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75 Jahre Sozialdemokraten in Paderborn - SPD Paderborn

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<strong>75</strong> <strong>Jahre</strong><br />

<strong>Sozialdemokraten</strong><br />

<strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong><br />

Darstellung und Dokumentation<br />

1909 - 1984


Impressum:<br />

Herausgeber: <strong>SPD</strong> Ortsvere<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>, Bahnhofstraße 32, 4790 <strong>Paderborn</strong><br />

Redaktion: Arno Klönne, Helmut Funke, Käthe Meermeier, Hartmut Reese, Ra<strong>in</strong>er R<strong>in</strong>gs<br />

Layout: Ra<strong>in</strong>er R<strong>in</strong>gs<br />

Gesamtherstellung: Junfermann - Verlag und Druckerei


Inhaltsverzeichnis<br />

Grußwort des Parteivorsitzenden Willy Brandt .................................................................................................................. 5<br />

Vorwort der Ortsvere<strong>in</strong>svorsitzenden Käthe Meermeier ................................................................................................. 7<br />

Soziale Frage, Kapitalismuskritiker und <strong>Sozialdemokraten</strong> <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> —<br />

von 1848 bis <strong>in</strong> die zwanziger <strong>Jahre</strong><br />

Nach e<strong>in</strong>em Bericht von Karl Kran, ergänzt von Arno Klönne ......................................................................................... 9<br />

Die <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> am Ende der Weimarer Republik und <strong>in</strong> der Zeit des Nationalsozialismus —<br />

Nach Aufzeichnungen, Zeitungsberichten und Gesprächen mit alten Genoss<strong>in</strong>nen und Genossen<br />

von Hartmut Reese ................................................................................................................................................................ 29<br />

Wiederaufbau und Entwicklung der <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> nach 1945<br />

Nach e<strong>in</strong>em Bericht von Karl Kran, ergänzt von Arno Klönne ......................................................................................... 43<br />

Der Ortsvere<strong>in</strong> der <strong>SPD</strong> von 1969 bis 1984<br />

von Käthe Meermeier ............................................................................................................................................................ 48<br />

Die Wiederbegründung der <strong>Paderborn</strong>er Jungsozialisten (1968/69)<br />

von Helmut Funke ................................................................................................................................................................ 70<br />

Die Zusammensetzung des Ortsvere<strong>in</strong>svorstandes seit 1969 ............................................................................................ <strong>75</strong><br />

Wahlergebnisse der <strong>SPD</strong> <strong>in</strong> der Stadt <strong>Paderborn</strong> ................................................................................................................ <strong>75</strong><br />

3


Grußwort zum <strong>75</strong>jährigen Bestehen des<br />

<strong>SPD</strong>-Ortsvere<strong>in</strong>s <strong>Paderborn</strong> am 30. November 1984<br />

Dem Ortsvere<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> gilt<br />

me<strong>in</strong> herzlicher Glückwunsch zum<br />

<strong>75</strong>jährigen Bestehen. Dazu gratuliere<br />

ich zugleich im Namen des<br />

Parteivorstandes.<br />

An erster Stelle möchte ich mich<br />

an die Jubilare und Senioren wenden:<br />

Ihnen gilt unser besonderer<br />

Dank. Durch ihre Treue zur Arbeiterbewegung<br />

und Sozialdemokratie<br />

haben sie Beispiele gesetzt, denen<br />

es nachzueifern lohnt.<br />

Danken möchte ich gleichermaßen<br />

all denen, die an der Arbeit des<br />

Ortsvere<strong>in</strong>s teilhaben und immer<br />

wieder freiwillige Aufgaben für die<br />

Partei auf sich nehmen.<br />

Wir können heute ohne Gesundbeterei,<br />

aber mit dem notwendigen<br />

Selbstbewußtse<strong>in</strong> sagen: Die <strong>SPD</strong><br />

hat wieder Tritt gefaßt. Die Zeiten,<br />

da man glaubte, uns <strong>in</strong> den Keller<br />

reden zu können, s<strong>in</strong>d vorbei. Auf<br />

unserem Weg, von den Städten und<br />

Geme<strong>in</strong>den her über die Länder<br />

neu aufzubauen, um auch für das<br />

Ganze wieder die Verantwortung<br />

übernehmen zu können, s<strong>in</strong>d wir<br />

schon e<strong>in</strong> gutes Stück vorangekommen.<br />

Und ich b<strong>in</strong> sicher, die <strong>SPD</strong><br />

wird bei den vor uns liegenden weiteren<br />

Kommunalwahlen und <strong>in</strong>sbesondere<br />

bei den Landtagswahlen im<br />

nächsten Frühjahr <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, im<br />

