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Ausgabe 06 - Goethe-Universität

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Hannes Ahbe: Die Kunst, einen Tag zu fliehen<br />

64<br />

punkt. Das Fest besitzt einen hochemotionalen Charakter. Als Katalysator der an Bord entstehenden<br />

Gemeinschaftlichkeit wurden vor allem die Geselligkeit 241 und der Alkohol 242 identifiziert.<br />

An Bord gilt außerdem die Regel „what happens on the boat stays on the boat.“ 243<br />

Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal posttraditioneller Gemeinschaften ist der gemeinsame<br />

geteilte Symbol- und Ideenraum 244 . Als Idee fungiert an Bord die gemeinschaftliche Gleichheit.<br />

Als Symbol ist die uniforme Kabine zu verstehen. Das Schiff als Realisation einer Utopie (Heterotopie)<br />

ist die spezielle Konstruktion eines Symbols. Das Schiff ist nicht nur Vehikel und Raum<br />

sondern auch gleichzeitig Symbol für Freiheit. Nichts symbolisiert Freiheit mehr als das Schiff.<br />

Grundsätzlich haben die Schiffe für die Passagiere einen affirmativen Charakter zur Normalität.<br />

An Bord wird eine institutionalisierte interne und externe Regelübertretung praktiziert. Intern bezeichnet<br />

die Überschreitungen die an Bord stattfinden. Extern die Überschreitungen bezüglich<br />

des Alltages. Die Handlungen und Aktivitäten an Bord stehen der Praxis der Passagiere in ihrer<br />

normalen Struktur diametral gegenüber. Dadurch, dass Bedürfnisse auf dem Schiff eine Entladung<br />

finden, bleibt im Allgemeinen die Struktur der Gesellschaft unberührt. Schlussendlich war<br />

die Handlungsmotivation zur Gemeinschaftserfahrung für den Einzelnen (egoistischer) Hedonismus<br />

(Fest & Urlaub), sowie die Beschaffung günstiger Alkoholika. Laut der Beschreibung<br />

des Raumes gilt die färja als gemeinschaftlicher Gegenentwurf zur Gesellschaft. Unter diesen Voraussetzungen<br />

lässt sich also die finlandsfärja auch als eine Form der posttraditionalen Vergemeinschaftung<br />

und somit als eine Form der situativen Gemeinschaft bezeichnen 245 .<br />

Dazu erklärt Hubert Knoblauch in einer seiner ersten ethnographischen Studien: „Die Einrichtungen,<br />

in denen sich „kulturschaffende“ Anbieter und Konsumenten –handelt es sich nun um<br />

Club-Reisen, Kaffeefahrten oder Schamanen-Lehrgänge –treffen, bilden sozusagen „intermediäre“<br />

oder „sekundäre“ Institutionen, in denen eben nicht der einzelne dem Markt begegnet, sondern<br />

in –wenn auch kurzlebigen oder nur kurzweiligen- Gemeinschaften leibhaftig und mit unterschiedlichem<br />

Maß an Eigenaktivität an Veranstaltungen teilhat.“ (Knoblauch 1988: 411)<br />

Genau diese „sekundäre“ (ebd.) Institution oder eben posttraditionale Gemeinschaft scheint das<br />

Schiff bereitzustellen. Ich denke daher, dass das Schiff ein Symbol der Gegenbewegung zu gesellschaftlicher<br />

Vereinzelung und Ausdruck einer (unverbindlichen) Kollektivierungstendenz ist. Vor<br />

allem in Schweden darf wegen der Entwicklungsbedingungen des Wohlfahrtsstaates und dessen<br />

Krise seit den 1990er Jahren (Tuchtenhagen 2008: 144f) von einem immensen Verlust des Zusammenhalts<br />

in der Gesellschaft gesprochen werden. Dieser drückt sich ebenso im Verlust der<br />

Erfahrung (traditioneller) Gemeinschaft aus. Vielleicht, so lautet eine These der Arbeit, ist das<br />

Schiff auch eben deswegen eine Flucht in die (posttraditionale) gemeinschaftliche Erfahrung, weil<br />

der Verlust von Gemeinschaftlichkeit im öffentlichen Leben durch den Rückbau sozialstaatlicher<br />

Sicherungssysteme in besonderem Maße in Schweden zunimmt. Dies würden auch die Passagierzahlen<br />

belegen, die seit knapp 20 Jahren kontinuierlich steigen (Lindström 2011).<br />

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241 Siehe auch Simmel (1969).<br />

242 Siehe auch Daun (1996: 51).<br />

243 Dies steht gewissermaßen als unausgesprochen im Raum. Damit ist meist nur das gemeint, was in der real world<br />

als negativ empfunden würden. Positive Erlebnisse werden sicherlich auch außerhalb des Schiffes mitgeteilt. Ich<br />

würde es jedoch nicht als gültige und geschriebene Regel bezeichnen (Dies würde wiederum ein Element der<br />

Vergesellschaftung durch Kontrakte sein).<br />

244 Vgl. auch Kirchner (2011: 140).<br />

245 Zumindest erfüllt es die Voraussetzungen des Konzeptes.<br />

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