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Canetti, Elias - nachschlage.net

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läßt sich nur unschwer jener „junge Puritaner“ ausmachen, der von den „extremen<br />

und besessenen Menschen“ und ihrer offen zur Schau gestellten Sexualität im Berlin<br />

der späten zwanziger Jahre schockiert war, und jener „grüne, etwas überspannte junge<br />

Mensch“, den der Zyniker Brecht nach <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>s späteren Erinnerungen zu verhöhnen<br />

und zu reizen pflegte. Diesem wirklichkeitsfremden Selbst, das durch den moralischen<br />

und literarischen Rigorismus der Karl Krausschen „Schule“ in seinen idealistischen<br />

Tendenzen noch bestärkt worden war, spricht <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> auf Grund seiner Berliner<br />

Erfahrungen in der Gestalt des Kien das Urteil. Aber er tut dies mit Krausschen Mitteln.<br />

Die peinliche Genauigkeit, die legalistische Buchstabentreue und der ingrimmige<br />

Haß, mit dem er seinen Helden und damit sein eigenes Bild verfolgt, sind von alttestamentarischer<br />

Unerbittlichkeit und enden mit der Todesstrafe. Schreiben ist damit<br />

für den jungen <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> zur aktiven Auseinandersetzung mit sich selbst, zur bewußten<br />

Abtötung einer alten und zur formenden Ermöglichung einer neuen Existenz geworden.<br />

Deshalb seine Qual: „Hundertmal mehr als dem Leser tut der Schreiber sich selber<br />

an.“ Deshalb aber auch die unbestimmte Hoffnung am Ende. Die Selbstverbrennung<br />

Kiens, sein Autodafé, eröff<strong>net</strong> die Perspektive auf ein reineres Weiterleben des<br />

Autors <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>.<br />

So produktiv für diesen der Prozeß gegen sich selbst gewesen sein mag, so unproduktiv<br />

bliebe er für den Leser, über dessen Einbildungskraft die tödliche Satire ihre unbeschränkte<br />

Macht ausübt, wenn die Gestalt des Kien auf ein individuelles Porträt reduziert<br />

bliebe. Dann wäre <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> in derselben Weise „ein verhinderter Machthaber“,<br />

dessen literarisch sublimierter Sadismus dem Leser keinen produktiven Freiraum<br />

böte, wie er ihn in den „Aufzeichnungen“ in dem Satiriker Swift erkennt. Aber ähnlich<br />

den Nebenfiguren gewinnt auch der Held durch seine Steigerung zum „extremen<br />

Charakter“ Allgemeingültigkeit. Er wird zum Vertreter der reinen Vernunft. Als solcher<br />

ist er der „Hetzmasse“ aus Alltagsmenschen ausgesetzt, die in der Haushälterin<br />

und dem Hausbesorger ihre gefährlichsten Exponenten haben. Ihnen verfällt der weltlose<br />

Intellektuelle trotz seines überlegenen Verstandes ganz und gar und wird schließlich<br />

in den Wahn getrieben. Deutlicher könnte das Umschlagen der Aufklärung in<br />

Mythos nicht vorgeführt werden. Aber der Roman stellt diesen Vorgang nicht nur<br />

dar, er deckt zugleich seine Gründe in der gesellschaftlichen Isolation der Intelligenz<br />

auf, die als Zeichen einsteht für das Auseinanderfallen der deutschen Gesellschaft in<br />

kommunikationslos nebeneinanderstehende und in ihren Interessen sich bekämpfende<br />

Individuen und Gruppen. In diesem Sinne kann <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>s Werk auch als Beitrag zu der<br />

von Benjamin, Brecht und anderen ‚linken‘ Schriftstellern geführten Diskussion über<br />

die mögliche Funktion des Intellektuellen in der krisenhaften Gesellschaft des heraufziehenden<br />

Faschismus gelesen werden. Seine Antwort erweist ihren Realismus und<br />

ihre Originalität gerade durch die illusionslose Negativität, mit der er die vollkommene<br />

Ohnmacht der eigenen sozialen Schicht betont.<br />

Diese Kritik an der irrational gewordenen Gesellschaft findet Schlagkraft und Fundierung<br />

in der Sprachkritik, die als geheimes Thema den ganzen Roman durchzieht.<br />

Der Ausfall jeglicher sprachlichen Kommunikation zwischen den Protagonisten, ihr<br />

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