Saarland und <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen<br />

zeigen, daß sie sich behaupten<br />

und siegen kann.<br />

Angesichts e<strong>in</strong>er amtierenden Bundesregierung,<br />

deren Strecke zur<br />

Halbzeit von Pannen, Ungerechtigkeiten<br />

und Unzulänglichkeiten auf<br />

so ziemlich allen politischen Feldern<br />

gekennzeichnet ist, haben wir<br />

allen Grund, die sozialdemokratische<br />

Alternative zu den Konservativen<br />

klarzumachen, und die entscheidenden<br />

Themen der <strong>Jahre</strong><br />

1984/85 nicht aus den Händen zu<br />

geben. Diese Themen s<strong>in</strong>d: Kampf<br />

gegen die Arbeitslosigkeit, Stopp<br />

des Sozialabbaues, Schutz der Umwelt<br />

(und des liberalen Rechtsstaates)<br />

sowie Verteidigung des Friedens<br />

— dem nicht nur das weltweite<br />

Wettrüsten, sondern auch das<br />

Elend <strong>in</strong> der Dritten Welt zusetzt.<br />

— Die Arbeitslosen, unter ihnen<br />

erschreckend viele Jugendliche,<br />

müssen wieder <strong>in</strong> Arbeit<br />

gebracht werden. Die zu Zeiten<br />

der Konservativen steigenden<br />

Arbeitslosenzahlen zeigen: Die<br />

öffentliche Verantwortung für<br />

die Beschäftigungspolitik muß<br />

wieder größer geschrieben werden.<br />

Unsere Industrie muß technologisch<br />

Spitze se<strong>in</strong> oder wieder<br />

Spitze werden. Dazu gehört<br />

e<strong>in</strong>e energische Forschungs- und<br />

Industriepolitik.<br />

— Unser Konzept heißt: Ökologische<br />

Modernisierung der Industriegesellschaft,<br />

damit wir uns<br />

nicht unserer eigenen Lebensgrundlagen<br />

berauben, der Arbeit<br />

und der Umwelt. Die <strong>SPD</strong> ist<br />

die Partei der Arbeitnehmer,<br />

und sie hat solide Umweltprogramme.<br />

— Die CDU/CSU hat Millionen<br />

von Familien und Rentnern<br />

kräftig <strong>in</strong> die Tasche gelangt,<br />

dagegen Großverdienern — nicht<br />

zuletzt den Großagrariern statt<br />

den Kle<strong>in</strong>bauern — mit vollen<br />

Händen zugeschoben. Die <strong>SPD</strong><br />

kämpft gegen die Umverteilung<br />

von unten nach oben, sie<br />

kämpft für soziale Gerechtigkeit.<br />

— Die Bundesregierung, die mit<br />

dem Wahlkampfslogan „Frieden<br />

schaffen mit immer weniger<br />

5


Waffen" antrat, hat es nicht<br />

geschafft, unseren Spielraum zu<br />

nutzen, um im deutschen und<br />

europäischen Interesse der Konfrontation<br />

der nuklearen Supermächte<br />

entgegenzuwirken. Die<br />

<strong>SPD</strong> drängt auf Abrüstung <strong>in</strong><br />

Ost und <strong>in</strong> West, die gerade<br />

auch den Armen im Süden der<br />

Welt zugute kommen könnte.<br />

Wir bleiben die Friedenspartei <strong>in</strong><br />

unserem Land.<br />

Das s<strong>in</strong>d unsere wichtigsten Themen.<br />

Um sie überall — vor Ort,<br />

im Land, im Bund (und über die<br />

deutschen Grenzen h<strong>in</strong>aus, vor<br />

allem, wo es um Europa geht) —<br />

an den Mann und die Frau br<strong>in</strong>gen<br />

zu können, brauchen wir e<strong>in</strong>e<br />

starke, lebendige Parteiorganisation.<br />

Und die gibt es nicht ohne<br />

den lebendigen Ortsvere<strong>in</strong> und die<br />

Betriebsgruppen, die Gleichstellung<br />

der Frauen gerade auch <strong>in</strong> der politischen<br />

Arbeit, die E<strong>in</strong>beziehung<br />

der Jungen ebenso wie der Älteren.<br />

Kurz: Wir müssen unsere Organisationskraft<br />

auch dadurch stärken,<br />

daß wir neue Mitglieder und damit<br />

Mitstreiter für unsere sozialdemokratische<br />

Sache gew<strong>in</strong>nen. Ich bitte<br />

Euch deshalb alle mitzumachen,<br />

damit wir bis zur Mitte des nächsten<br />

<strong>Jahre</strong>s das Ziel e<strong>in</strong>es realen<br />

Mitgliederzuwachses von fünf Prozent<br />

erreichen können.<br />

Mir ist klar, daß dies e<strong>in</strong> ehrgeiziges<br />

Ziel ist. Aber nur wenn wir<br />

mit unseren Argumenten stark und<br />

gleichzeitig mit unserer Organisation<br />

auf der Höhe s<strong>in</strong>d, können<br />

wir bei den vor uns liegenden<br />

Wahlgängen zulegen und auch<br />

sonst unseren E<strong>in</strong>fluß stärken.<br />

Dazu gehört vor allem anderen:<br />

Nur wer vor Ort ausdauernd arbeitet,<br />

kann mit Aussicht auf Erfolg<br />

<strong>in</strong> die Ause<strong>in</strong>andersetzung der Parteien<br />

um die führende Verantwortung<br />

<strong>in</strong> Land und Bund e<strong>in</strong>treten.<br />

Deshalb kommt Eurer Arbeit im<br />

Ortsvere<strong>in</strong>, über die Kommunalpolitik<br />

h<strong>in</strong>aus, große Bedeutung zu.<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne wünsche ich Euch<br />

weiterh<strong>in</strong> viel Erfolg.<br />

Mit herzlichen Grüßen<br />

Willy Brandt<br />

6


<strong>75</strong> <strong>Jahre</strong> Ortsvere<strong>in</strong> der <strong>SPD</strong> <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> —<br />

e<strong>in</strong> Dreivierteljahr hundert Sozialdemokratie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

konservativen Stadt<br />

Diese <strong>75</strong> <strong>Jahre</strong> sollen Anlaß se<strong>in</strong><br />

zu e<strong>in</strong>er Rückbes<strong>in</strong>nung auf e<strong>in</strong><br />

Zeitalter, das geprägt war von<br />

politischen Umwälzungen größter<br />

Art, vom Leben unter verschiedensten<br />

Regierungen, unter der Verfassung<br />

des Kaiserreiches, der<br />

Demokratie von Weimar, der Diktatur<br />

des Dritten Reiches und der<br />

Verfassung der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Das Dreivierteljahrhundert<br />

von 1909 bis 1984 brachte<br />

gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />

Wandel, der das Leben des<br />

e<strong>in</strong>zelnen Bürgers tiefgreifend veränderte,<br />

man denke an Zeiten der<br />

Arbeitslosigkeit und Inflation, des<br />

Zusammenbruchs und Wiederaufbaus,<br />

zu er<strong>in</strong>nern ist an den Wandel<br />

der Berufe und Arbeitsplätze.<br />

Für die Genossen des <strong>Paderborn</strong>er<br />

Ortsvere<strong>in</strong>s bedeuteten <strong>75</strong> <strong>Jahre</strong><br />

<strong>SPD</strong> e<strong>in</strong> Leben, das geprägt war<br />

von dem Willen, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er konservativ<br />

geprägten Gesellschaft zu<br />

behaupten und die Ideen des<br />

Sozialismus zum Wohle der Bürger<br />

zur Geltung zu br<strong>in</strong>gen.<br />

In unserer Broschüre soll berichtet<br />

werden von den Erfolgen auf dem<br />

Wege zu e<strong>in</strong>er besseren Gesellschaft,<br />

Niederlagen und Rückschläge<br />

sollen nicht verschwiegen<br />

werden. Zu erwähnen s<strong>in</strong>d politische<br />

Initiativen und Aktionen der<br />

örtlichen <strong>SPD</strong>. Aber auch über das<br />

alltägliche Leben der Genossen soll<br />

berichtet werden. Deutlich wird<br />

werden, daß Menschen Geschichte<br />

erleben, erleiden und gestalten<br />

können.<br />

Die verschiedenen Zeiten konnten<br />

nicht <strong>in</strong> gleicher Intensität untersucht<br />

werden. Während für die<br />

Zeit bis <strong>in</strong> die ersten <strong>Jahre</strong> des<br />

Dritten Reiches <strong>in</strong>tensive Forschungen<br />

betrieben wurden, die<br />

auch die Zeit vor 1909 betreffen,<br />

gibt es für den größten Teil des<br />

Dritten Reiches aufgrund des Verbotes<br />

der Partei kaum Berichte.<br />

Die Zeit von 1945 bis 1969 konnte<br />

aufgrund des Fehlens e<strong>in</strong>es Forschers/e<strong>in</strong>er<br />

Forscher<strong>in</strong> nicht<br />

<strong>in</strong>tensiv bearbeitet werden. Das<br />

Schwergewicht der Darstellung<br />

nach 1969 liegt beim Ortsvere<strong>in</strong>.<br />

Dokumentiert ist die Geschichte<br />

der Anfänge der Juso AG. Die<br />

Tätigkeit der Fraktion und anderer<br />

politischer Gremien bedarf e<strong>in</strong>er<br />

weiteren Untersuchung.<br />

Gedankt sei an dieser Stelle den<br />

Genossen, die durch ihre Mitarbeit,<br />

ihre Berichte und ihre Hilfe<br />

bei der Suche nach Quellenmaterial<br />

die Arbeit an diesem Buch unterstützt<br />

haben. Erwähnt seien als<br />

Berichterstatter für die Zeit der<br />

Weimarer Republik und des Dritten<br />

Reiches die Genoss<strong>in</strong>nen und<br />

Genossen M<strong>in</strong>e Maiboom, Hubert<br />

Coprian, Johannes Isermann und<br />

Hansi Steiger. Unser Dank gilt<br />

auch allen, die durch e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle<br />

