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Ausgabe 06 - Goethe-Universität

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Hannes Ahbe: Die Kunst, einen Tag zu fliehen<br />

47<br />

des Schiffes ist dies auch häufig der Fall: „when you go on a boat in a bar you can say as well I am a bank<br />

manager, I have money, I have this and I have that but then when you go back you're (pause) a taxidriver“ 175 .<br />

Dies bedeutet aber im Umkehrschluss auch, das die Passagiere auf den Schiffen (sofern sie ihr<br />

Gegenüber auf dem Schiff nicht persönlich kennen) wegen der großen Anonymität nicht wissen,<br />

ob ihr Gegenüber die Wahrheit über die eigene Rolle und Identität erzählt. Dadurch kommt es in<br />

der Kurzzeitgemeinschaft an Bord zu einer gewissen diffusen Skepsis. Auch mir ist dies widerfahren<br />

und zwar in zweifacher Hinsicht: es war an dem Abend, als ich die beiden Rentner Monica<br />

und Harry beim Essen kennenlernte. Wir kamen damals natürlich dadurch ins Gespräch, weil wir<br />

am gleichen Tisch saßen. Ich saß in der Mitte einen langen Tafel des Buffets und die beiden Alten<br />

am Rand des Tisches, direkt neben einem großen Fenster des Schiffes. Sie beklagten sich<br />

wegen der Klimaanlage, die direkt neben ihnen kalte Luft ausstieß. Ich bot daraufhin an mit mir<br />

die Plätze zu tauschen. Nachdem wir uns umgesetzt hatten, berichtete Harry sogleich für den<br />

Kellner, das wir die Plätze getauscht hätten. Der Kellner bot ihnen gleichzeitig an sich an einen<br />

gänzlich anderen Tisch im Saalinneren zu setzten. Dies nahmen die Beiden dankend an. Sie teilten<br />

dem Kellner aber mit das auch ich mitkommen müsse, da ich sonst allein am Tisch verbliebe.<br />

So wechselten wir gemeinsam den Tisch. Der Kellner setzte uns gemeinsam mit einer älteren,<br />

einsamen Dame. Sie hieß Julia und war Mitte 50. Nachdem wir uns vorgestellt hatten, fragte sie<br />

uns, ob ich der Enkelsohn der beiden älteren Herrschaften war. Wir verneinten das gemeinschaftlich<br />

und erklärten ihr, dass wir uns auch grade erst kennengelernt hatten. Wir plauderten<br />

während des Abendessens über Gott und die Welt. Julia berichtete, dass sie gemeinsam mit<br />

Freunden an Bord sei, diese aber nicht am Buffet teilnähmen. Sie würde sich später mit ihnen<br />

treffe. Dafür nahm sie ein paar godis 176 mit, um sie später mit ihnen zu teilen. Diese verstaute sie<br />

in großen Portionen in ihrer Handtasche. Julia war eine kleine und dickliche Frau. Sie sprach laut<br />

und häufig und unterbrach ihr Gegenüber immer wieder während ihre Stimme dabei wie ein<br />

Reibeisen klang. Ich erinnere mich daran, dass sie mir recht unsympathisch war. Nachdem sie<br />

abermals zum Buffet gegangen war, um sich eine Tasse Kaffee und weitere Süßigkeiten zu holen,<br />

fingen meine beiden Sitznachbarn Monica und Harry an, über Julia zu sprechen. Für sie war klar,<br />

Julia erzählte am Tisch die Unwahrheit. Sie sei nicht mit Freunden an Bord. Die sage sie eventuell<br />

nur um nicht unangenehm dazustehen, wenn sie sich die Taschen mit Lebensmitteln auffüllt.<br />

Monica erwähnte sie habe es oft erlebt das Passagiere an Bord die Unwahrheit erzählten. Auch<br />

hier hatte sie das Gefühl, dass es sich bei Julia um eine Lügnerin handelte. Aufgrund meiner großen<br />

Sympathie gegenüber den beiden alten Herrschaften und meiner anfänglichen Antipathie<br />

gegenüber Julia übernahm ich ihre Denkweise. Als sie vom Buffet zurückkehrte war mein gedankliches<br />

Bild über Julia schon fertig gezeichnet. Ich wartete nur noch auf einen Anhaltspunkt<br />

in ihren Ausführungen, die mir das bestätigen sollte. Dazu kam es aber nicht. Kurz bevor wir uns<br />

verabschiedeten eskalierte die Situation fast. Julia drehte im Gespräch den Spieß um: Sie fragte<br />

offen in den Raum ob ich vielleicht einfach die Unwahrheit über mich und das, was ich an Bord<br />

mache, erzähle. Sie stellte mich als potentiellen Lügner hin. Ich wusste in dem Moment nicht was<br />

ich sagen sollte. Die Situation ging damit aus, dass ich meine Glaubwürdigkeit herstellen konnte<br />

und wir verabschiedeten uns alle freundlich voneinander. Am nächsten Nachmittag sah ich Julia<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

175 Interview Viktoria.<br />

176 Deutsch: Süßigkeiten, ist ein Sammelbegriff für alles Süßes. In diesem Fall ging es um Nachtisch, Kuchen und<br />

Süßigkeiten.<br />

!

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