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Canetti, Elias - nachschlage.net

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ist er auch in der Autobiographie noch mit der mythischen Aura dessen umgeben, der<br />

„Atembilder“ schreibt, der instinktiv die Atmosphäre alles Lebendigen einfängt. So<br />

ist er der einzige verständnisvolle Zuhörer, als <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> sein noch ungedrucktes Drama<br />

„Hochzeit“ liest. Dennoch scheinen <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> die Anverwandlungen Brochs jetzt zu<br />

weit zu gehen, weshalb er ihn als einen Mann charakterisiert, der sich keiner Bitte widersetzen<br />

kann und der bis zur Selbstaufgabe den Einflüssen seiner Umwelt ausgeliefert<br />

ist. Als Gegenpol zu Broch figuriert Robert Musil. In ihm sieht der junge Autor,<br />

der zu Beginn der dreißiger Jahre noch keines seiner Werke veröffentlicht hat, aber<br />

dennoch mit dem emphatischen Anspruch des Dichters auftritt, einen Geistesverwandten.<br />

An ihm bewundert er die absolute Treue zu dem einen großen Werk, um<br />

dessentwillen er auf die Anerkennung der Mitwelt und auf ökonomische Sicherheit<br />

verzichtet. So wird „Der Mann ohne Eigenschaften“ für <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> zum paradigmatischen<br />

Werk, dessengrundsätzliche Unabschließbarkeit er darin begründet sieht, daß<br />

Musil in ihm versucht habe, das ganze Österreich und jedes seiner Individuen zu verewigen.<br />

Insgeheim wird „Das Augenspiel“ jedoch von einer dritten Gestalt beherrscht,<br />

der <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> den Namen Dr. Sonne gibt. Seine Lebensumstände bleiben im<br />

Dunkeln, jedoch behaupten Broch und <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> von ihm, er sei der Archetyp eines<br />

„guten Menschen“. In langen Gesprächen über politische Tagesfragen, über Philosophie,<br />

Religion und Dichtung erfährt <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> mit Bewunderung, daß Dr. Sonne alles<br />

versteht, alles in Zusammenhang bringt, alle Stimmen in seine eigene Rede aufzunehmen<br />

in der Lage ist. Dieser Universalität des gesprochenen Wortes ist der junge<br />

Dichter verfallen. „Wenn er etwas ganz gesagt hatte, fühlte man sich erleuchtet und<br />

gesättigt (…) Dr. Sonne sprach so, wie Musil schrieb.“<br />

Wenn man von dieser zentralen Gestalt her den Blick auf die ersten beiden Teile der<br />

Lebensgeschichte zurückwendet, wird man erkennen, daß auch in deren Mittelpunkt<br />

schon solche universalen Gesprächspartner gestanden hatten. In der „Geretteten Zunge“<br />

ist es die Mutter, die in engster Symbiose mit ihrem Kind die deutsche Sprache<br />

und die Liebe zur Literatur an den Sohn weitergibt. „Es war ein intimes Zusammenleben<br />

von wunderbarer Dichte und Wärme. Alle geistigen Dinge hatten das Übergewicht,<br />

Bücher und Gespräche darüber waren das Herz unseres Daseins.“ Das ist die<br />

Ursituation, auf die alle späteren bezogen bleiben. Als das Leben der Mutter durch<br />

die ausschließliche Bindung an den Sohn zerstört ist, nehmen Männer ihren Platz ein,<br />

die auf Wirksamkeit im äußeren Leben, auf Macht verzichtet haben, wie der gelähmte<br />

Student Thomas Marek in „Die Fackel im Ohr“, mit dem der Autor philosophische<br />

Gespräche führt. Dieses Sprechen mit einem Lebenden verleidet ihm das imaginierte<br />

Gespräch, das er die Irren seiner „Comédie Humaine“ führen lassen möchte. „Auch<br />

die Vorstellung dieses Gesprächs hatte an Glanz verloren, seit ich wirkliche Gespräche<br />

führte, die voller Überraschungen waren (…)“ So bewahrt der Austausch von<br />

Blick und Geste, Rede und Gegenrede den jungen Autor davor, sich ganz in die Welt<br />

seiner Fiktionen zu verlieren.<br />

In „Das Augenspiel“ hat Sonne die ursprüngliche Funktion der Mutter übernommen.<br />

Im täglichen Zusammensein mit ihm findet <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> seine eigenste Utopie verwirk-<br />

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