Unterstützung die Herausgabe<br />

dieses Buches ermöglicht<br />

haben.<br />

Dies Buch soll nicht nur der Rückbes<strong>in</strong>nung<br />

dienen. Aus der<br />

Beschäftigung mit der Vergangenheit<br />

können Kraft und Mut<br />

geschöpft werden, immer wiederkehrenden<br />

Enttäuschungen zum<br />

Trotz nicht nachzulassen im Bemühen<br />

für e<strong>in</strong>e Gestaltung der Gesellschaft<br />

im S<strong>in</strong>ne des demokratischen<br />

Sozialismus.<br />

Käthe Meermeier<br />

Vorsitzende<br />

7


Soziale Frage, Kapitalismuskritiker und <strong>Sozialdemokraten</strong> <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> —<br />

von 1848 bis <strong>in</strong> die zwanziger <strong>Jahre</strong><br />

Frühe „revolutionäre Umtriebe"<br />

Als sich im „Vormärz", also <strong>in</strong> der<br />

Zeit vor dem Versuch e<strong>in</strong>er bürgerlichen<br />

Revolution <strong>in</strong> Deutschland<br />

1848/49, <strong>in</strong> der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung<br />

demokratische und frühsozialistische<br />

Positionen zeigten, als<br />

dann e<strong>in</strong>e politische Bewegung die<br />

Macht der Feudalstaaten zu brechen<br />

sich anschickte, lag <strong>Paderborn</strong><br />

ke<strong>in</strong>eswegs im W<strong>in</strong>dschatten der<br />

Ereignisse. Wie Bielefeld gehörte es<br />

zu den Zentren der „revolutionären<br />

Umtriebe" <strong>in</strong> Westfalen.<br />

In <strong>Paderborn</strong> erschien <strong>in</strong> den Jahrgängen<br />

1847 und 1848 die Zeitschrift<br />

„Das Westphälische Dampfboot",<br />

verlegt von Wilhelm Crüwell,<br />

redigiert von dem Rhedaer<br />

Arzt Otto Lün<strong>in</strong>g.<br />

Das „Dampfboot" verfolgte e<strong>in</strong>en<br />

Kurs, der radikaldemokratische<br />

mit frühsozialistischen Ideen verband.<br />

Otto Lün<strong>in</strong>g hatte das Programm<br />

der Zeitschrift folgendermaßen<br />

beschrieben: „Wir gehören<br />

nicht zu der Fraktion der Liberalen,<br />

welche mit der äußeren politischen<br />

Form, dem Constitutionalismus,<br />

alles erreicht zu haben glaubt<br />

... Die Geschichte hat es deutlich<br />

gezeigt, daß der Constitutionalismus<br />

nur die Verdrängung des<br />

e<strong>in</strong>en Privilegiums durch das<br />

andere, des Stammbaums durch<br />

das Kapital war ..." Damit war<br />

die Richtung angezeigt, und das<br />

„Dampfboot" wurde zu der ersten<br />

<strong>in</strong> Deutschland ersche<strong>in</strong>enden<br />

Publikation, die den „wissenschaftlichen<br />

Sozialismus" im S<strong>in</strong>ne<br />

von Marx und Engels zu Wort<br />

kommen ließ. Im Jahr 1847<br />

brachte das „Dampfboot" den<br />

Erstdruck der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

von Karl Marx mit den „utopischen<br />

Sozialisten". Auch von<br />

Friedrich Engels erschienen <strong>in</strong> der<br />

Zeitschrift Erstveröffentlichungen.<br />

Zu dem Kreis um das „Westphälische<br />

Dampfboot" gehörten damals<br />

neben Lün<strong>in</strong>g Rudolf Rempel,<br />

Julius Meyer (Schloß Holte) und<br />

Josef Weydemeyer, e<strong>in</strong> enger<br />

Freund von Karl Marx. Nach dem<br />

Scheitern der 48er Revolution<br />

geriet die Existenz des „Dampfboots"<br />

<strong>in</strong> Vergessenheit. Lange<br />

Zeit gab es <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Bibliothek e<strong>in</strong><br />

vollständiges Exemplar der Zeitschrift,<br />

dann hat 1972 der Verlag<br />

Auvermann/Glashütten sie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em fotomechanischen Nachdruck<br />

neu vorgelegt.<br />

Otto Lün<strong>in</strong>g und der Bielefelder<br />

Rudolf Rempel wirkten nicht nur<br />

publizistisch. Sie waren maßgeblich<br />

beteiligt an der Gründung der<br />

ersten demokratischen Vere<strong>in</strong>e und<br />

traten als westfälische Delegierte<br />

9


10<br />

beim 1. Deutschen Demokratenkongreß<br />

im Juni 1848 <strong>in</strong> Frankfurt auf.<br />

Rempel gründete 1848 <strong>in</strong> Bielefeld<br />

die Wochenzeitschrift „Der Volksfreund",<br />

die sich als Organ der<br />

„sozialen Demokratie" verstand,<br />

engen Kontakt mit den damals zum<br />

ersten Mal entstehenden Arbeitervere<strong>in</strong>igungen<br />

hielt und ihrem Programm<br />

nach e<strong>in</strong>en Vorläufer für<br />

die Sozialdemokratie der siebziger<br />

<strong>Jahre</strong> des vorigen Jahrhunderts bildete.<br />

(Der <strong>Paderborn</strong>er Verlag<br />

Junfermann hat 1983 e<strong>in</strong>en Repr<strong>in</strong>t<br />

der Zeitschrift herausgebracht.)<br />

Der erste Westfälische Demokratenkongreß<br />

fand im September<br />

1848 auf E<strong>in</strong>ladung Lün<strong>in</strong>gs und<br />

Rempeis <strong>in</strong> Bielefeld statt. Der<br />

zweite Westfälische Demokratenkongreß<br />

tagte am 18./19. 11. 1848<br />

<strong>in</strong> Münster. Initiatoren waren die<br />

Demokraten-Vere<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Bielefeld<br />

und <strong>Paderborn</strong>. Auf dem Kongreß<br />

<strong>in</strong> Münster trat neben Rempel vor<br />

allem Franz Löher hervor,<br />

Gerichtsreferendar <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

und Vorsitzender des <strong>Paderborn</strong>er<br />

Demokratischen Volksvere<strong>in</strong>s.<br />

Löher war auch der erste Redakteur<br />

der „Westfälischen Zeitung",<br />

die — gleich nach Verkündung der<br />

Pressefreiheit <strong>in</strong> Preußen — ab<br />

April 1848 <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> im Verlag<br />

von Wilhelm Crüwell erschien.<br />

Diese Zeitung war <strong>in</strong> den <strong>Jahre</strong>n<br />

1848 bis 1851 das führende


aktuelle Blatt der demokratischen<br />

Bewegung <strong>in</strong> Westfalen, ab Anfang<br />

1849 erschien sie als Tageszeitung.<br />

Der Westfälische Demokratenkongreß<br />

<strong>in</strong> Münster erklärte den Bielefelder<br />

„Volksfreund" und die<br />

<strong>Paderborn</strong>er „Westfälische Zeitung"<br />

zu den offiziellen Presseorganen<br />

der Demokraten Westfalens.<br />

Im Herbst 1848 hatte das reaktionäre<br />

M<strong>in</strong>isterium Preußens mit<br />

Hilfe der Truppen Wrangeis das<br />

Berl<strong>in</strong>er Parlament ause<strong>in</strong>andergetrieben.<br />

Die westfälischen Demokraten,<br />

Löher und Rempel an der<br />

Spitze, hatten zum Widerstand<br />

hiergegen (u. a. durch SteuerverWeigerung)<br />

aufgerufen. Rempel entfloh<br />

der drohenden Verhaftung nach<br />

Frankreich; Löher wurde am<br />

10. 12. 1848 <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> verhaftet.<br />

Die <strong>Paderborn</strong>er Demokraten<br />

setzten sich der Verhaftung entgegen;<br />

es kam, wie es damals hieß,<br />

zum „Aufruhr". Zwar behielten die<br />

preußischen Regierungstruppen die<br />

Oberhand, aber die <strong>Paderborn</strong>er<br />

Bevölkerung wählte Löher noch<br />

während der Haft zum Abgeordneten<br />

für das Berl<strong>in</strong>er Parlament.<br />

Ende Februar 1849 wurde Löher<br />

entlassen und <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> triumphal<br />

empfangen. Im Dezember<br />

1849 wählten die <strong>Paderborn</strong>er<br />

Löher zum Bürgermeister; <strong>in</strong>dessen<br />

wurde er von der preußischen<br />

Regierung nicht <strong>in</strong>s Amt gelassen<br />

und auch aus dem Justizdienst verdrängt.<br />

Noch 1852, nach dem Sieg der<br />

Reaktion über die demokratische<br />

Bewegung, sagte im berühmten<br />

Kölner „Kommunistenprozeß" der<br />

berüchtigte Berl<strong>in</strong>er Polizeirat Stieber<br />

aus, daß <strong>in</strong> Ostwestfalen und<br />

speziell <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> „kommunistische<br />

