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Canetti, Elias - nachschlage.net

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Monologisieren, auch wenn sie mit anderen reden, führt zu grotesken Mißverständnissen,<br />

die ihren Höhepunkt bei der Vernehmung des „Subjekts“ Kien auf der Polizeiwache<br />

erreichen. Indem jeder so in seiner eigenen Welt, die zu allererst eine<br />

Sprachwelt ist, eingeschlossen bleibt, dient die menschliche Rede nicht mehr als Instrument<br />

der Mitteilung, sondern nur noch dazu, die eigenen Wünsche und Vorstellungen<br />

an die Stelle der Realität zu setzen. Daraus ergeben sich die Verwicklungen<br />

des Romans und die Irrtümer seiner Figuren. Denn als Getäuschte erweisen sie sich<br />

am Ende alle gleichermaßen, der gelehrte Kien ebenso wie die berechnende Therese,<br />

der gewalttätige Pfaff und der einfallsreiche Fischerle. Daraus resultiert aber auch<br />

ihre magische Weltsicht. Denn sie gaukeln sich durch ihre sprachlichen Projektionen<br />

eine eigene Welt vor, die nur von den Gesetzen ihrer egozentrischen Interessen regiert<br />

wird. Kiens Verwandlung seiner Bibliothek in ein Heer, das er befehligt und das<br />

sich am Ende gegen ihn empört, wobei die Zeilen in den Büchern ihn schlagen und<br />

„eine Fußnote […] ihn mit Füßen“ tritt, mag hier als ein Beispiel für viele stehen.<br />

<strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> hat in dem autobiographischen Bericht seiner Jugend schon mit dem Titel<br />

„Die gerettete Zunge“ angedeutet, wie zentral die Sprachproblematik in seinem Leben<br />

gewesen ist. In die Sprachwelt des altertümlichen Spanisch der sephardischen Juden<br />

hineingeboren, in bulgarischer Umgebung aufgewachsen, lernte der Junge mit<br />

sechs Jahren bei der Übersiedlung der Familie nach Manchester das Englische.<br />

Deutsch, das die Lieblings- und Bildungssprache seiner Eltern gewesen war, wurde<br />

ihm erst zwei Jahre später von der Mutter „unter Hohn und Qualen“ beigebracht, so<br />

daß es ihm zu einer „spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzten Muttersprache“<br />

wurde. Diese individuelle Geschichte erklärt ebenso wie die traditionelle<br />

Sprachskepsis der österreichischen Literatur, in deren Umfeld der junge <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> zu<br />

schreiben begann, seine außerordentliche Sensibilität gegenüber dem Mißbrauch und<br />

dem Versagen der Sprache. Sie macht aber auch die utopische Hoffnung verständlich,<br />

die am Schluß des Romans in dem Konzept einer von aller Verdinglichung befreiten<br />

Sprache aufleuchtet, wie sie Georges, der als Psychiater in Paris lebende Bruder des<br />

Helden, in der privaten Sprache des sich in einen Gorilla zurückverwandelnden Bruder<br />

eines Bankdirektors gefunden zu haben glaubt. Doch bleibt diese „Sprachmystik“<br />

leer, weil es <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> nicht gelingt, die Bedingung der Möglichkeit der Gorilla-Sprache,<br />

die Georges lernt, sichtbar zu machen. Die intendierte Gegenwelt entpuppt sich<br />

als Regression ins Archaische, und das „mythische Liebesabenteuer“ zwischen dem<br />

Gorilla und seiner Sekretärin, von dem Georges „in wenigen gewaltigen Worten, die<br />

wie abgeschnittene lebende Bäume ins Zimmer geschleudert wurden“, vernimmt, ist<br />

der Ambivalenz des Mythischen in demselben Maße verfallen, wie in ihm die Herrschaftsstrukturen<br />

sich durchsetzen, die auch die Alltagswelt kennzeichnen.<br />

So kann der dritte Teil kaum als „kontrapunktisch gesetztes Gegengewicht“ (Durzak)<br />

zum übrigen Roman gelten. Dessen positive Perspektive ist vielmehr in der unerbittlich<br />

durchgehaltenen Negativität des Satirikers, seinem unfehlbaren und maßlosen<br />

Haß zu sehen, mit dem er den maßlosen Dummheiten der Alltagswelt antwortet.<br />

Wohl aber hat <strong>Ca<strong>net</strong>ti</strong> sich selbst in der Figur des Georges seine künftige Lebensform<br />

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