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Demokratie - grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte

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<strong>grundrisse</strong> 45 x 2013<br />

26<br />

Grundlage der neuen Staatsform ab. Es waren vielfach<br />

Vorstellungen vertreten, die Räte als Ergänzung<br />

und nicht als Negation des Parlamentarismus sahen.<br />

Räte = direkte <strong>Demokratie</strong>?<br />

Wenn die liberale Philosophin Hannah Arendt<br />

bei aller Verurteilung des Kommunismus die<br />

Räte lobte, hatte sie vor allem die Parallelen zur<br />

griechischen Polis und frühamerikanischen Vorstellungen<br />

von „Urrepubliken“ vor Augen. Das bedeutet<br />

die Idee von der <strong>Demokratie</strong> der „kleinen Räume“,<br />

wo die Entscheidungen auf überschaubaren<br />

Vollversamm lungen getroffen werden. Auch heute<br />

sind solche Vorstellungen von Rätepraxis verbreitet.<br />

1<br />

Mal davon abgesehen, dass es eine fragwürdige<br />

Vorstellung ist, dass sich Entscheidungen nur mit<br />

einer begrenzten Zahl von Menschen treffen lassen,<br />

hat es mit den historischen Räten herzlich wenig<br />

zu tun. Die Räte in Russland wurden mehrstufig<br />

gewählt, auch die obersten Gremien und Organe<br />

wurden nicht direkt gewählt. Das Allrussische<br />

Zentrale Exekutivkomitee wurde vom Allrussischen<br />

Rätekongress gewählt – nicht viel anderes, als wenn<br />

die Regierung vom Parlament gewählt wird, aber<br />

mit Unterschied, dass das „Bundesparlament“ nicht<br />

von WählerInnen, sondern von den Abgeordneten<br />

der „Landesparlamente“ gewählt wird. Zwar waren<br />

die obersten Organe nach unten rechenschaftspflichtig,<br />

aber deren Beschlüsse waren bindend <strong>für</strong> alle<br />

unteren Organe. Außerdem waren russlandweite<br />

Strukturen der Arbeiter- und Soldatenräte von<br />

denen der Bauernräte getrennt. Der 2. Allrussische<br />

Rätekongress 1917, welcher die Oktoberrevolution<br />

quasi legitimierte, vertrat nicht die BäuerInnen,<br />

die aber die Bevölkerungsmehrheit bildeten. Der<br />

Allrussische Kongress der Bauern delegierten verlief<br />

getrennt – und spaltete sich rasch in Anhänger-<br />

Innen und GegnerInnen der neuen Machthaber,<br />

wobei die Bolschewiki den <strong>linke</strong>n Flügel als einzig<br />

legitimen ansahen.<br />

Räte als genuin proletarische Organisationsform?<br />

Da viele Bevölkerungsgruppen von Arbeiter-, Bauern-<br />

und Soldatenräten nicht repräsentiert wurden,<br />

kam es in Russland zu ad-hoc-Gründungen von<br />

Angestelltenräten, Studentenräten, Offiziersräten.<br />

Manchmal wurden Soldaten- und Offiziersräte<br />

gegründet, welche von den rein soldatischen Räten<br />

nicht als legitim angesehen wurden. Es gibt auch<br />

Berichte über Versuche, „Räte der Adelsdelegierten“<br />

oder „Rat der Pastorendelegierten“ (im Baltikum)<br />

zu gründen. In Deutschland gab es auch zahlreiche<br />

„Bürgerräte“. Der Status solcher nichtproletarischer<br />

Rätegebilde blieb völlig ungeklärt, da sie von den<br />

Arbeiterräten meist nicht anerkannt wurden.<br />

Räte links der Bolschewiki?<br />

Bereits in Frühling 1918 verloren die Bolschewiki<br />

massiv an Sympathien unter den BäuerInnen. Die<br />

Räte auf dem Land waren oft von wohlhabenden<br />

BäuerInnen dominiert. Die Interessen der Bauern,<br />

als Privateigentümer ihren neuerhaltenen Boden zu<br />

nutzen, kollidierten mit den Beschlüssen der obersten<br />

Räteorgane über Lebensmittelrequirierungen.<br />

Die Bolschewiki regierten zwar im Namen der Räte<br />

und über die obersten Räteorgane, aber auf dem<br />

Land versuchten sie den Widerstand der Räte durch<br />

die Schaffung neuer Organe, wie z.B. „Komitees der<br />

landlosen Bauern“, zu brechen. In Frontgebieten<br />

konnten „Revolutionäre Komitees“ Entscheidungen<br />

der lokalen Räte aufheben. Das Kalkül, wenn in<br />

einem Gremium nur Arbeiter und Bauern sitzen,<br />

werden die Beschlüsse schon <strong>für</strong> den Sozialismus<br />

ausfallen, scheiterte deutlich. Vielfach kamen aus<br />

den Räten Forderungen nach der Konstituierenden<br />

Versammlung, Freihandel mit Brot, Einstellung<br />

der antireligiösen Aktivitäten, nicht selten waren<br />

nationalistische und antisemitische Forderungen.<br />

Ohne Zweifel haben die Bolschewiki im Laufe des<br />

Bürgerkrieges die Räte der Partei untergeordnet,<br />

aber es gibt keinen Grund anzunehmen, Räte hätten<br />

per se <strong>für</strong> ein wie auch immer geartetes <strong>linke</strong>res<br />

Sozialismusmodell gestanden. „Für Räte ohne Kommunisten“<br />

bzw. „Räte ohne Parteien“ waren Slogans,<br />

auf die sich sehr unterschiedliche politische Kräfte<br />

beziehen konnten.<br />

Räte genuin links?<br />

Auch außerhalb von Russland waren Räte<br />

keineswegs nur von <strong>linke</strong>n Kräften die favorisierte<br />

Regierungsform. Der Chef der norwegischen Faschisten<br />

Vidkun Quisling war seit seiner Reise nach<br />

Sowjetrussland ebenfalls Anhänger von „Räten ohne<br />

Kommunisten“, während die exilrussische Jugendbewegung<br />

der „Maldorossy“ <strong>für</strong> eine Verbindung von<br />

Räten und Monarchie plädierte. Gründe <strong>für</strong> eine<br />

solche Begeisterung <strong>für</strong> die Räte waren vor allem<br />

Ablehnung von Parlamentarismus und Parteien als<br />

Faktoren, die die Nation spalten.

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