Zellen" tätig seien. Geme<strong>in</strong>t<br />

war damit offenbar die Popularität,<br />

die der entschiedene Demokrat<br />

Löher immer noch bei den <strong>Paderborn</strong>er<br />

Bürgern hatte.<br />

Das Scheitern der 48er Revolution<br />

zerschlug alle Ansätze der demokratischen<br />

und frühsozialistischen<br />

Bewegung, die gerade <strong>in</strong> Ostwestfalen<br />

hoffnungsvoll sich entwickelt<br />

hatten. Auch die im Vormärz und<br />

<strong>in</strong> den <strong>Jahre</strong>n 1848/49 entstandene<br />

demokratische Presse wurde unterdrückt<br />

oder mußte — wie die<br />

„Westfälische Zeitung" — ihren<br />

Kurs verändern. Löher g<strong>in</strong>g nach<br />

Bayern und machte sich dort als<br />

wissenschaftlicher Schriftsteller<br />

e<strong>in</strong>en guten Namen. An se<strong>in</strong>e frühere<br />

Heimat er<strong>in</strong>nerte se<strong>in</strong> Werk<br />

„Geschichte des Kampfes um<br />

<strong>Paderborn</strong> 1597-1604".<br />

Verdrängte Er<strong>in</strong>nerung<br />

Der Sieg der Obrigkeitsstaaten <strong>in</strong><br />

Deutschland über die revolutionäre<br />

Bewegung von 1848/49 verdrängte<br />

die Er<strong>in</strong>nerung an die ostwestfäli-<br />

schen Demokraten und Frühsozialisten<br />

aus dem öffentlichen<br />

Bewußtse<strong>in</strong>. Die Sieger schrieben<br />

die Geschichte, und dem heimischen<br />

Geschichtsbewußtse<strong>in</strong> schien<br />

es so, als hätten Löher und<br />

Lün<strong>in</strong>g, das „Dampfboot" und die<br />

<strong>Paderborn</strong>er „Westfälische Zeitung"<br />

gar nicht existiert.<br />

Als <strong>in</strong> den 60er und 70er <strong>Jahre</strong>n<br />

des vergangenen Jahrhunderts die<br />

Sozialdemokratische Partei sich<br />

herausbildete, hatte sich die Position<br />

<strong>Paderborn</strong>s <strong>in</strong> der politischen<br />

Landschaft verändert. Die 1848/49<br />

noch mögliche Verb<strong>in</strong>dung radikalbürgerlicher<br />

und sozialistischer<br />

Richtungen schien historisch überholt.<br />

Sozialdemokratie und politischer<br />

Katholizismus organisierten<br />

sich als gegensätzliche politische<br />

Lager, was gerade für die <strong>Paderborn</strong>er<br />

Verhältnisse nicht ohne Folgen<br />

blieb. Zudem lag der <strong>Paderborn</strong>er<br />

Raum <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dustriellen<br />

Entwicklung zurück.<br />

Drei Säulen waren es, auf denen <strong>in</strong><br />

den letzten Jahrzehnten des auslaufenden<br />

19. Jahrhunderts das wirtschaftliche<br />

Leben <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

basierte: auf der geistlichen und<br />

weltlichen Verwaltung, auf der<br />

Landwirtschaft und auf den mittleren<br />

und kle<strong>in</strong>en bürgerlichen Produktions-<br />

und Handelsbetrieben.<br />

Die starken sozialen Umwälzungen<br />

<strong>in</strong> den Industriezentren waren fast<br />

11


spurlos an dem <strong>in</strong> sich ruhenden<br />

Wirtschaftsgefüge der Stadt vorübergegangen.<br />

Die Unruhe draußen<br />

schlug sich im wesentlichen nur <strong>in</strong><br />

Anordnungen der Obrigkeit und <strong>in</strong><br />

aufregenden Meldungen nieder.<br />

Verdächtige „sociale Frage"<br />

Während es <strong>in</strong> den Orten, <strong>in</strong><br />

denen sich starke arbeitsstrukturelle<br />

Umwandlungen vollzogen, zu<br />

mehr oder weniger spontanen<br />

Ansätzen der Arbeiterbewegung<br />

kam, zu „Wahlvere<strong>in</strong>en" der<br />

Sozialdemokratischen Partei oder<br />

Gewerkschaften, blieb es <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

ruhig. Nur e<strong>in</strong>e Institution<br />

erkannte <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> die Situation<br />

und handelte danach: die<br />

katholische Kirche. In Zusammenhang<br />

mit den Ideen des Bischofs<br />

Ketteier oder Adolf Kolp<strong>in</strong>gs entwickelte<br />

sie e<strong>in</strong>e Aktivität, die<br />

darauf abgestellt war, die Interessierten<br />

mit der „socialen Frage"<br />

bekannt zu machen. Warum diese<br />

Vorträge auch gehalten wurden,<br />

ergibt sich aus e<strong>in</strong>em Briefwechsel<br />

zwischen der Stadtverwaltung<br />

<strong>Paderborn</strong> und der Königlichen<br />

Regierung <strong>in</strong> M<strong>in</strong>den. Domvikar<br />

Drepper veranstaltete im <strong>Jahre</strong><br />

1878, nach dem Verbot der Sozialdemokratie<br />

durch Initiative<br />

Bismarcks, im Bürgervere<strong>in</strong> Volksversammlungen<br />

zur Besprechung<br />

der sozialen Lage.<br />

12<br />

Die Königliche Regierung fragte <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> auf Grund e<strong>in</strong>es Berichtes<br />

