Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
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Die Eroberung der <strong>Demokratie</strong><br />
Der spanische Anarchismus bevorzugte in Bezug<br />
auf die Agrarverhältnisse den Ausdruck „Kollektiv“,<br />
der auch synonym <strong>für</strong> Sozialisierung verwendet<br />
wurde, wenngleich hier wichtige Differenzierungen<br />
Platz griffen. In Russland finden wir die russischen<br />
Kollektive, die Bauernräte mehr in der politischen<br />
Agitation als in der Wirklichkeit, denn die revolutionäre<br />
Bauernbewegung – die übrigens entscheidend<br />
<strong>für</strong> die Machtübernahme der Bolschewiki im<br />
Oktober 1917 war – benötigte keine neuen Organe.<br />
Sie konnte auf ihre eigene Traditionen zurückgreifen<br />
– darunter die Versammlungen der russischen<br />
Landgemeinde. Und in Deutschland? Hier erwiesen<br />
sich die Bauernräte, soweit sie überhaupt das Licht<br />
erblickten, was vor allem den süddeutschen Raum<br />
betrifft, als streng konservativ. Allein der revolutionär<br />
undemokratischen Politik des Ministerpräsidenten<br />
Eisners und seines „Bauernführers“ Gandorfer,<br />
welcher die Bauernvertreter ernannte, war<br />
es zu danken, dass der bayerische Zentralbauernrat<br />
eine <strong>linke</strong> (USP) Politik mittrug. Gerade was den<br />
Vergleich der Bauernbewegungen betrifft, erscheint<br />
es schwierig, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Diese<br />
finden sich allein in den jeweiligen Traditionszusammenhängen,<br />
wo es im Hintergrund noch die<br />
eine oder andere Form kommunistischen Eigentums<br />
gab, was wir im zaristischen Russland ebenso finden,<br />
wie im vorrevolutionären Spanien oder in Mexiko<br />
(1910-1920), nicht aber mehr in Deutschland nach<br />
dem 1. Weltkrieg.<br />
Vergleichen wir die nationalen Rätebewegungen<br />
miteinander so fällt zuerst auf, dass in Deutschland<br />
wie in Russland relativ früh der Wunsch nach einer<br />
nationalen Repräsentation entsteht und sich nationale<br />
Rätekongresse konstituieren (zwei in Deutschland,<br />
fünf in Russland bis zum Juli 1918, vier in<br />
Österreich). Selbst in Ungarn 56 wird versucht,<br />
einen solchen unter der Aufsicht der russischen<br />
Panzer zu organisieren. Hieran wird das Bestreben<br />
der arbeitenden Klasse deutlich, sich als Einheit<br />
zu bestimmen, wobei es irrelevant ist, ob einige<br />
Organisatoren, diese Veranstaltungen hintertreiben<br />
oder missbrauchen wollen. Dass sie zustande kommen<br />
können, zeugt von diesem Bestreben. Bemerkenswert<br />
ist, dass dergleichen auf der iberischen<br />
Halbinsel fehlt. Zur Konstitution eines nationalen<br />
Kongresses der Komitees ist es im republikanischen<br />
Spanien nicht gekommen. Ebensowenig in Portugal.<br />
Wenngleich wir in vielen Betrieben Räte finden,<br />
kommt es nicht zu einer nationalen Verständigung.<br />
Wir dürfen aber nicht übersehen, dass in Portugal<br />
der Staatsapparat zu keiner Zeit vollständig von<br />
der Bildfläche verschwand, es daher auch nicht zur<br />
Ausbildung einer klassischen politischen Rätebewegung<br />
kam.<br />
Aber in einer anderen Hinsicht gleicht Portugal den<br />
revolutionären Bewegungen nach dem 1. Weltkrieg.<br />
Im April 1974 putschen die linksgerichteten Offiziere<br />
gegen die Diktatur Salazars und bereiten eine<br />
allgemeine politische Öffnung vor. Im Frühsommer<br />
1974 bereits nahm eine breite soziale Bewegung<br />
ihren Anfang, in deren Verlauf viele Unternehmer<br />
mittlerer und kleiner Firmen ihre Betriebe aufgeben,<br />
so dass sich die Belegschaften, nicht unähnlich<br />
gegenüber Russland des Sommers und Herbst 1917,<br />
gezwungen sehen, die Betriebe in eigener Regie<br />
weiterzuführen. Vielfach wurde hier den Belegschaften<br />
fälschlicherweise ein sozialistisches Ziel<br />
unterstellt, während sie in Wirklichkeit allein darum<br />
besorgt waren, ihre Arbeitsplätze zu erhalten, da<br />
es ja kein soziales System gab, welches die Betroffenen<br />
hätte auffangen können. Das mutige Vertreten<br />
der eigenen Lebensinteressen ist darum aber nicht<br />
minder revolutionär. Interessant finde ich in diesem<br />
Zusammenhang den Sachverhalt, dass der sozialen<br />
Bewegung, welche sogar in eine Revolution münden<br />
kann, eine politische Revolution vorausgeht. Zuerst<br />
der Putsch, dann die Kämpfe der Arbeiterinnen und<br />
Arbeiter in Portugal; Rücktritt des Zaren, dann die<br />
Arbeitskämpfe um 8-Std-Tag, Anerkennung der<br />
Komitees usw. in Russland; Rücktritt des Kaisers,<br />
dann die Kämpfe um Lohnerhöhung, 8-Std.-Tag,<br />
etc. in Deutschland. Auch in Spanien finden sich<br />
die Niederwerfung des Aufstands und die Konstitution<br />
der Milizen und Komitees vor Entstehung<br />
und Ausbreitung der Kollektivierungsbewegung.<br />
Bereits hier wird die Fehlerhaftigkeit anarchistischer<br />
Theorien offenbar, welche politische Enthaltsamkeit<br />
predigen, außer manoderfrau wolle behaupten, der<br />
bewaffnete Kampf, seine Organisierung sowie die<br />
Beseitigung von Polizei- und Militärapparat habe<br />
nichts mit Politik zu tun.<br />
Überhaupt entsteht hier eine Reihe theoretischer<br />
Fragen bezüglich der sogenannten Eroberung der<br />
politischen Macht: Hat das Proletariat sich an die<br />
Spitze des Staatsapparates zu stellen, um dann diesen<br />
zu zerschlagen, oder zerschlägt es diesen, indem<br />
es seine eigene Regierungsmaschine (Rätesystem)<br />
etabliert? Die „Eroberung der politischen Macht“<br />
scheint auf letzteres hinzuzielen, weniger auf eine<br />
revolutionäre Führung, die sich an die Stelle der<br />
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