Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Verklärt & Vergessen: Die Räte und ihre Macht<br />
Verklärt & Vergessen: Die Räte und ihre Macht<br />
Ewgeniy Kasakow<br />
Die <strong>linke</strong>n Auseinandersetzungen mit der <strong>Demokratie</strong>,<br />
sind meist geprägt von Vorstellungen, es muss<br />
ja eine „echte“, „wirkliche“ <strong>Demokratie</strong> geben. Bei<br />
der Suche danach kommt die Rede immer wieder<br />
auf die Idee einer „Arbeiterdemokratie“ – und damit<br />
auf die historische Erfahrung der Räte. Seit im<br />
Frühling 1905 die streikenden russischen Arbeiter-<br />
Innen zum ersten Mal die sog. „Sowety“ (Räte) zum<br />
Zweck der Streikkoordination bildeten, ranken sich<br />
bei der Linken zahlreiche Mythen um die Geschichte<br />
und das Potential dieser Institutionen. Im<br />
Folgenden sei nur zu den am häufigsten auftauchenden<br />
Themen der <strong>linke</strong>n Diskussionen über die Räte<br />
kurz etwas gesagt.<br />
Räte als Regierungsform?<br />
Die Räte der Ersten russischen Revolution (1905-<br />
1907) waren zunächst einmal Streikkomitees, aber<br />
im Verlauf der Streiks haben sie die Verwaltung<br />
der (oft riesigen) Streikgebiete übernommen. Dass<br />
Räte ein Modell zum Regieren nach der Revolution<br />
werden sollten, wurde erst später von TheoretikerInnen<br />
wie Trotzki und Luxemburg postuliert. Von den<br />
damaligen russischen Linken haben zuerst Menschewiki<br />
(gemäßigte SozialdemokratInnen) und<br />
Teile der SozialrevolutionärInnen (sog. MaximalistInnen)<br />
die Idee der/einer „Rätemacht“ übernommen,<br />
Lenin und die Bolschewiken schlossen sich<br />
dem erst später an. Lenin schrieb jedoch kurz vor<br />
Oktober 1917 sein Werk „Staat und Revolution“, in<br />
dem er die Rolle der Räte als Organe der Staatsmacht<br />
nach der Revolution beschreibt. Auch wenn<br />
Lenin später einige Aussagen aus diesem Buch<br />
revidierte – es blieb eine wichtige Quelle der <strong>linke</strong>n<br />
Kritik an der real existierenden Sowjetmacht unter<br />
der Kontrolle der bolschewistischen Partei.<br />
Authentische Proletarier versus Parteiintellektuelle?<br />
Gerade die von RätekommunistInnen gepflegte<br />
Gegenüberstellung von Räten und Parteien lässt<br />
sich bei den russischen Räten so nicht finden. Räteorgane<br />
wurden zwar von streikenden ArbeiterInnen<br />
gewählt, aber sehr schnell wurden VertreterInnen<br />
von sozialistischen Parteien in Exekutivkomitees<br />
kooptiert. Um zu wählen, musste man zwar „Werktätiger“<br />
sein, aber gewählt werden durfte jeder, dem<br />
die Wählerschaft das Vertrauen ausgesprochen hatte.<br />
Zwar war ein gewählter Bolschewik oder Sozialrevolutionär<br />
offiziell Delegierter des Betriebes, wo er<br />
gewählt wurde, aber selbstverständlich waren seine<br />
Handlungen auch mit den Organen seiner Partei<br />
abgestimmt. Das Exekutivkomitee etwa des Petrograder<br />
Rates nach der Februarrevolution, faktisch<br />
des wichtigsten Räteorgans des Landes, bestand vor<br />
allem aus PolitikerInnen diverser <strong>linke</strong>r Parteien,<br />
von denen die wenigsten proletarischen Hintergrund<br />
hatten.<br />
Räte – Gegenentwurf zum Parlamentarismus?<br />
Die Gegenüberstellung von Räten und Parlamenten<br />
lässt sich vor allem in den Schriften von bolschewistischen,<br />
rätekommunistischen, aber auch konservativen<br />
Autoren finden. Weder in Russland 1917,<br />
noch in Deutschland nach dem November 1918<br />
waren Räte per se gegen Parlamentarismus. Die sog.<br />
Doppelherrschaft der Räte und der Provisorischen<br />
Regierung zwischen Februar und Oktober/November<br />
1917 in Russland war in Wirklichkeit vor<br />
allem ein Petrograder Phänomen. In der Provinz<br />
arbeiteten Räte und Organe der provisorischen<br />
Regierung oft zusammen. Die Forderung nach<br />
der Wahl (wohl bemerkt nach dem allgemeinen<br />
Wahlrecht – also ohne Ausschluss der „besitzenden<br />
Klassen“) der Konstituierenden Versammlung<br />
(eines „Vorparlaments“, welches über die zukünftige<br />
Staatsform entscheiden sollte) wurde von den Räten<br />
und zwischendurch auch von den Bolschewiki<br />
unterstützt. An die Macht gekommen betonten<br />
die Bolschewiki aber den Gegensatz von Räten<br />
und Parlamentarismus. Wer nach „allgemeinen<br />
Wahlen“ oder Konstituierender Versammlung (die<br />
zwar gewählt, aber 1918 gleich nach dem ersten Tag<br />
wieder aufgelöst wurde) verlangte, wurde ungeachtet<br />
der sozialistischen Partei- oder der proletarischen<br />
Klassenangehörigkeit als „Feind der Sowjetmacht“<br />
aus den Räten ausgeschlossen. In Deutschland<br />
konnte sich die radikale Fraktion in den Räten nicht<br />
durchsetzen – die Mehrheit stimmte <strong>für</strong> die Wahl<br />
zur Nationalversammlung und lehnte die Räte als<br />
25