an, „ob sich dort e<strong>in</strong> Vere<strong>in</strong><br />

zur Bekämpfung der Social-Demokraten<br />

gebildet hat, oder ob nur<br />

unter dem Vorsitz des Propstes<br />

Nacke regelmäßige Veranstaltungen<br />

stattf<strong>in</strong>den sollen, zu welcher jeder<br />

freien Zutritt hat".<br />

Antwort der Polizei-Verwaltung<br />

der Stadt vom 2. März 1878: „Bei<br />

jeder dieser Versammlungen wird<br />

e<strong>in</strong> Vorsitzender gewählt und<br />

haben diese Zusammenkünfte den<br />

Zweck, die von den Social-Demokraten<br />

ausgesprochenen Ansichten<br />

zu widerlegen."<br />

Diese Versammlungen waren also<br />

als e<strong>in</strong>e Art „Vorbeugungsmaßnahme"<br />

gedacht; es g<strong>in</strong>g darum, die<br />

sozialen Bedürfnisse der „Kle<strong>in</strong>en<br />

Leute" im Raum des Katholizismus<br />

zu organisieren und Engagement<br />

nicht der Sozialdemokratie<br />

zuströmen zu lassen. Es entwickelte<br />

sich damals e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensives<br />

katholisches Vere<strong>in</strong>sleben, das auch<br />

Arbeiter e<strong>in</strong>schloß.<br />

Franz Hitze über Kapital<br />

und Arbeit<br />

Im <strong>Paderborn</strong>er Theologenkonvikt<br />

wurde Franz Hitze ausgebildet, der<br />

schon als Student mit sozialreformerischen<br />

Schriften hervortrat und<br />

1880 im Verlag der <strong>Paderborn</strong>er<br />

Bonifaciusdruckerei se<strong>in</strong> vielbeach-<br />

tetes Buch „Kapital und Arbeit<br />

und die Reorganisation der Gesellschaft"<br />

herausbrachte. Hitze, der<br />

später e<strong>in</strong>er der maßgeblichen<br />

katholischen Sozialpolitiker <strong>in</strong><br />

Deutschland wurde, hatte sich mit<br />

den gesellschaftskritischen Ideen<br />

der Wilhelm Hohoff und Carl von<br />

Vogelsang (als Theoretikern e<strong>in</strong>es<br />

„katholischen Antikapitalismus'')<br />

beschäftigt, aber auch mit den<br />

Analysen des Karl Marx. In se<strong>in</strong>em<br />

oben erwähnten Werk schrieb<br />

Hitze u.a.:<br />

„... Wie stehts denn jetzt mit<br />

unseren socialen Verhältnissen, wie<br />

s<strong>in</strong>d Kapital und Arbeit organisiert?<br />

Wer erhält den Löwenantheil?<br />

Um concret zu se<strong>in</strong>, müssen wir<br />

drei Kategorien <strong>in</strong> den Verhältnissen<br />

von Eigenthum und Arbeit<br />

unterscheiden: den Stand der<br />

Groß-Kapitalisten und -Grundbesitzer,<br />

den der Mittelstände (Handwerker-<br />

und Bauernstand) und<br />

endlich den Stand der Kle<strong>in</strong>besitzer<br />

und Besitzlosen (re<strong>in</strong>er Arbeitsstand).<br />

In der ersten Kategorie<br />

behauptet das Rentene<strong>in</strong>kommen<br />

das Übergewicht, <strong>in</strong> der zweiten<br />

Kategorie halten sie sich die Waage,<br />

<strong>in</strong> der dritten endlich existiert blos<br />

Arbeitse<strong>in</strong>kommen. Die Grenzen<br />

dieser Kategorien s<strong>in</strong>d sehr unbestimmt,<br />

im Großen und Ganzen<br />

trifft aber diese E<strong>in</strong>theilung zu.


Die Beziehungen dieser Kategorien<br />

und ihrer Glieder s<strong>in</strong>d geregelt<br />

durch die Concurrenz. Alle<br />

ersche<strong>in</strong>en auf dem Markte, tauschen<br />

ihre Producte aus nach den<br />

Gesetzen des Angebots und der<br />

Nachfrage: darauf beschränkt sich<br />

ihre ganze Organisation, <strong>in</strong> sich<br />

wie nach außen.<br />

Das B<strong>in</strong>demittel ist das Bedürfnis<br />

des Tausches. Angebot und Nachfrage<br />

s<strong>in</strong>d die Gesetze des Austausches,<br />

die Concurrenz besorgt die<br />

Ausführung dieser Gesetze. Auch<br />

Besitz und Arbeit s<strong>in</strong>d durch diese<br />

Gesetze bestimmt, organisiert. Es<br />

ist nun die Frage, ob diese Organisation<br />

genügt. Der ,Socialismus'<br />

leugnet das gegenüber dem Liberalismus,<br />

und wir müssen ihm Recht<br />

geben. Führen wir uns nur die<br />

Hauptanklagen vor.<br />

Die erste und bedeutungsvollste<br />

Anklage ist, daß <strong>in</strong> diesem Kampfe<br />

mit ungleichen Waffen nothwendig<br />

das größere Kapital das kle<strong>in</strong>ere<br />

aus dem Felde schlagen muß, daß<br />

damit das Rentene<strong>in</strong>kommen progressiv<br />

wachsen muß, und so mit<br />

der Scheidung von Renten- und<br />

Arbeitse<strong>in</strong>kommen auch die Kluft<br />

zwischen Kapitalisten und Arbeitern<br />

sich immer mehr vertiefen<br />

und erweitern wird. Das ist das<br />

Größengesetz des Kapitals, daß<br />

das größere das kle<strong>in</strong>ere anzieht,<br />

und diese Attractionskraft wächst<br />

progressiv mit se<strong>in</strong>em eigenen<br />

Wachsthum.<br />

Zunächst gilt's der Absorption der<br />

Mittelstände, von dem Kle<strong>in</strong>besitz<br />

gar nicht zu sprechen. Das Handwerk<br />

wird verdrängt durch die<br />

Fabrik; ,Meister' und ,Gesellen'<br />

durch ,Unternehmer' und ,Arbeiter'.<br />

Immer mehr Zweige des<br />

Handwerkes verfallen diesem Proceß.<br />

Täglich werden neue Masch<strong>in</strong>en<br />

erfunden, und diese Masch<strong>in</strong>en<br />

s<strong>in</strong>d die Hebel des Kapitals.<br />

Auch <strong>in</strong> der Landwirtschaft erhalten<br />

Masch<strong>in</strong>e und Technik immer<br />

größere Bedeutung, werden Kapital<br />

und Wissenschaft (Chemie) immer<br />

entscheidendere Factoren, denen<br />

der Fleiß des Bauern nur mühsam<br />

die Waage hält ...<br />

Das Kapital absorbirt die Mittelstände:<br />

das ist das erste Stadium;<br />

das größere Kapital absorbirt das<br />

kle<strong>in</strong>ere: das ist das zweite Stadium.<br />

Diese Entwicklung geht viel<br />

schneller als die erstere, weil die<br />

Zahl der Concurrierenden ger<strong>in</strong>ger,<br />

die technischen Bed<strong>in</strong>gungen viel<br />

entwickelter s<strong>in</strong>d, die Widerstandskraft<br />

aller, dort <strong>in</strong> Sitte und angeborener<br />

Zähigkeit wurzelnd, hier<br />

viel schwächer ist. Schon jetzt<br />

kann man diese bedrohliche Entwicklung<br />

deutlich verfolgen <strong>in</strong> dem<br />

raschen Wachsthum der Actienunternehmungen<br />

...<br />

So concentriert sich diese Produc-<br />

tion <strong>in</strong> immer wenigeren Händen,<br />

denen die Masse der unterschiedslosen'<br />

Lohnarbeiter „fremd' gegenüber<br />

steht. Der Druck wächst, die<br />

Entfremdung wächst. Auch das<br />

Unternehmen wird immer mehr zu<br />

e<strong>in</strong>er Last. Das wird dann die Vollendung<br />

e<strong>in</strong>er zweiten, der Scheidung<br />

von Kapital und Arbeit<br />

parallelen Entwicklung: die Trennung<br />

von Unternehmung und<br />

Kapital. Auch <strong>in</strong> dieser Entwicklung<br />

s<strong>in</strong>d wir bereits begriffen,<br />

schon ziemlich weit vorgerückt.<br />

Unsere Unternehmungen verfallen<br />

immer mehr <strong>in</strong> die Abhängigkeit<br />

unserer Kapitalmagnaten, der großen<br />

Banken. So verfällt die ganze<br />

Gesellschaft, Unternehmer wie<br />

Arbeiter der Herrschaft des Großkapitals<br />

..."<br />

Allerd<strong>in</strong>gs: Auch Franz Hitze g<strong>in</strong>g<br />

es, bei allem Verständnis für<br />

soziale Reform, um die Abwehr<br />

der Sozialdemokratie.<br />

Sozialdemokratie <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>?<br />

Es bestanden <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> damals<br />

noch kaum wirtschaftliche Voraussetzungen<br />

für e<strong>in</strong>e sozialdemokratische<br />

Arbeit; zudem lahmte das<br />

Sozialistengesetz jede offene Tätigkeit.<br />

E<strong>in</strong>e Aktennotiz aus dem<br />

<strong>Jahre</strong> 1886 besagt: „Sozialdemokratische<br />

Umtriebe s<strong>in</strong>d hierselbst<br />

von mir bisher nicht wahrgenommen<br />

worden und f<strong>in</strong>den hoffent-<br />

13


lieh auch <strong>in</strong> Folge hier ke<strong>in</strong>en<br />

Boden, gez. Landrat Jentzsch. "<br />

Auch <strong>in</strong> den folgenden <strong>Jahre</strong>n<br />

weisen die regelmäßigen Überwachungen,<br />

etwa beim Nachforschen<br />

nach sozialdemokratischen Druckschriften,<br />

„Fehlanzeigen" aus<br />

<strong>Paderborn</strong> auf.<br />

Aus der Zeit des Verbotes der<br />

Sozialdemokratischen Partei ist<br />

e<strong>in</strong>e Verfügung des M<strong>in</strong>isters für<br />

Handel, Gewerbe und öffentliche<br />

Arbeiten vom 27. Juni 1878 von<br />

Interesse. Sie zeigt, <strong>in</strong> welch verdammenswürdige<br />

Kategorie die<br />

preußische Beamtenschaft die<br />

sozialdemokratischen Druckschriften<br />

e<strong>in</strong>ordnete:<br />

„Es ist zu me<strong>in</strong>er Kenntnis<br />

gelangt, daß auf Bahnhöfen sozialdemokratische<br />

Zeitungen und<br />

unsittliche Schriften und Bilder<br />

sowie Photographien der Verbrecher<br />

Hödel und Nobil<strong>in</strong>g von den<br />

Kolporteuren feilgeboten werden."<br />

Der Verkauf wurde <strong>in</strong> dieser Verfügung<br />

untersagt. (Hödel und<br />

Nobil<strong>in</strong>g hatten 1877 je e<strong>in</strong> Attentat<br />

auf Kaiser Wilhelm I. ausgeführt,<br />

der Anlaß zum Sozialistengesetz.)<br />

1890 wurde das Sozialistengesetz<br />

aufgehoben. Auch unter dem<br />

Druck der illegalen Parteiarbeit der<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> hatte Bismarck<br />

