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Ausgabe 06 - Goethe-Universität

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Hannes Ahbe: Die Kunst, einen Tag zu fliehen<br />

72<br />

Findet diese nicht statt, spricht man nicht von einem Ritual, sondern einer Zeremonie. Diese hat<br />

die gleiche Struktur, keine religiösen Funktion, aber gegenüber die Gesellschaft einen bestätigenden<br />

Charakter: „I consider the term “ritual” to be more fittingly applied to forms of religious<br />

behavior associated with social transitions, while the term “ceremony” has a closer bearing on<br />

religious behavior associated with social states, where politico-legal institutions also have greater<br />

importance. Ritual is transformative, ceremony confirmatory“ (Turner 1987: 5) 272 .<br />

Der Gesellschaft wird also durch die strukturlose Communitas eine Anti-Struktur gegenübergestellt.<br />

Die Paradoxie, Umkehrung von Normen und Reflexivität produziert einerseits Kreativität,<br />

kann aber auch anderseits für die gesellschaftliche Struktur gefahrvoll sein. „Im Ritual ist die<br />

Communitas nur ein zeitweiliges Gegenbild, das die wahre Ordnung umso plausibler macht und<br />

stützt. Es ist keine Utopie, sondern strukturiertes Chaos. Das normwidrige Verhalten der Beteiligten<br />

ist in dieser Phase nicht freiwillig, sondern Pflicht“ (Stohrer 2008). Die Communitas<br />

fungiert also als kontrollierende und leitende Agentur von kritischem und gefährlichem Potenzial.<br />

Zentral ist im Ritual die Unterwerfung des Individuums unter eine Autorität, die das Ritual leitet.<br />

Die Anti-Struktur, die nur dialektisch (Turner 2005: 97) vor dem Hintergrund der Struktur bestehen<br />

kann, löst sich nach einiger Zeit wieder zur Struktur auf und wird somit zur Keimzelle der<br />

gesellschaftlichen Ordnung. Das Ritual kann daher als gesellschaftsstabilisierendes Moment verstanden<br />

werden. Als „Macht der Schwachen“ (Turner 2005: 111) beschreibt Turner jene institutionalisierten<br />

Formen des Rituals (oder der Zeremonie), die als Ausdrucksform marginalisierter<br />

Gruppen gelten könne. So sind die Kunst und das Theater Formen in modernen Gesellschaften,<br />

in denen permanente Hierarchiefreiheit und Kritik vorherrscht 273 . Den Randgruppen, die permanent<br />

außerhalb der Zeit und Struktur stehen, wird von Turner ein besonders hohes Potential<br />

zugemessen 274 . Sie haben die Funktion der permanenten Reformation der Struktur. In früheren<br />

Gesellschaften hatte der Hofnarr oder der Clown diese Funktion inne.<br />

So ist zum Beispiel der Karneval Brasiliens eine Möglichkeit der Schwachen und Armen die gesellschaftliche<br />

Realität umzukehren und ohne Angst und Furcht vor Konsequenzen, Kritik an<br />

Autoritäten und Umständen zu üben. Dabei funktioniert der Karneval gewissermaßen als ritualisiertes<br />

Ventil gesellschaftlicher Spannungen und stellt über einen kurzen Zeitraum Communitas<br />

und Anti-Struktur her 275 . Nach dem Karneval wird die Gesellschaft, ihre Struktur und ihre Ordnung<br />

wieder hergestellt. Dabei hat sich in der Struktur nicht viel verändert. Die „Schwachen“<br />

konntest über dieses Umkehrritual lediglich sonst gesellschaftlich unterdrückte Sachverhalte öffentlich<br />

und ohne Konsequenzen zur Sprache bringen. Eventuell finden Themen, die während<br />

der Zeit des Karnevals auf satirische Weise diskutiert wurden, Eingang in die (politische oder<br />

gesellschaftliche) Diskussion. Neben dieser stabilisierenden Funktion haftet dieser institutionalisierten<br />

Zeremonie selbstverständlich ein reformerisches Moment an. So können im Sinne Turners<br />

in Missstände des Randkulturen aufgezeigt und eventuell eine Verbesserung in die Struktur<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

272 Zwar wird bei Grenzphänomen häufig Turner Ritualtheorie zitiert, jedoch in der Darstellung des Rituals wird<br />

ebenso häufig unterschlagen, dass Turner zwischen Ritualen und Zeremonien unterschied. Somit wird m.E. der<br />

Ritualbegriff im Sinne Turners zu inflationär für die Deutung von modernen liminalen Phänomen verwendet.<br />

273 Zumindest im Ideal Viktor Turners. Im Sinne von Adornos und Horkheimers Kunst- und Kulturbegriff wäre,<br />

der Ausdruck in der Kulturindustrie fand, wären grade diese marginalisierten Gruppen absolut machtlos.<br />

274 Der starke Fokus auf das Theater als moderne Form der Macht der Schwachen ist sicherlich auch gleichzeitig<br />

einer der größten Kritikpunkte in Turners Theorie.<br />

275 Karneval ist nur ein Beispiel. Turner spricht noch von vielen weiteren Beispielen wie der Hippiebewegung. Das<br />

revolutionäre Potenzial wurde hier als reformerische Kraft umgesetzt.<br />

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