Canetti, Elias - nachschlage.net
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Kafka einen Schriftsteller gefunden, der den Gegensatz zwischen dem Alltagsleben,<br />
wie Felice es sich als Geborgenheit in einer bürgerlichen Familie wünscht, und dem<br />
eigenen „inneren Leben“, dem er in seiner Dichtung zum Ausdruck verhelfen will, in<br />
extremer Weise durchlitten hat. So vermag er in diesen Dokumenten eines Dichterlebens<br />
dieselbe Konstellation aufzudecken, die er in der „Blendung“ als Abwehrkampf<br />
des Geistesmenschen Kien gegen die Ansprüche, die das Leben in Gestalt von dessen<br />
Haushälterin an ihn stellt, fiktional gestaltet hatte.<br />
Nach <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>s Interpretation versucht Kafka, Felice als distanzierende Macht gegen<br />
die eigene Familie zu benutzen, die ihm als die ursprünglichere Gefährdung seines<br />
Schreibens erscheint. Durch seine hektischen Liebesbriefe an die Frau, der er zuvor<br />
nur einmal kurz begeg<strong>net</strong> war, erschreibt er sich zwar die Freiheit, die ihm die ersten<br />
auch von ihm selbst anerkannten literarischen Texte, die Erzählungen „Das Urteil“<br />
und „Die Verwandlung“, zu schreiben ermöglicht. Doch bald fordert die zunächst nur<br />
als Fiktion bestehende und von ihm provozierte Liebe ihr Recht. Das Leben beginnt<br />
den Schreibenden einzuholen, indem Felice Bauer Kafka ihren Plänen, die sich auf<br />
Verlobung und Eheschließung richten, gefügig zu machen sucht. Die Ausflüchte, Lügen<br />
und Niederträchtigkeiten, die Kafka anwendet, um seinen kreativen Freiraum<br />
wiederzugewinnen, werden von <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> als der Versuch interpretiert, sich dem Druck<br />
der gesellschaftlichen Institutionen zu entziehen und das reine Ich aus sich herauszustellen,<br />
das der utopische Inhalt aller seiner Texte ist.<br />
Die Mittel, die Kafka hierzu benutzt, das Schreiben von Briefen, seine von ihm selbst<br />
so bezeich<strong>net</strong>e „Verstocktheit“ im Umgang mit anderen Menschen, schließlich auch<br />
seine Flucht in die Krankheit, sind jedoch ebenfalls Machtmittel, mit denen er seine<br />
soziale Umgebung tyrannisiert. Damit wird die idealisierte Rollenbeschreibung aus<br />
„Masse und Macht“ vom konkreten historischen Fall relativiert. Denn der Schriftsteller,<br />
der durch sein Werk als der positive Gegenspieler des mörderischen Machthabers<br />
erscheint, unterscheidet sich in seinem Leben nicht grundsätzlich von diesem. Mehr<br />
noch, er degradiert das Schreiben selbst zu einem Machtmittel gegenüber der ihn liebenden<br />
Frau. Dieses Paradox wird von <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> jedoch ebensowenig thematisiert wie<br />
die Lösung, die Kafka selbst für es gefunden hat. Zwar konstatiert <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>, daß der<br />
Dichter in den letzten Briefen an Felice sich „hinter den Tod“ zurückziehe. Doch für<br />
ihn ist das nur eine weitere Finte. Ganz anders für Kafka. Dessen radikale Antwort,<br />
die dem Schreiben nur dann einen Wert beimißt, wenn es sich als Vorwegnahme des<br />
Todes versteht, wird von <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> verschwiegen, weil für ihn – schon „Die Blendung“<br />
hatte das gezeigt – die Arbeit des Schriftstellers nur als Anverwandlung des Lebens<br />
einen Sinn haben kann.<br />
So ist sein ganzes Werk der Aufgabe gewidmet, dem Tod die Masken abzureißen.<br />
Die „Aufzeichnungen“, die zunächst als Schreibübungen neben der über Jahrzehnte<br />
hin zäh festgehaltenen, disziplinierten Arbeit am Hauptwerk entstanden, sprechen immer<br />
wieder von dieser für ihn „wichtigsten“ Frage. In ihnen wird der „unerschütterliche<br />
Haß gegen den Tod“ geradezu zum Stachel seiner nie erlahmenden Neugier und<br />
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