die bekannten Sozialgesetze <strong>in</strong>itiiert,<br />

<strong>in</strong> der Hoffnung, den Sozial-<br />

14


demokraten den W<strong>in</strong>d aus den<br />

Segeln nehmen zu können. Aber<br />

das Rad der Geschichte drehte sich<br />

zugunsten der Sozialdemokratie<br />

weiter.<br />

Um 1900, nachdem die Prosperität<br />

der „Gründerjähre" endgültig ausgelaufen<br />

war, tat sich auch <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> etwas. Da wird <strong>in</strong> den<br />

Polizeiakten der Lohgerber Johann<br />

Modic aus Brundorf, Bezirk Laibach,<br />

Land Kra<strong>in</strong> (dem heutigen<br />

jugoslawischen Ljubljana),<br />

genannt. E<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>er Gerber<br />

petzt bei der Polizei, dieser Johann<br />

Modic wiegele <strong>in</strong> der Gerberei<br />

Sandhage die Leute auf und halte<br />

Reden mit dem Ziel, höheren<br />

Lohn zu fordern. Die Nachforschungen<br />

verliefen im Sand, da<br />

Modic bald darauf aus <strong>Paderborn</strong><br />

verzog. E<strong>in</strong>e fragende Randbemerkung<br />

auf der Meldung sagt aber<br />

deutlich, woh<strong>in</strong> man den Modic<br />

gerne piaziert hätte: „Sozialdemokratischer<br />

Agitator?"<br />

Der erste Paukenschlag<br />

Dann aber, am 26. November 1900,<br />

kommt der erste wirkliche „Paukenschlag".<br />

Mit aufgeregter Sachlichkeit<br />

berichtet der Polizeiwachtmeister<br />

Garisch: „Wie ich <strong>in</strong><br />

Erfahrung gebracht habe, soll auch<br />

gestern nachmittag gegen 3 Uhr im<br />

Ritterschen Lokal e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Versammlung,<br />

die mehr den Charakter<br />

e<strong>in</strong>er Besprechung trug, stattgefunden<br />

haben. An dieser haben ca. 8<br />

Personen teilgenommen, darunter<br />

Stadtverordneter Schuhmann aus<br />

Bielefeld, welcher auch der Verleger<br />

der sozialdemokratischen<br />

,Volkswacht' se<strong>in</strong> soll, ferner der<br />

Redakteur der ,Volkswacht', Hoffmann,<br />

aus Bielefeld, der Kunsttischler<br />

Schulte von hier usw. Es<br />

soll von Stimmzetteln und Flugblättern<br />

gesprochen worden se<strong>in</strong>.<br />

Offenbar handelte es sich um e<strong>in</strong>e<br />

Agitation zur bevorstehenden<br />

Reichstagswahl."<br />

Sofortige Untersuchung auf Grund<br />

des Versammlungsgesetzes von<br />

1850. Lag e<strong>in</strong> Verstoß dagegen<br />

vor, da die Versammlung nicht<br />

gemeldet war?<br />

Tischler Konrad Schulte, Westernmauer<br />

76, wird vernommen. Tenor<br />

der Vernehmung: „Ich weiß nicht<br />

mehr, was gesprochen worden ist. "<br />

Frl. Anna Honervogt sagt aus:<br />

„Am 25. November waren mehrere<br />

fremde Gäste im Lokal. Sie g<strong>in</strong>gen<br />

<strong>in</strong>s Zimmer und ich habe das Bier<br />

h<strong>in</strong>gebracht. Als ich das Bier auftrug,<br />

wurde von Flugblättern und<br />

Stimmzetteln gesprochen."<br />

Endgültiger Aktenvermerk: „Strafbare<br />

Handlung liegt nicht vor."<br />

Dann sche<strong>in</strong>t wieder e<strong>in</strong>ige Zeit<br />

Ruhe gewesen zu se<strong>in</strong>. Auf Grund<br />

des „Dreiklassenwahlrechts", nach<br />

dem die Bürger <strong>in</strong> drei Wahlgrup-<br />

pen gemäß ihrem Steueraufkommen<br />

e<strong>in</strong>geteilt worden waren, hatten<br />

die <strong>Sozialdemokraten</strong> auch <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> ke<strong>in</strong>e Aussicht, jemals<br />

e<strong>in</strong>en Vertreter für den preußischen<br />

Staat durchzubr<strong>in</strong>gen. Dies war <strong>in</strong><br />

den kommenden <strong>Jahre</strong>n Hauptangriffspunkt<br />

der sozialdemokratischen<br />

Agitationsarbeit, verstieß es<br />

doch gegen e<strong>in</strong>e wesentliche demokratische<br />

Forderung, die Gleichheit<br />

der Wahl.<br />

Inzwischen hatten sich strukturelle<br />

Wandlungen <strong>in</strong> der <strong>Paderborn</strong>er<br />

Wirtschaft vollzogen. Es waren<br />

Industriebetriebe entstanden, Neugründungen<br />

standen kurz bevor.<br />

Der Bogen reichte von den Werkstätten<br />

der Eisenbahn bis zu holzverarbeitenden<br />

Betrieben. Der<br />

festere Zusammenschluß der<br />

<strong>SPD</strong>-Parteifreunde stand an,<br />

zumal die Freien Gewerkschaften<br />

vorgearbeitet hatten. Besonders<br />

aktiv muß <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> der Zentralverband<br />

der Zimmerer Deutschlands<br />

gewesen se<strong>in</strong>, der sich bei<br />

Bobbert <strong>in</strong> der Grube seßhaft<br />

gemacht hatte. Zu e<strong>in</strong>er solchen<br />

Versammlung sagt der Gewerkschaftssekretär<br />

Friedrich Werner,<br />

Ludwigstraße, von den „Christlichen"<br />

am 5. 1. 1910 folgendes<br />

aus: „Soweit ich <strong>in</strong>formiert b<strong>in</strong>,<br />

verkehren <strong>in</strong> der Wirtschaft Bobbert<br />

schon seit <strong>Jahre</strong>n Mitglieder<br />

sozialdemokratischer Vere<strong>in</strong>e, so<br />

15


jungen Leute, die sich dort an<br />

Sonnabenden sammeln, als e<strong>in</strong><br />

„derartiger Vere<strong>in</strong>" anzusehen<br />

seien. Die Namen habe er leider<br />

nicht erfahren können.<br />

Was die Polizei nicht wußte —<br />

oder auch nicht wahrhaben wollte:<br />

E<strong>in</strong>e Fühlungnahme bestand zu<br />

diesem Zeitpunkt bereits. E<strong>in</strong> Jahr<br />

später nahmen die losen Zusammenkünfte<br />

festere Formen an.<br />

Die alte „Unterkunft" der <strong>Paderborn</strong>er <strong>Sozialdemokraten</strong>:<br />

