Ausgabe 06 - Goethe-Universität
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Hannes Ahbe: Die Kunst, einen Tag zu fliehen<br />
15<br />
Wie jeder andere Gast der allein reist, war ich genötigt mit anderen Passagieren in Kontakt zu<br />
kommen, um die soziale Wirklichkeit und die kulturellen Handlungsmuster der finlandsbåter zu<br />
verstehen und zu durchdringen. In einem Punkt habe ich mich jedoch von den regulären Passagieren<br />
unterschieden. Mein Auftreten als Beobachter war verdeckt und gleichzeitig offen (Mey &<br />
Mruck 2010: 454). Das lag in erster Linie an der Struktur meines Forschungsunternehmens. Ich<br />
ging als regulärer Gast an Bord und war für die meisten Passagiere auch nur als solcher sichtbar.<br />
Ein Großteil der Gäste hat mich dadurch nicht als Forscher erfahren. Den Passagieren, mit denen<br />
ich in Kontakt trat, habe ich meine Absichten aber stets mitgeteilt.<br />
In der analytischen Beschreibung müssen zwei Darstellungsebenen unterschieden werden. Die<br />
erste konstruiert die Sonderwelt färja, die den Hintergrund des ethnographischen Narratives bildet.<br />
Hierzu zählt neben der Beschreibung der Architektur und Konstruktion des Raumes auch<br />
die Darstellung der Mitarbeiter. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf die Vorderbühne, die<br />
öffentlich zugänglichen Räume und Abläufe. Zum zweiten wird die Ebene der Implikation und<br />
Darstellungen spezifischer Handlungsmuster sowie die Dynamiken und kommunikativen Formen<br />
dargestellt, die im Raum färja entstehen. Gemeinsam bilden beide Ebenen das „Bedeutungsgewebe“<br />
(Geertz 1983: 9) der kulturellen Handlungsmuster. Aufgebaut ist die Darstellung in<br />
fünf sogenannten Kapiteln, die als zusammenhängende Geschichte zu lesen sind. Das letzte Kapitel<br />
stellt dabei eine zusammenfassende Analyse des Mikrokosmos dar.<br />
Kapitel 1: Vorklärung<br />
Cinderella<br />
Ich bin schon fast zu spät. Der Koffer ist gepackt, das Ethnologenwerkzeug verstaut: Diktiergerät,<br />
Fotoapparat, Stift und Papier. Aufregung macht sich breit. Nicht nur weil ich mich auf die<br />
Reise zur Feldforschung begebe, sondern auch, weil ich keine Ahnung habe, was mich erwartet.<br />
Ich bin unterwegs zum Stockholmer Hafen Stådsgarden -einer der drei Kreuzfahrthäfen der Stadt.<br />
Hier haben die Reedereien Viking Line und Birka Cruises ihre Terminals untergebracht und die<br />
Passagiere werden dort auf die Schiffe steigen. Der Hafen ist liegt neben Slussen 42 , dem zentralen<br />
Verkehrsknotenpunkt der Stadt. Nach 10 minütiger Fahrt mit der Tunnelbana 43 gröna linien 44 steige<br />
ich in Slussen aus. Bis hierhin war ich nur ein Reisender des öffentlichen Nahverkehrs in Stockholm.<br />
In Slussen angekommen nehme ich einen Bus in Richtung Nacka. Auf dem Weg treffe ich<br />
hier häufig die ersten Personen mit dem gleichen Ziel. Zukünftige Passagiere. also An der ersten<br />
Haltestation, Londonviadukten, ist die Fahrt schon wieder beendet. Das ist die Bushaltestelle, die<br />
eigens für den Hafen eingerichtet wurde. Wer hier aussteigt, fährt entweder mit einem der Schiffe<br />
oder arbeitet bei einer der Reedereien. Jeder im Bus hat mich mittlerweile als Schiffstourist erkannt,<br />
spätestens als ich meinen Rollkoffer von der Gepäckablage hieve und mich zum Aussteigen<br />
bereit mache.<br />
Draußen ist es kalt und der Wind peitscht mir ins Gesicht. Mit mir sind ein paar weitere potentielle<br />
Passagiere aus dem Bus ausgestiegen. Die meisten Teilnehmer der Schiffsreise sind aber<br />
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42 Slussen, deutsch: die Schleuse.<br />
43 Tunnelbana, deutsch: U-Bahn.<br />
44 gröna linien, deutsch: die grüne Linie.<br />
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