Canetti, Elias - nachschlage.net
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licht: die vollkommene Verwandlung des Lebens ins Wort. Bei diesem „unendlichen<br />
Gespräch“, das der Dichter mit der Mutter und ihren Ersatzfiguren führt, geht es nicht<br />
wie im Symphilosophieren der Romantiker um die personale Beziehung zum Gesprächspartner.<br />
Als Person bleibt die Figur des Dr. Sonne völlig konturlos. Wohl aber<br />
macht <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> aus ihr eine Allegorie des Diskurses, verkörpert in ihr Wesen und<br />
Funktion der unendlichen Rede. In Sonnes Gesprächen kommt alles zu Wort, nichts<br />
wird unterdrückt oder ausgeschlossen. Seine Rede dient der reinen Erkenntnis. „Es<br />
ging um Einsicht, um nichts sonst.“ Sie ist daher auch der des Karl Kraus konträr entgegengesetzt,<br />
in der das Wort immer als richtendes gebraucht wird. Wenn Dr. Sonne<br />
sprach, war sein Wort „nicht ein Urteil über die Dinge, es war ihr Gesetz“. So befreit<br />
sich <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> aus der von Kraus übernommenen Rolle des satirischen Weltenrichters,<br />
um in die des Propheten zu schlüpfen, die ihm Sonne vorlebt. „Ich zittre um die Städte.“<br />
Dieser Satz, den Sonne als Reaktion auf die Bombardierung Guernicas äußert,<br />
wird von <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> als Prophetie gedeutet, als hellsichtiger Weitblick eines einzelnen,<br />
dem das künftige Unheil schon vor Augen stand, als alle Welt sich noch in Sicherheit<br />
wiegte.<br />
Leben im Wort heißt auch Abstinenz von der Tat. Über die beruflichen oder gesellschaftlichen<br />
Aktivitäten Sonnes erfährt der Leser nichts. Er erscheint ihm stets als Lesender<br />
oder Sprechender. Diese Enthaltsamkeit ermöglicht es ihm, „aus der Blutrache<br />
der Geschichte“ auszutreten. „Er haßte, was von Menschen gegen Menschen gerichtet<br />
war, einen weniger barbarischen Geist als ihn hat es nie gegeben.“ Die Hingabe an<br />
das lebendige Wort im Gespräch erweist sich damit als Abwendung von aller gesellschaftlichen<br />
Herrschaftsausübung, der Diskurs als Gegenwelt der Macht. Dr. Sonne<br />
treibt diese Askese so weit, daß er sich auch des eigenen Werks und des damit verbundenen<br />
Ruhms enthält. Während <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>s Mutter ihren Ehrgeiz durch ihren Sohn<br />
auf die Schaffung literarischer Werke richtet und auch Marek von dem Gedanken besessen<br />
ist, ‚dicke‘ Bücher zu schreiben, hat Sonne jegliche literarischen Ambitionen<br />
aufgegeben. <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> berichtet von ihm, er habe als junger Mann unter dem Namen<br />
Abraham ben Yitzchak wenige hymnenartige Gedichte in hebräischer Sprache veröffentlicht,<br />
die in ihrer Vollkommenheit mit denen Hölderlins zu vergleichen seien.<br />
Seither habe er jedoch als Dichter geschwiegen.<br />
Man könnte meinen, <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> habe diese allwissende, alles verstehende, gottähnliche<br />
Gestalt erfunden. In Wirklichkeit hat er auch hier wieder ‚präzise übertrieben‘, hat<br />
die geistige Kontur dieses Abraham Sonne, eines Dozenten am Jüdischen Pädagogium<br />
in Wien, der sich als hebräischer Dichter Abraham Ben Yitzchak nannte<br />
(„Poems“, Jerusalem 1957), 1938 nach Jerusalem emigrierte und dort 1950 starb, dergestalt<br />
überzeich<strong>net</strong>, daß unter seinem Namen das zusammengefaßt erscheint, was<br />
man den ‚dichterischen Diskurs‘ nennen könnte, die völlig freie Rede, die keine Ausschließungen<br />
oder Verknappungen mehr kennt, die sich aller Dinge und Menschen<br />
mit gleicher Offenheit annimmt und sie zu ihrem eigentlichen Sein befreit. Dazu gehört<br />
auch, daß sie in keinem Werk sich verfestigt, da es notwendigerweise Auswahl,<br />
Beschränkung, Verhärtung, letzlich Todesstarre bedeutet.<br />
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