Gaststätte Bobbert (heute).<br />

daß me<strong>in</strong>er Ansicht nach das<br />

Lokal Bobbert als allgeme<strong>in</strong>er<br />

Unterkunftsort für die Sozialdemokratie<br />

gilt. Ob dort auch die üblichen<br />

Monatsversammlungen abgehalten<br />

werden, ist mir unbekannt. "<br />

Ähnliches erklärt der Zimmermann<br />

Ferd<strong>in</strong>and Altmicks, W<strong>in</strong>friedstraße<br />

21: „ Unter anderem verkehrt<br />

dort der Ste<strong>in</strong>setzer-, Malerund<br />

Holzverarbeitungsvere<strong>in</strong> der<br />

Freien Gewerkschaften."<br />

Da wir ke<strong>in</strong>e genauen Unterlagen<br />

mehr über die Gründung e<strong>in</strong>es<br />

<strong>SPD</strong>-Wahlvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

besitzen, s<strong>in</strong>d diese beiden H<strong>in</strong>weise<br />

wichtig für die Fixierung des<br />

Datums — von der Er<strong>in</strong>nerung der<br />

alten Ortsvere<strong>in</strong>smitglieder abgesehen.<br />

Zwei <strong>Jahre</strong> vorher meldete<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

der Polizei<strong>in</strong>spektor Schultz am<br />

2. 3. 1908:<br />

„In der Gastwirtschaft He<strong>in</strong>rich<br />

Försterl<strong>in</strong>g, Bahnhofstr. 8, soll der<br />

Rauchklub .Blauer Dunst' an<br />

jedem zweiten Sonnabend e<strong>in</strong>e Sitzung<br />

abhalten oder doch wenigstens<br />

e<strong>in</strong>e Zusammenkunft haben.<br />

Die nächste soll morgen se<strong>in</strong>. In<br />

Wirklichkeit soll es sich um e<strong>in</strong>en<br />

sozialdemokratischen Arbeitervere<strong>in</strong><br />

etc. handeln. Die obige<br />

Bezeichnung dient nur als Deckmantel.<br />

Herrn Polizeiwachtmeister<br />

Saxowski zur Anstellung unauffälliger<br />

Recherchen und Bericht <strong>in</strong><br />

acht Tagen."<br />

Zwar meldet Saxowski nach acht<br />

Tagen, daß e<strong>in</strong> solcher Rauchklub<br />

besteht, aber er bezweifelt, daß die<br />

Der „Vater" der <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong><br />

Hier e<strong>in</strong>ige mündliche Überlieferungen<br />

von alten <strong>Paderborn</strong>er<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong>:<br />

E<strong>in</strong> Name aus jener Zeit verdient<br />

besondere Erwähnung: Christoph<br />

Eggers. Dieser am 2. Februar 1857<br />

<strong>in</strong> Harburg geborene Gerbergeselle<br />

hatte sich schon während des<br />

Sozialistengesetzes zur Idee des<br />

Sozialismus bekannt. Über die<br />

Städte Pommerns nach Süddeutschland<br />

führte der Weg, den<br />

er mit se<strong>in</strong>er treuen Lebensgefährt<strong>in</strong><br />

und se<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern zog. Im<br />

<strong>Jahre</strong> 1904 fand er <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

Arbeit und Unterkunft. Manche<br />

wandernden Gesellen, wie Karl<br />

Schreck, hatten bereits für den<br />

Sozialismus geworben. Untere<strong>in</strong>ander<br />

hatten sie jedoch nur selten<br />

e<strong>in</strong>e feste Verb<strong>in</strong>dung. In <strong>Paderborn</strong><br />

entstand mit Christoph<br />

Eggers e<strong>in</strong> Kreis von Ges<strong>in</strong>nungsfreunden.<br />

Eggers entwickelte e<strong>in</strong>e<br />

16


Christoph Eggers, der „Vater"<br />

der <strong>Paderborn</strong>er Sozialdemokratie.<br />

Unter se<strong>in</strong>er Leitung schlossen sich<br />

deren <strong>Paderborn</strong>er Freunde im<br />

<strong>Jahre</strong> 1909 zur Parteiarbeit<br />

zusammen. Tarnbezeichnung der<br />

Zusammenkünfte: „Rauchklub<br />

Blauer Dunst" oder „Blaue Wolke".<br />

erstaunliche Aktivität. Neben der<br />

Kassierung der Parteibeiträge hatte<br />

er auch die Zahlstelle der Metallarbeiter,<br />

Holzarbeiter und anderer<br />

Gewerkschaften übernommen. Die<br />

Gewerkschaft der Buchdrucker war<br />

durch die vielen aus der Fremde<br />

zugereisten Arbeiter des graphischen<br />

Gewerbes verhältnismäßig<br />

stark.<br />

Der Vertrieb von Parteiliteratur —<br />

wie der Bielefelder „Volkswacht"<br />

und des „Wahren Jakobs" — g<strong>in</strong>g<br />

durch se<strong>in</strong>e Hand. Das Austragen<br />

der Zeitungen hatten se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der<br />

übernommen, die deswegen manchen<br />

Strauß <strong>in</strong> der Schule auszufechten<br />

hatten. Es waren zunächst<br />

nur e<strong>in</strong>e Handvoll Exemplare der<br />

„Volkswacht".<br />

Rauchclub „Blauer Dunst"<br />

Der erste Zusammenschluß der<br />

Ges<strong>in</strong>nungsfreunde erstand unter<br />

dem Namen „Rauchclub Blauer<br />

Dunst", der 1909 als sozialdemokratischer<br />

Vere<strong>in</strong> fest konstituiert<br />

wurde. Gesellige Zusammenkünfte<br />

waren bei Büxe, Bahnhofstr. (im<br />

obengenannten Polizeibericht ist<br />

die Gaststätte Försterl<strong>in</strong>g mit diesem<br />

Lokal identisch!) und bei<br />

Bobbert <strong>in</strong> der Grube. 1909 darf<br />

also mit Fug und Recht als Beg<strong>in</strong>n<br />

der Tätigkeit des <strong>SPD</strong>-Ortsvere<strong>in</strong>s<br />

<strong>Paderborn</strong> angesehen werden.<br />

Höhepunkte waren die Maifeiern.<br />

Gute Beteiligung wiesen auch die<br />

Sommerausflüge auf, die e<strong>in</strong><br />

Zusammentreffen mit den Arbeitern<br />

der Neuenbekener Glashütte<br />

vermittelten. Der E<strong>in</strong>satz der Parteifreunde<br />

bei den Wahlkämpfen<br />

forderte von diesen viele Opfer an<br />

Zeit und Geld. Die Flugblattverteilung<br />

war nicht ungefährlich. An<br />

manchen Orten mußte sie abgebro-<br />

chen werden. In der Zeit von<br />

1908 bis 1912 war es e<strong>in</strong>e Mutprobe,<br />

sich zur Sozialdemokratie<br />

zu bekennen.<br />

Wie recht der Berichterstatter hat,<br />

erhärtet e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne Polizeimeldung<br />

