Canetti, Elias - nachschlage.net
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kon und dessen syntaktische Eigenheiten. Das Profil, das er so gewinnt und das er<br />
übertreibend bis zur Karikatur steigert, nennt er in späteren Äußerungen zu seinen<br />
Dramen die „akustische Maske“ einer Person. In dem Begriff der Maske ist die dialektische<br />
Spannung eingefangen, aus der alle Figuren des Romans ihre Faszinationskraft<br />
ziehen. Einerseits beruhen sie auf genauester Charakterisierung, auf Zitaten der<br />
sprachlichen Realitäten, die der aufmerksame Zuhörer <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> in Wiener Spelunken<br />
und Straßen eingefangen hat. Zugleich gelingt ihm mit ihnen aber auch, was er in den<br />
„Aufzeichnungen“ als sein eigentliches schriftstellerisches Interesse formuliert, nämlich<br />
die Menschen „präzis zu übertreiben“ und damit die individuellen Porträts zur<br />
Kunstfigur zu verallgemeinern. Die übersteigerte Individualität nimmt allegorische<br />
Züge an, so daß im Hausbesorger auch der auf brutaler Gewaltanwendung und Autoritätshörigkeit<br />
gegründete faschistische Charakter, in der beschränkten Haushälterin<br />
die in totaler Verdummung endende kleinbürgerliche Besitzgier, in dem Zuhälter Fischerle<br />
und seiner Umgebung von Huren, Bettlern und Hausierern schließlich die in<br />
phantastische Träume sich verlierende Welt des Lumpenproletariats sichtbar wird.<br />
Dieses literarische Verfahren hat sein genaues Äquivalent in den gesellschaftskritischen<br />
Bildern von George Grosz, den <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> unmittelbar vor der Konzeption der<br />
„Blendung“ bei seinen Berlinaufenthalten in den Jahren 1928 und 1929 kennengelernt<br />
hatte. Ein Werk wie etwa das 1920 entstandene „Daum marries her pedantic automaton<br />
George“ ist nicht nur durch sein Motiv, das Gegenüber einer ihre Sexualität<br />
zur Schau stellenden Frau mit einer aus Rädchen, Zählwerken und allerhand mechanischen<br />
Utensilien zusammengesetzten männlichen Figur, mit <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>s Roman verwandt,<br />
sondern vor allem durch die identische Darstellungsform. Wie der Maler in<br />
satirischer Absicht Realitätspartikel zitiert und mit Hilfe der Montage zur grotesken<br />
Denunziation der Wirklichkeit nutzt, so der Schriftsteller die Splitter von Sprachwelten.<br />
Diese neusachliche Schreibweise ermöglicht ihm nicht nur eine erstaunlich hellsichtige<br />
Analyse der gesellschaftlichen Verwerfungen seiner Zeit und der durch sie<br />
heraufbeschworenen politischen Gefahren, sondern sie ist auch, wie <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> selbst bemerkt<br />
hat, eine Antwort auf die als Krise des Romans erfahrene Unmöglichkeit, die<br />
„zerfallene“ Welt im Kopfe eines als reale Figur gedachten Helden zu konstituieren.<br />
Sie trägt damit auf andere Weise denselben erzähltechnischen Problemen Rechnung,<br />
die zur gleichen Zeit Musil mit seinem „Mann ohne Eigenschaften“ und Broch mit<br />
seinen „polyhistorischen“ Romanen zu lösen versuchten.<br />
In seinen theoretischen Äußerungen hat <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> mehrfach Kien, die Zentralfigur seines<br />
Romans, von diesem Gestaltungsprinzip mit dem Hinweis ausgenommen, sie<br />
habe „keinerlei Vorbild in der Realität“. Hierbei kann es sich nur um eine bewußte<br />
Mystifikation späterer Leser handeln. Denn die autobiographischen Züge dieses „Büchermenschen“,<br />
dem im Roman der Prozeß gemacht wird, sind nur allzu deutlich.<br />
Hinter der Maske des weltabgewandten, nur seinen sinologischen Studien lebenden<br />
Gelehrten verbirgt sich der Autor, der von sich selbst rückblickend sagt, daß ihn<br />
schon damals „mehr und mehr […] die Geschichte und frühe Philosophie Chinas“<br />
faszinierte. Und auch hinter der extremen Berührungsangst und Realitätsflucht Kiens<br />
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