Journalistenpreis Ehrenamtliches Engagement. Ausgezeichnete ...
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1. Preis<br />
fangs kamen nur eine Handvoll Leute,<br />
jetzt sind es manchmal über 100. Warum<br />
nehmen Sie das auf sich, Herr<br />
Saß? „Wir sind Christen“, sagt Werner<br />
Saß, ohne nachzudenken. Als der Laster<br />
aus Rehfelde endlich kommt,<br />
packen Micha und Martina 56 Kisten<br />
mit je sechs tiefgefrorenen Kastenbroten<br />
in ihren Transporter und zwei Kartons<br />
Schwarzwälder Kirschtorte. Auch<br />
Thorsten hat seinen Kleintransporter<br />
vollgeladen: Brot, Bre-zeln, Kuchen,<br />
Avocados, Tomaten, Margarine, jede<br />
Menge Kopfsalat. „Zu wenig Obst“, sagt<br />
er. „Das ist schlecht, wegen der Kinder.“<br />
11.15: Lidl Brunnenstraße<br />
Die Kinder. Thorsten hat selbst zwei.<br />
Als erstes wird er zwei Schulen anfahren,<br />
dort will er nicht ohne Vitamine<br />
aufkreuzen. Deshalb macht er einen<br />
Schlenker zur Brunnenstraße. „Vielleicht<br />
ist da was zu holen.“ Ein Herr im Lidl-<br />
Kittel schiebt eine Palette auf den Hof.<br />
Volltreffer. Wirsing, Blumenkohl und<br />
Paprika, aber auch Clementinen, Äpfel,<br />
Birnen, Weintrauben und Himbeeren.<br />
11.45: Grundschule<br />
Nein, sagen wollen sie lieber nichts.<br />
Obwohl: Sagen schon, aber nicht, dass<br />
es dann geschrieben wird. Zumindest<br />
nicht mit Namen! Vielleicht ist es den<br />
Lehrerinnen an der Grundschule unangenehm,<br />
dass so viele ihrer Kinder auf<br />
das Essen angewiesen sind, das die<br />
„Tafel“ bringt. Einmal die Woche beliefert<br />
Thorsten diese Grundschule, sie<br />
liegt in einer Gegend, die auf dem<br />
Stadtplan Wedding und im Jargon der<br />
Behörden „sozialer Brennpunkt“ heißt.<br />
Eine Gegend, in der Lehrerinnen eine<br />
Sorge mehr haben als anderswo: Wie<br />
kriegen meine Schulkinder ein gesundes<br />
Frühstück? Und ein Mittagessen.<br />
Beides bringt nun die „Tafel“, das<br />
Mittagessen gibt es nach dem Unterricht,<br />
so lange der Vorrat reicht. Landesmittel?<br />
Die Lehrerinnen lachen: Ist<br />
ja keine Ganztagsschule, „die Kinder<br />
könnten ja nach Hause gehen.“ Zu<br />
Hause, das ist ein Ort, an dem es nichts<br />
zu essen gibt.<br />
12.25: Essen unter Dach<br />
Kalte Fliesen auf dem Boden und an<br />
den Wänden. An langen Biertischen sitzen<br />
schweigend Frauen und Männer.<br />
Alle Tische sind besetzt, an jedem sitzt<br />
einer. Sie sehen traurig aus und alt, sie<br />
löffeln Gemüsesuppe, Omelettes und<br />
Obstsalat. Es riecht nach Bratfett und<br />
Einsamkeit. 100 Wohnungslose und Sozialhilfeempfänger<br />
kommen täglich in<br />
die Rathenower Straße, wo 20 Küchenhilfen<br />
„Essen unter Dach“ bereiten. Umsonst.<br />
Während Thorsten Blumenkohl<br />
und Zwiebeln auslädt, gibt es ein bisschen<br />
Statistik: 2300 Mahlzeiten hat<br />
„Essen unter Dach“ im letzten Winter<br />
an Bedürftige ausgegeben, sagt der Vizevorsitzende<br />
des Vereins, der diese Suppenküche<br />
betreibt. Diesen Winter werden<br />
es 3000 sein. „Die Armut in Berlin<br />
wird immer gewaltiger“, sagt er. „Man<br />
sieht es nur nicht.“ Mittagszeit: Stadtverkehr<br />
Wie nennt man das, was Thorsten<br />
tut: Idealismus, Humanität, Ehrenamt?<br />
Er selbst nennt es: soziale Ader.<br />
Die habe er irgendwie schon immer gehabt.<br />
Eine soziale Ader ist etwas, da<br />
kann man gar nichts dagegen tun. Früher<br />
hatte er ein Patenkind in Afrika.<br />
Dann verlor der gelernte Schlosser seinen<br />
Job, nach 13 Jahren, sein Chef ging<br />
Pleite. Thorsten meldete sich arbeitslos.<br />
Das war im letzten Sommer. Seitdem<br />
