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Ausgabe 06 - Goethe-Universität

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Hannes Ahbe: Die Kunst, einen Tag zu fliehen<br />

77<br />

(„you see, its the normal world again“ 284 ). War die Gemeinschaft an Bord noch verschworen, so zeigen<br />

sich doch schon in der Gangway erste Auflösungserscheinungen bezüglich ihres Zusammenhalts.<br />

Ein Ereignis wiederholte sich beim Ausstieg immer wieder an einer der Rolltreppen. Diese verbindet<br />

zwei unterschiedliche Ebenen der Gangway miteinander verbindet. Hauptnutzer dieser<br />

Einrichtung sind vor allem Personen, die einen mit Bierkisten beladenen Rollwagen mit sich führen.<br />

Aufgrund eines Konstruktionsfehlers (der Rolltreppe) passiert es häufig, dass kurz nach verlassen<br />

der Rolltreppe der Rollwagen mit der schweren Beladung das Gleichgewicht verliert und<br />

zur Seite kippt. Die obere Stiege mit Bier fällt dabei haus der Halterung und knallt auf den Boden.<br />

Dabei platzt die papierhafte Umverpackung auf und die Weißblechdosen verteilen sich auf<br />

dem Boden der Gangway. Der erschrockene Gast dem das Missgeschick passiert ist, kann aber<br />

hier nicht auf die Hilfe der (ehemaligen) Mitreisenden bauen. Diese gehen einfach mit sturem<br />

Blick weiter und kommentieren die Szene meistens nur mit einem Lächeln 285 . Scheinbar sind die<br />

Teilnehmer in der Übergangsphase schon wieder den Normen der Struktur und der ursprünglichen<br />

Mentalität näher als denen der Communitas („Ja and if you ähm lay down and no one come and<br />

help you up. Everybody just passes by“) 286 .<br />

Auch die Kleingemeinschaften, die sich während der liminalen Phase zusammengetan haben,<br />

werden im Verlauf der »rites d'agrégation« getrennt. Zwar besteht noch eine physische Gemeinschaft<br />

innerhalb der Gangway, doch schon mit Betreten des Terminals beginnt die Struktur wieder<br />

auf die Individuen einzuwirken und die Verbindung zwischen den ehemaligen Passagieren<br />

sichtbar zu bröckeln. Hier ist die Trennung von Gruppen zu beobachten, die aufgrund verschiedener<br />

Wohnorte und Lebensmittelpunkte sich verabschieden müssen, um Busse, U-Bahnen, Taxis<br />

oder Autos aufzusuchen. Die Trennungsszenen sind dabei ganz unterschiedlicher Natur.<br />

Während es zwar auch emotionale Verabschiedungsszenen gibt, kommt es häufig zu wortlosen<br />

Verabschiedungen, obschon sich die Passagiere auf dem Schiff in einer vermeintlich starken und<br />

tief verbundenen Gemeinschaft befunden hatten 287 .<br />

Bei einigen Passagieren ist aber auch ein Festhalten an grade erlebten strukturellen Freizügigkeiten<br />

zu beobachten. So gibt es manchmal Kleingruppen, die sich entscheiden über Stunden vor<br />

dem Terminal zu lagern, um dort in eine Verlängerung der Anti-Struktur zu zelebrieren. Dort<br />

trinken sie dann die mitgebrachten Alkoholvorräte aus und machen sich viel später als der Rest<br />

der Passagiere auf den Heimweg. Dies führt dazu, dass noch Passagiere der vorherigen Reise vor<br />

dem Terminalgebäude stehen und feiern, während schon Passagiere für eine der nächsten Reisen<br />

einchecken.<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

284 Aus einer Unterhaltung mit einem Gast kurz vor der Ausschiffung. Quelle: eigene Notiz.<br />

285 Diese Geschichte kommt jedes Mal vor, wenn ich mit den Schiffen der Viking Line unterwegs war. In der<br />

Gangway des Unternehmens ist die betreffende Rolltreppe zu finden. Selbstverständlich bin ich jedes Mal zur<br />

Hilfe geeilt!<br />

286 Aus einer Gruppendiskussion. Diskutiert wurde hier grade das typische Verhalten eines/einer Schweden/Schwedin<br />

wenn man hingefallen ist und am Boden liegt. Mari meint das Schweden nicht zur freiwilligen<br />

Hilfeleistung eilen würden.<br />

287 Das lässt spekulieren, ob vielleicht die Konfrontation mit der Realität nicht mehr über die einzelnen Passagiere<br />

verrät, als ihnen lieb ist. Während der Zeit der Anonymität an Bord konnte schließlich über die eigene Identität<br />

geflunkert werden. Vielfach wurde berichtet, dass auf dem Schiff Geschichten erfunden werden, um an Bord<br />

einen guten Eindruck zu machen. Auch wurde, wie oben aufgezeigt, vorsätzlich das Schiff genutzt um seinen zu<br />

Hause gebliebenen Lebenspartner zu betrügen. So ließe sich vielleicht die These aufstellen, dass der Scham über<br />

eventuelle Vergehen an Bord durch die Übergangsphase dem Passagier bewusst gemacht werden.<br />

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