17.11.2013 Aufrufe

Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte

Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte

Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>grundrisse</strong> 45 x 2013<br />

Vorläufige Thesen zu einem System der Angst<br />

G. M. Tamás<br />

40<br />

Kapital rennt rund um den Globus auf der Suche<br />

nach billigen Löhnen. Es rennt auch in die Gegenrichtung<br />

auf der Jagd nach konkurrierender<br />

Konsumentennachfrage. Es rennt Gelegenheiten<br />

<strong>für</strong> lukrative Investitionen nach. Es rennt zu Plätzen<br />

mit niedrigen Steuern. Es rennt, um stabile Regierungen<br />

oder Bürgerkriege zu finden, die nach Waffen<br />

und Waren verlangen. Außer es stolpert über nationale<br />

Grenzen, also Gesetze, rennt es mit solcher<br />

Geschwindigkeit, dass es ortsungebunden erscheint,<br />

unmöglich, lokalisiert zu werden. Es ist so schnell,<br />

dass es überall zu sein scheint, was es nicht ist. Gesetze,<br />

also nationale Grenzen, bringen nicht wirklich<br />

seine in alle Richtungen gehende, multidimensionale<br />

Bewegung zum Stillstand, seine Geschwindigkeit<br />

verschärft sich durch die fast völlige Leere des<br />

verdünnten Mediums, durch das es lautlos zischt.<br />

Arbeit versucht, um den Globus zu wandern auf der<br />

Suche nach höheren Löhnen und billigeren Preisen.<br />

Sie taumelt andauernd gegen nationale Grenzen,<br />

also Gesetze. Sie kann es sich nicht leisten, niedrige<br />

Steuern zu be<strong>für</strong>worten, da sie sich dessen bewusst<br />

ist, dass sie den Staat brauchen könnte, also das<br />

Arbeitslosengeld. Sie braucht den Staat, mit seinen<br />

Grenzen, also Gesetzen, genau den Staat und die<br />

Gesetze, die sie davon abhalten, mit einer entsprechenden<br />

Geschwindigkeit ein würdiger Rivale des<br />

Kapitals zu sein, da Kapital nicht nur ein Gegner<br />

und Konkurrent ist, sondern auch eine Quelle von<br />

Überfluss, die gesucht wird. Arbeit wird ihr Einkommen<br />

mit dem Staat teilen müssen, um das<br />

Kapital zu bremsen. So wird sie Geschwindigkeit<br />

mehr brauchen als eben zuvor. Aber Arbeit ist<br />

langsam, sehr langsam, aus eigener Schuld. Sie hat<br />

sich mit den Gesetzen, also Steuern verbunden.<br />

Kapital, in seiner Geschwindigkeit nun praktisch<br />

unbeschränkt, gleichbedeutend mit Unsichtbarkeit,<br />

Abstraktion und Eleganz (und bitte beachtet einfach<br />

nicht die Widersprüche in diesen Ausdrücken),<br />

wird jung, elegant und streng, in seinen formalen<br />

Prinzipien ähnlich der minimalistischen, schlanken,<br />

sogar magersüchtigen Architektur der besten Museen<br />

<strong>für</strong> Neue Kunst. Es ist revolutionär. Es ist klug.<br />

Es ist richtungslos. Man hört es nicht. Was man<br />

hört, ist das Klickklack der Highheels auf Fliesen,<br />

das modische Gewimmel seiner abstrakten, schlanken<br />

Bewunderer in Schwarz. Arbeit ist furchtbar<br />

langsam, sie ist rückständig. Ihre Intelligenz wird<br />

zurückgewiesen, da nur eine Art von Intelligenz gebraucht<br />

wird, die, die nicht gebremst wird. Vor allem<br />

nicht nur Gesetze, die nun ausgerichtet sind, den<br />

Verkehr zu fördern, also Geschwindigkeit. Arbeit ist<br />

fett, Arbeit ist Bermudashorts und Hawaiishirts, die<br />

Kleidung des späten Fordismus. Sehr bunt und laut.<br />

Sehr sichtbar. Sehr reaktionär, sehr rückschrittlich.<br />

Sesshaft und ängstlich. So ist auch der Staat. Noch<br />

immer gestützt auf physische Gewalt, daher auf körperlichen<br />

Kontakt, auf Nähe. Lärm. Gerüche. Um<br />

weiterzukommen, muss man jemanden zur Seite<br />

schieben, der einem auf die Zehen steigen könnte.<br />

Der Staat ist nun kein Etwas. Er ist ein Hindernis<br />

<strong>für</strong> etwas. Daher wird er mit Radaubrüdern ausgestattet.<br />

Wie neu aber das Medium, der Stil, die Dringlichkeit<br />

und die Ausstattung sein mögen, das Bedürfnis<br />

des Kapitals, Produktionskosten zu reduzieren und<br />

Profite zu maximieren, ist ewig.<br />

Die Geschwindigkeit der Jagd nach vorteilhaften<br />

Verwertungen des Werts beschreibt nicht nur etwas<br />

im Raum (also digital oder sonst wie geschrumpfte<br />

Zeit), sondern beschreibt es auch qualitativ durch<br />

gesteigerte Produktivität, was natürlich eine andere<br />

Schrumpfung von Zeit, in diesem Fall von Arbeitszeit<br />

ist. Der globale Wettlauf oder Wettbewerb,<br />

immer schon ein Wesensmerkmal von Kapitalismus,<br />

hat sich jetzt nur insofern verallgemeinert, als es<br />

keine nicht kapitalistischen Nischen mehr gibt, die<br />

den Wettlauf in eine einzige Richtung gelenkt hatten<br />

(Kolonialismus). Die Jagd des Kapitals und der<br />

langsamere Fluss der Arbeitskraft (auch sie durch<br />

Technologie beschleunigt) lässt Beobachtern alle<br />

Hindernisse, alle Halte als widerlich und schmerzhaft<br />

erscheinen.<br />

Menschen haben aber solche Halte als Heim<br />

angesehen – zumindest bis jetzt. Das Heim ist, wo<br />

keine Eile ist. Daheim ist, wo äußerlicher Zwang<br />

verlangsamt oder zum Halten gebracht wird. Wo<br />

Wert im Marxschen Sinn draußen bleibt. Das

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!