Ausgabe 06 - Goethe-Universität
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Hannes Ahbe: Die Kunst, einen Tag zu fliehen<br />
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erotische Kontakte ist, von der überwältigenden Mehrheit der Passagiere geteilt. Ich erinnere<br />
mich an einen Abend im Pub an welchen ich in einem Gespräch mit einem älteren Ehepaar war.<br />
Die beiden waren keine typischen Kreuzfahrtteilnehmer und standen der Szenerie auf der Fähre<br />
tendenziell kritisch gegenüber. Sie waren an Bord gekommen, weil sie an einer Lesung, welche<br />
eine große schwedische Tageszeitung veranstaltete, teilnahmen. Ort der Lesung war das leere<br />
Fahrzeugdeck, welche der Veranstalter als günstige und interessante Location entdeckt hatte. Ich<br />
hatte die beiden in der Bar angesprochen und wir kamen ins Gespräch. Als ich ihnen erzählte,<br />
dass ich in Stockholm mit meiner Freundin wohne und mich hier auf dem Schiff zur Feldforschung<br />
befinde, war die erste fragende Reaktion des Mannes, ob ich denn alleine an Bord sei.<br />
Nach meiner Bestätigung brach er in Gelächter aus und sagte mir sinngemäß: „Your girlfriend must<br />
be really stupid to let you go alone“ 160 . Für ihn schien klar, dass ein einsamer 161 , junger Mann auf diesem<br />
Schiff eigentlich nur eines wollen kann. Ich ließ das unkommentiert, zumal ich zu diesem<br />
Zeitpunkt die Tragweite der Aussage noch nicht ganz einordnen konnte.<br />
Erst als ich mit den drei jungen Damen über ihre Abendambitionen sprach, wurde mir klar, was<br />
der ältere Herr damit gemeint hatte: das Schiff ist eine riesige Datingplattform und Partnerbörse.<br />
Niemand hatte das so verinnerlicht, wie die drei jungen Frauen, deren Begleitung ich für kurze<br />
Zeit war. Das Abendprogramm im FunClub und die daran angeschlossene Party sind an Bord die<br />
Hauptveranstaltung des Abends. Dabei findet nur das Rahmenprogramm im Raum des FunClub<br />
selbst statt. Die Party ist über das gesamte Schiff verteilt und die Abende sind von Mobilität und<br />
Begegnung und Spiel geprägt. Der FunClub ist neben dem Tax Free Shop einer der wenigen Orte,<br />
den im Verlauf der Reise eigentlich alle Passagiere besuchen dürften und gleichzeitig Hauptschauplatz<br />
des Abends. Das Abendprogramm ist von den Reedereien meistens gut vorbereitet<br />
und ausgewählt. An Wochenenden spielen häufig sogar etwas bekanntere Künstler auf den Bühnen<br />
der Schiffe. Wochentags dominieren aber nur mäßig bekannte Künstler die Veranstaltungsräume.<br />
Zumeist werden Bands über einen längeren Zeitraum für ein Schiff gebucht. Diese spielen<br />
dann sogenannte Covermusik und treffen damit meist den Geschmack der Liebhaber populärer<br />
Musik. Zusätzlich bieten sie noch ein buntes Potpourri aus englisch- und schwedischsprachigen<br />
Gassenhauern. Vor allem die schwedischsprachigen Songs kommen beim Publikum sehr gut<br />
an und ziehen die ersten Gäste auf die Tanzfläche. Nach diesen sogenannten floor fillern startet<br />
im FunClub das Fest 162 . Der Raum ist dunkel und aus allen Ecken flackern Lichter. Es herrscht<br />
eine spannende Atmosphäre am Abend.<br />
Eine Tatsache wird beim Fest deutlich: die Körper der Teilnehmer rücken in den Mittelpunkt.<br />
Die überwältigende Mehrheit ist für den Abend gut oder sehr gut gekleidet. Bei Frauen dominiert<br />
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />
160 Aus einer Gesprächsnotiz/Feldnotiz.<br />
161 Um mich einmal selbst in diese erarbeitete Kategorie zu setzten.<br />
162 (Soziologische) Theorien über das Fest gibt es viele. Vor allem Winfried Gebhardt hat in seinem Werk Fest,<br />
Feier und Alltag die verschiedenen Theorien des Festes vorgestellt. (Gebhardt 1987: 36-44) Diese lassen sich<br />
zusammenfassend in „vier Gruppen“ (ebd. 36) einteilen. Zum ersten Freud, Durkheim, Caillois die das Fest als<br />
„Exzess“(Freud) und „Befreiung vom Alltag“, sowie den Bezug aufs Göttliche sehen. Ähnlich wie Viktor Turner,<br />
der Rituale untersucht hat, sehen diese Autoren den affirmativen Charakter des Festes als überlebenswichtig<br />
für die Gesellschaft. Zum zweiten beschreiben Kerenyi, Pieper die „(...) Ruhe und Kontemplation, in der Eigenrhythmik<br />
des Festkalenders (als) deren Sinn“. (Homann 2004: 96) An dritter Stelle ist die Gruppe um Cox, Martin<br />
und Bloch zu nennen. Diese fokussieren sich auf die Aufhebung des Alltags, sowie (ritualisierte) temporäre<br />
Statusumkehr. Und schließlich als viertes die kritische Theorie vertreten durch Adorno und Horkheimer, die das<br />
Fest als Herrschaftsinstrument (Amüsement ) interpretieren. Ich verwende den Begriff Fest für das Schiff im Sinne<br />
Freuds, als Exzess & als psychische Entladungsstrategie im Folgenden.<br />
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