Canetti, Elias - nachschlage.net
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zum unermüdlichen Antrieb seiner schöpferischen Phantasie. Die spielerischen Existenzentwürfe,<br />
die Projekte von Gegengesellschaften, aber auch die Überlegungen zu<br />
Themen der Zeit, die er in diesen Aphorismen skizziert, gehen immer darauf aus, den<br />
Tod als Skandal darzustellen und die Gewöhnung an ihn nicht zuzulassen. Ein dergestalt<br />
motiviertes Gedankenexperiment führt auch das nach dem Krieg geschriebene<br />
und 1964 zuerst publizierte dritte Drama <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>s „Die Befristeten“ aus. Es zeigt eine<br />
Gesellschaft, in der alle Menschen das Datum ihres Todes kennen und dadurch zu einer<br />
ganz anderen Entschiedenheit angehalten werden als in der Alltagswelt.<br />
Für sich selber hat <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> die Haltung, aus der dieses Schreiben entspringt, so definiert,<br />
daß „er jede Einzelheit jedes Tages so empfindet als wäre es sein einziger Tag“.<br />
Diese individualistische Moral will er tradieren, aber nicht, indem er sie predigt, sondern<br />
indem er ihre befreiende Wirkung an dem exemplarischen Einzelfall vorführt,<br />
der er selber ist. Nirgendwo gelingt ihm das besser als in den Aphorismen der „Aufzeichnungen“,<br />
die für den Leser erfahrbar machen, was er selbst von seinem Vorläufer<br />
und Geistesverwandten Lichtenberg sagt: „Seine Neugier ist durch nichts gebunden,<br />
sie springt von überall her, auf alles zu. Seine Helligkeit: auch das Dunkelste<br />
wird hell, indem er es denkt. Er wirft Licht, er will treffen, aber nicht töten, kein mörderischer<br />
Geist.“ So zeigt sich gerade in den freiesten Spielen die Verantwortlichkeit<br />
des Schriftstellers <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> am eindringlichsten. Erheitert und betroffen nimmt der Leser<br />
an dem tragischen, weil vergeblichen, aber dennoch mehr als gerechtfertigten<br />
Kampf dieses Don Quixote gegen die Windmühlen des Todes teil.<br />
Auch in den drei Bänden seiner Autobiographie, „Die gerettete Zunge“ (1977), „Die<br />
Fackel im Ohr“ (1980) und „Das Augenspiel“ (1985), ist der Tod der geheime Gegenspieler<br />
des Autors. In ihnen beschreibt er, wie aus dem phantasievollen Kind, das<br />
sich und seine Umwelt durch das Erzählen von Geschichten vor Krankheit und Tod<br />
zu bewahren sucht, der verantwortliche Schriftsteller wird, der die selbstgesetzte Aufgabe<br />
der Rettung seiner Welt in den Text unternimmt. Was so als individuelle Lebensgeschichte<br />
den Inhalt des Werkes ausmacht, bestimmt zugleich dessen literarische<br />
Struktur. Es konstituiert sich als Aneinanderreihung von scharf umrissenen Porträts<br />
von Menschen, denen der Autor in seinem Leben begeg<strong>net</strong> ist. Bewundernswert<br />
sein Gedächtnis, das die charakteristischen Eigenheiten auch der unbedeutendsten<br />
Nebenfiguren aufbewahrt, die als Schüler oder Lehrer, als Mitbewohner oder Zufallsbekanntschaften,<br />
als Unbekannte oder Berühmtheiten seinen Weg gekreuzt haben.<br />
Mit epischem Gleichmut läßt er ihnen allen Gerechtigkeit widerfahren. Dabei werden<br />
die einzelnen Gestalten in ihrer Individualität bis zur Karikatur hervorgetrieben. Zugleich<br />
aber erscheinen sie dem einen, den Text organisierenden Individuum so angemessen,<br />
daß man sie für die Ausgeburten seiner Phantasie halten könnte. An diesem<br />
Paradox wird deutlich, was dialektisches Erinnern heißt und was autobiographisches<br />
Schreiben, das sich seiner bedient, vermag: Der Autor formt, indem er die ihm begegnenden<br />
Dinge, Tiere und Menschen nach seinem eigenen Bild verwandelt, sich selbst<br />
und findet so seine eigene Identität.<br />
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