Canetti, Elias - nachschlage.net
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Die an diesen Erlebniskeimen des Buches schon ablesbare existentielle Verflechtung<br />
des Autors in seinen Untersuchungsgegenstand verbirgt sich zunächst hinter der sachlichen<br />
Analyse der verschiedenen Formen der Masse, ihrer Bildungsgesetze und ihrer<br />
Symbole. Dabei erscheint sie als Überwindung der natürlichen Berührungsangst und<br />
Vereinzelungstendenz des Menschen. Doch das Urphänomen, auf das alle Massenbildung<br />
zurückgeführt wird, die spontane Zusammenrottung auf der gemeinsamen<br />
Flucht vor einer Todesdrohung, wie sie auch bei Tieren zu beobachten ist, läßt die<br />
Tendenz des ganzen Werkes zutage treten. Die sozialen Zusammenhänge und Vorgänge<br />
werden, indem sie auf Massenphänomene reduziert werden, als natürlich entlarvt.<br />
Als Beispiel hierfür mögen die drei aufeinanderfolgenden Kapitel „Das Wesen des<br />
parlamentarischen Systems“, „Verteilung und Vermehrung. Sozialismus und Produktion“,<br />
„Die Selbstzerstörung der Xosas“ aus dem Abschnitt „Masse und Geschichte“<br />
dienen. Der Parlamentarismus wird in ihnen als unblutiger Ersatz für ein kriegerisches<br />
Massenritual gedeutet, wodurch die demokratische Übereinkunft, daß in Abstimmungen<br />
die Mehrheit den Sieg davonträgt, ihres ursprünglich aufklärerischen<br />
Sinnes beraubt wird, der vom Glauben an die Durchsetzungskraft der objektiven Vernunft<br />
getragen ist. Statt dessen nimmt <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> an, die Mehrheit setze sich deshalb in<br />
einer parlamentarischen Abstimmung durch, weil sie von der Gewißheit durchdrungen<br />
sei, „daß die größere Zahl in einem blutigen Zusammenstoß siegen würde“. Die<br />
Demokratie erweist sich, aus dieser Perspektive betrachtet, nur als eine subtilere<br />
Form des natürlichen Kampfes ums Überleben. In ähnlicher Weise schreibt <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong><br />
im folgenden Kapitel dem Kapitalismus wie dem Sozialismus in der instinktiven Zentrierung<br />
allen Tuns auf die Produktion eine gemeinsame naturhafte Grundlage zu.<br />
„Die Hybris der Produktion geht auf die Vermehrungsmeute zurück“, die in den Massenritualen<br />
primitiver Fruchtbarkeitstänze ebenso Gestalt annimmt wie in Fisch- und<br />
Insektenschwärmen und „riesigen Herden von Huftieren“. Das dritte, die Überlegungen<br />
zu „Masse und Geschichte“ abschließende Kapitel über die Selbstzerstörung der<br />
Xosas folgt zunächst anthropologischen Berichten. In ihnen wird erzählt, wie Angehörige<br />
eines südafrikanischen Stammes in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts,<br />
verführt von Prophezeiungen und Versprechungen der Geister ihrer Ahnen,<br />
ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstörten und daraufhin in Massen starben. Die Zusammenstellung<br />
dieser Vorgänge mit den vorhergehenden Analysen aktueller politischer<br />
Organisationsformen kann nur solange überraschen, als man nicht erkennt, daß<br />
<strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> hier zeigen will, wohin alle natürlichen Vermehrungsmeuten, auch die modernen,<br />
führen. Sie enden im Tod. So erscheint die Masse der Toten, seiner Interpretation<br />
nach, letztlich als diejenige, die allein eine Vermehrung erfährt.<br />
An diesem Beispiel ist die Tendenz von <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong>s Schreiben abzulesen. Indem er die<br />
gesellschaftlichen Phänomene der Gegenwart auf solche einer im Mythos befangenen<br />
Vorzeit oder gar auf Erscheinungen aus dem Tierreich zurückprojiziert, will er sie als<br />
naturhafte und damit dem Tod verfallene entlarven. Diese radikale Kritik vermag ihre<br />
Richtigkeit einzig aus der Strukturhomologie zu erlangen, die das interpretierende<br />
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