wartet er auf Angebote. „Was soll ich zu<br />
Hause sitzen, da kann ich lieber was<br />
Sinnvolles machen.“ Vier Mal die Woche<br />
fährt er für die „Tafel“, vier Mal den<br />
ganzen Tag. Vier Abende die Woche ist<br />
er geschafft, aber zufrieden. „Früher habe<br />
ich ein einfach nur Produkte hergestellt.<br />
Heute sehe ich, was ich am Tag<br />
geleistet habe. Ich sehe leuchtende Kinderaugen.<br />
Das ist die größte Befriedigung,<br />
die mir je ein Job verschafft hat.“<br />
13.48: E-Lok<br />
Ein trister Betonwürfel, gleich am<br />
Markgrafendamm in Friedrichshain. 20<br />
Jugendliche werden in der „E-Lok“ verköstigt.<br />
„Wollt ihr Blumenkohl?“, fragt<br />
Thorsten den Koch. „Klar.“ – „Rosenkohl?“<br />
– „Gern.“ – „Brot?“ – „Wenn Ihr<br />
welches habt...“ – „Schnitzel, Wurst, Salat,<br />
Zwiebeln?“ – „Thorsten, Du bist unser<br />
König.“<br />
14.05: Bahnhofsmission am<br />
Ostbahnhof<br />
Micha und Martina sind inzwischen<br />
wie mit einem großen Schleppnetz<br />
noch zwei weitere Lidl-Supermärkte abgefahren,<br />
einen Coffee Shop am Potsdamer<br />
Platz, einen Plus-Markt, ein<br />
Kaufland. Bei einer Großfleischerei in<br />
Lichtenberg haben sie 105 Kilogramm<br />
Wurstbruch ergattert, sieben Kisten<br />
voll. Dieser Vormittag war eine Reise<br />
durch den Überfluss Berlins, jetzt wartet<br />
das Elend. Die Mission am Ostbahnhof<br />
ist viel kleiner als die am Zoo, gerade<br />
eine Handvoll Leute finden in den<br />
Räumen unterm S-Bahn-Bogen Platz.<br />
Wird der Andrang zu groß, darf man<br />
höchstens eine halbe Stunde bleiben.<br />
Müde Gesichter beugen sich über<br />
heißen Tee. Wenn ein Zug einrollt, zittern<br />
die Tassen. In einem besenkammergroßen<br />
Büro sitzt die Leiterin. Sie<br />
sagt, dass die Armut größer werde.<br />
Nicht nur Obdachlose kämen jetzt her<br />
– auch Leute aus der Nachbarschaft, die<br />
außer ihrer Miete nichts mehr bezahlen<br />
könnten. Jugendliche, Arbeitslose, ganze<br />
Familien. Und dann die Verlorenen,<br />
die jeder Bahnhof anschwemmt – die<br />
aus dem ganzen Land.<br />
14.15: Ebbe und Flut<br />
Immer wieder die gleiche Geschichte.<br />
Kinder, die kein funktionierendes Elternhaus<br />
haben. Die zu Hause nichts zu essen<br />
bekommen. Die deshalb in Einrichtungen<br />
wie den Mädchentreff „Ebbe<br />
und Flut“ am Prenzlauer Berg gehen, wo<br />
sie ein paar Stunden Geborgenheit und<br />
eine warme Mahlzeit finden. Sozialstation<br />
als Ersatzfamilie, die „Tafel“ als<br />
Esstischersatz. Wie arm Berlin ist! Wer<br />
es wirklich wissen will, soll diese Tour<br />
machen; einmal reicht.<br />
14.20: Fahrt nach Kreuzberg<br />
Dass Martina zur „Tafel“ kam, war eine<br />
Strafe. Weil sie ein paar Geldbußen wegen<br />
zu schnellen Fahrens nicht bezahlen<br />
konnte, wurde sie zu 100 Stunden<br />
ehrenamtlicher Arbeit verurteilt, damals<br />
vor fünf Jahren. Es hat ihr so gut gefallen,<br />
dass sie geblieben ist. Sie fährt gern<br />
Auto, und sie sieht gern die Freude in<br />
den Mienen der Leute, denen sie zu essen<br />
bringt. Micha ist gelernter Stuckateur<br />
und zog vor sechs Jahren aus Bayern<br />
nach Berlin. „Hätte ich lieber nicht<br />
machen sollen. Hier gibt es keine Arbeit.“<br />
Micha lebt von Arbeitslosenhilfe,<br />
Martina von Sozialhilfe.<br />
14.45: SKA, Dresdener Straße<br />
So ungefähr muss es sein, wenn ein<br />
Hilfskonvoi der UNO in einem afrikanischen<br />
Hungergebiet eintrifft. Erst<br />
schlurft nur ein einzelner gebeugter<br />
Mann in Jeansjacke zu dem weißen<br />
Auto vor der Tür, doch schon bald sind<br />
Martina und Micha umringt von gesti-<br />
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