie<br />
im Frühsommer 1917 als viele Unternehmer damit<br />
die revolutionären Errungenschaften der Arbeiterschaft<br />
zu hintertreiben suchten. Dies zwang die<br />
Belegschaften unter der Leitung ihrer Komitees die<br />
Betriebe unter eigener Leitung weiterzuführen. Mit<br />
der Anspannung der Klassenauseinandersetzung<br />
im Herbst 1917 begannen diese Betriebsübernahmen<br />
epidemisch zu werden. Es liegt auf der Hand,<br />
dass mit diesem Augenblick, wenn ein Großteil der<br />
Produktion in die unmittelbare Gewalt der Produzenten<br />
fällt, eine neue Situation entsteht.<br />
Betriebsübernahmen lassen sich in allen Revolutionen<br />
beobachten, so in Portugal 1974/75,<br />
aber auch in Deutschland 1919, wenngleich weit<br />
entfernt vom Umfange in Russland oder Spanien<br />
1936. Bereits im Vorfeld waren sich die meisten<br />
Belegschaften und ihre Komitees bewusst, dass mit<br />
dieser kollektiven Aneignung die wirtschaftlichen<br />
Probleme nicht zu lösen sind, wenn es nicht gelänge,<br />
mit anderen Unternehmen, Zulieferindustrien,<br />
den Eisenbahnen usw. zusammenarbeiten. Hier<br />
aber zeigten sich die Widrigkeiten in Rußland als<br />
schier unüberwindlich, allen voran die restriktive<br />
Geldpolitik der jungen Zentralregierung. Ganz<br />
ähnlich verhielten sich die Regierungen in Spanien,<br />
bzw. Katalonien, trotz oder vielleicht weil sich die<br />
Anarchisten an der Regierung beteiligten. In der<br />
Frage, wie mit den Banken zu verfahren sei, liegt<br />
ein großes Problem, denn der Nationalkredit ist ein<br />
ungeheures Machtmittel. Wie kann er demokratisiert<br />
werden? Möglicherweise dachten die Komitees<br />
zu Anfang, dass die neue Zentralgewalt, die ja aus<br />
Personen, Parteien und Organisationen ihres Vertrauens<br />
bestand, die Geldmittel in ihrem Interesse<br />
verwalten würde und den Nationalkredit zu einem<br />
Hebel der Revolution zu machen. Anstelle dessen<br />
erfuhren sie rasch, wie die neuen Machthaber dieses<br />
Mittel gegen ihre Initiativen, die unmittelbaren<br />
Probleme anzugehen, verwendete. Dadurch waren<br />
die Betriebs räte gezwungen, auf die Ressourcen<br />
ihrer eigenen Betriebe zurückzugreifen, was ihnen<br />
den Vorwurf des Betriebsegoismus einbrachte.<br />
Manche nannten das „Arbeiterkapitalismus“ oder<br />
„Produzentenkapitalismus“, was theoretischer<br />
Unsinn ist. Hat Marx doch unmissverständlich<br />
klargemacht, dass die kapitalistische Produktion auf<br />
der Lohnarbeit ruhe und mit ihr schwinde. 4 Es ist<br />
einer Ökonomie, die auf genossenschaftlicher Arbeit<br />
ruht, vieles vorwerfen, nur Eines nicht, dass sie im<br />
Marxschen Sinne kapitalistisch ist. Die Identifizierung<br />
von Warenproduktion mit Kapitalismus, aus<br />
der die Notwendigkeit eines rigorosen politischen<br />
Zentralismus abgeleitet wird, die Ökonomie zu<br />
regeln – was etwas völlig anderes ist, als die Bedin-