Ausgabe 06 - Goethe-Universität
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Hannes Ahbe: Die Kunst, einen Tag zu fliehen<br />
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(„you see, its the normal world again“ 284 ). War die Gemeinschaft an Bord noch verschworen, so zeigen<br />
sich doch schon in der Gangway erste Auflösungserscheinungen bezüglich ihres Zusammenhalts.<br />
Ein Ereignis wiederholte sich beim Ausstieg immer wieder an einer der Rolltreppen. Diese verbindet<br />
zwei unterschiedliche Ebenen der Gangway miteinander verbindet. Hauptnutzer dieser<br />
Einrichtung sind vor allem Personen, die einen mit Bierkisten beladenen Rollwagen mit sich führen.<br />
Aufgrund eines Konstruktionsfehlers (der Rolltreppe) passiert es häufig, dass kurz nach verlassen<br />
der Rolltreppe der Rollwagen mit der schweren Beladung das Gleichgewicht verliert und<br />
zur Seite kippt. Die obere Stiege mit Bier fällt dabei haus der Halterung und knallt auf den Boden.<br />
Dabei platzt die papierhafte Umverpackung auf und die Weißblechdosen verteilen sich auf<br />
dem Boden der Gangway. Der erschrockene Gast dem das Missgeschick passiert ist, kann aber<br />
hier nicht auf die Hilfe der (ehemaligen) Mitreisenden bauen. Diese gehen einfach mit sturem<br />
Blick weiter und kommentieren die Szene meistens nur mit einem Lächeln 285 . Scheinbar sind die<br />
Teilnehmer in der Übergangsphase schon wieder den Normen der Struktur und der ursprünglichen<br />
Mentalität näher als denen der Communitas („Ja and if you ähm lay down and no one come and<br />
help you up. Everybody just passes by“) 286 .<br />
Auch die Kleingemeinschaften, die sich während der liminalen Phase zusammengetan haben,<br />
werden im Verlauf der »rites d'agrégation« getrennt. Zwar besteht noch eine physische Gemeinschaft<br />
innerhalb der Gangway, doch schon mit Betreten des Terminals beginnt die Struktur wieder<br />
auf die Individuen einzuwirken und die Verbindung zwischen den ehemaligen Passagieren<br />
sichtbar zu bröckeln. Hier ist die Trennung von Gruppen zu beobachten, die aufgrund verschiedener<br />
Wohnorte und Lebensmittelpunkte sich verabschieden müssen, um Busse, U-Bahnen, Taxis<br />
oder Autos aufzusuchen. Die Trennungsszenen sind dabei ganz unterschiedlicher Natur.<br />
Während es zwar auch emotionale Verabschiedungsszenen gibt, kommt es häufig zu wortlosen<br />
Verabschiedungen, obschon sich die Passagiere auf dem Schiff in einer vermeintlich starken und<br />
tief verbundenen Gemeinschaft befunden hatten 287 .<br />
Bei einigen Passagieren ist aber auch ein Festhalten an grade erlebten strukturellen Freizügigkeiten<br />
zu beobachten. So gibt es manchmal Kleingruppen, die sich entscheiden über Stunden vor<br />
dem Terminal zu lagern, um dort in eine Verlängerung der Anti-Struktur zu zelebrieren. Dort<br />
trinken sie dann die mitgebrachten Alkoholvorräte aus und machen sich viel später als der Rest<br />
der Passagiere auf den Heimweg. Dies führt dazu, dass noch Passagiere der vorherigen Reise vor<br />
dem Terminalgebäude stehen und feiern, während schon Passagiere für eine der nächsten Reisen<br />
einchecken.<br />
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />
284 Aus einer Unterhaltung mit einem Gast kurz vor der Ausschiffung. Quelle: eigene Notiz.<br />
285 Diese Geschichte kommt jedes Mal vor, wenn ich mit den Schiffen der Viking Line unterwegs war. In der<br />
Gangway des Unternehmens ist die betreffende Rolltreppe zu finden. Selbstverständlich bin ich jedes Mal zur<br />
Hilfe geeilt!<br />
286 Aus einer Gruppendiskussion. Diskutiert wurde hier grade das typische Verhalten eines/einer Schweden/Schwedin<br />
wenn man hingefallen ist und am Boden liegt. Mari meint das Schweden nicht zur freiwilligen<br />
Hilfeleistung eilen würden.<br />
287 Das lässt spekulieren, ob vielleicht die Konfrontation mit der Realität nicht mehr über die einzelnen Passagiere<br />
verrät, als ihnen lieb ist. Während der Zeit der Anonymität an Bord konnte schließlich über die eigene Identität<br />
geflunkert werden. Vielfach wurde berichtet, dass auf dem Schiff Geschichten erfunden werden, um an Bord<br />
einen guten Eindruck zu machen. Auch wurde, wie oben aufgezeigt, vorsätzlich das Schiff genutzt um seinen zu<br />
Hause gebliebenen Lebenspartner zu betrügen. So ließe sich vielleicht die These aufstellen, dass der Scham über<br />
eventuelle Vergehen an Bord durch die Übergangsphase dem Passagier bewusst gemacht werden.<br />
!