vom 11. 12. 1911. Der Polizeisergeant<br />

Rüter meldet: „Flugblätter<br />

mit Wahlaufrufen der<br />

Sozialdemokratie, betitelt ,Reichstagswahl<br />

1912', s<strong>in</strong>d am Freitag,<br />

8. 12. (Maria Empfängnis) <strong>in</strong><br />

Wewer, Nordborchen und Kirchborchen<br />

und am Sonntag, 10. 12.,<br />

<strong>in</strong> Büren und Geseke verteilt worden<br />

... Die Verteilung hat ansche<strong>in</strong>end<br />

durch hiesige E<strong>in</strong>wohner<br />

stattgefunden. Me<strong>in</strong>e Beobachtungen<br />

haben ergeben, daß am Sonntag,<br />

10. d. M., 10 Mann vom hiesigen<br />

Hauptbahnhof nach Büren<br />

gefahren s<strong>in</strong>d. Dort sollen sie<br />

bereits um 8 Uhr mit der Verteilung<br />

fertig geworden se<strong>in</strong>. Die Leitung<br />

der Verteilung sche<strong>in</strong>t der<br />

Tischlergeselle Mart<strong>in</strong> Petersen,<br />

geb. 21. 3. 1891 zu Schleswig,<br />

ledig, hier, Paderberg 2, bei<br />

Bäcker Bade wohnhaft, <strong>in</strong> Händen<br />

zu haben. Mitläufer ist u. a. auch<br />

der Tischler geselle Erich Ress<strong>in</strong>g,<br />

geb. Im 12. 3. 1893 zu Bischofswerda<br />

<strong>in</strong> Sachsen, Königstr. 76,<br />

wohnhaft. Ress<strong>in</strong>g arbeitet bei dem<br />

Tischlermeister Welle, Bahnhofstr.<br />

78. Die Arbeitsstelle des Petersen<br />

ist mir nicht bekannt. "<br />

17


E<strong>in</strong>e weitere Meldung des Polizeisergeanten<br />

Hirt (von den Überwachten<br />

gutmütig „der gute Hirt"<br />

genannt) vom 24. 12. 1911: „In<br />

der Nacht von Samstag auf Sonntag,<br />

den 23ten zum 24ten, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

hiesiger Stadt Flugblätter, welche<br />

anliegen, verteilt worden:<br />

Nr. I vom Centrum<br />

Nr. II ,Frohe Botschaft von der<br />

Sozialdemokratie'. — Letztere sollen<br />

von e<strong>in</strong>em Schlosser, welcher<br />

bei Atorf und Proppe beschäftigt<br />

ist, und e<strong>in</strong>em tau,p 'stummen<br />

Schuhmacher, welcher bei Auerbach<br />

(damals e<strong>in</strong>e Schuhfabrik <strong>in</strong><br />

der Riemekestraße) beschäftigt se<strong>in</strong><br />

soll, verteilt worden se<strong>in</strong>. "<br />

Wenn der „gute Hirt" noch lebte,<br />

könnten wir ihm heute den Namen<br />

des Schlossers verraten: Es war<br />

Willi Ahrendt, später Stadtverordneter<br />

und zuletzt Meister auf dem<br />

Zementwerk „Atlas". Dieses<br />

„Geheimnis" lüftete fast 50 <strong>Jahre</strong><br />

nach der „Tat" He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g.<br />

Von historischem Interesse ist der<br />

Polizeibericht des Polizeisergeanten<br />

Rüter vom 14. 12. 1911:<br />

„Bericht über den Vere<strong>in</strong> der<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> <strong>in</strong> hiesiger Stadt.<br />

Der Vere<strong>in</strong> besteht zur Zeit aus 40<br />

Mitglieder und haben ihr Versammlungslokal<br />

bei den Wirt Ernst<br />

Siegmund im Bürgerlichen Brauhaus,<br />

II. Etage. Der Vere<strong>in</strong> hat<br />

alle 14 Tage Versammlung, jedes<br />

18<br />

Mitglied zahlt pro Woche (!) 60<br />

Pfennig und 10 Pfennig für den<br />

Wirt. Der Vere<strong>in</strong> soll seit 4 Monaten<br />

bei Siegmund die Versammlungen<br />

abgehalten haben. Am Montag,<br />

25. 12. 1911, f<strong>in</strong>det des nachmittags<br />

4 bis 7 1/2 Uhr im Vere<strong>in</strong>slokal<br />

Weihnachtsbescherung<br />

der Mitglieder statt. Die Hauptversammlung<br />

ist am 31. 12. 1911,<br />

abends, soweit ich erfahren habe,<br />

um 7 1/2 Uhr im Vere<strong>in</strong>slokal. "<br />

Abgesehen von der Mitgliederzahl<br />

ist dieser Bericht bemerkenswert,<br />

weil er den Mitgliedsbeitrag angibt.<br />

Bei der damaligen Kaufkraft der<br />

Mark waren 60 Pfennig pro<br />

Woche e<strong>in</strong>e hohes Opfer für die<br />

oft schlecht entlohnten Arbeiter.<br />

Zum Vergleich: Für e<strong>in</strong>en steifen<br />

Grog zahlte man damals e<strong>in</strong>en<br />

Groschen!<br />

Um bei dem Bericht Rüters zu<br />

bleiben: An den folgenden Tagen<br />

wurden der Wirtschaftsverwalter<br />

Ernst Siegmund, 37 <strong>Jahre</strong> alt,<br />

Liboristraße 5, und der Wirt Wilhelm<br />

Schwarze, Liboristraße 5,<br />

vorgeladen. Ke<strong>in</strong>er von beiden<br />

hatte von e<strong>in</strong>er Versammlung e<strong>in</strong>e<br />

Ahnung. Wilhelm Schwarze me<strong>in</strong>te<br />

seelenruhig: „Bei mir verkehren<br />

nur die christlichen Buchdrucker<br />

— Vorsitzender Bohle — und<br />

manchmal der Brieftaubenvere<strong>in</strong>."<br />

Diese Abfuhr ließ den eifrigen<br />

Polizeisergeanten nicht ruhen. Er<br />

recherchierte weiter mit bohrendem<br />

Beamten-Diensteifer: „Der Sozialdemokratische<br />

Vere<strong>in</strong>, welcher se<strong>in</strong><br />

Lokal bei dem Wirt Ernst Siegmund,<br />

hier, <strong>in</strong> der Liboristraße<br />

hatte, ist seit dem 1. Feiertag, den<br />

25. Dezember, aufgehoben. Verpächter<br />

Siegmund hat dem Vere<strong>in</strong><br />

gesagt, daß er den Vere<strong>in</strong> nicht<br />

mehr dulden dürfte, weil der Herr<br />

Bischof und die Paters ihm sonst<br />

um se<strong>in</strong>e Concession helfen. Die<br />

Feier hat an dem genannten Tag<br />

nicht stattgefunden, vorläufig hat<br />

der Vere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Lokal."<br />

Man spürt förmlich, wie böse der<br />

Wackere darüber war, daß die<br />

amtlichen Protokolle über die Aussagen<br />

Siegmunds und Schwarzes<br />

anders lauteten.<br />

Um zum Abschluß dieses Komplexes<br />

noch e<strong>in</strong>mal auf das Geldopfer<br />

der Mitglieder zurückzukommen:<br />

1903 — also nur e<strong>in</strong>ige <strong>Jahre</strong> früher<br />

— war <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> von<br />

wohlhabenden Bürgern e<strong>in</strong> bürgerliches<br />

„Sociales Kränzchen"<br />

gegründet worden. Dieses honorige<br />

„Kränzchen" hatte sich zum Ziel<br />

gesetzt, bei den Teilnehmern das<br />

Verständnis „für die socialen Fragen<br />

und Aufgaben unserer Zeit zu<br />

fordern." Jedes Mitglied zahlte im<br />

<strong>Jahre</strong> nur zwei Mark Beitrag. Die<br />

Zahlung von zwei Mark pro Vierteljahr<br />

schien den Kränzchen-Leuten<br />

zu hoch. Deshalb wurden die


Statuten entsprechend geändert!<br />

Unser Gewährsmann — Karl<br />

Denkner — teilte folgende Wahlergebnisse<br />

vor dem ersten Weltkrieg<br />

mit, die die damalige Lage der<br />

Sozialdemokratie <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

beleuchten: Im Wahlkreis <strong>Paderborn</strong>-Buren<br />

entfielen im Jahr 1903<br />

auf den Vorschlag der <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

192 Stimmen = 1,4 Prozent;<br />

1907: 168 Stimmen =<br />

1 Prozent; 1912: 166 Stimmen =<br />

0,9 Prozent der abgegebenen Stimmen.<br />

Daß die Handvoll aktiver<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> damals nicht<br />

verzweifelte, mutet heute wie e<strong>in</strong><br />

Wunder an.<br />

Bis zum Beg<strong>in</strong>n des ersten Weltkrieges<br />

verzeichnet die Polizei noch<br />

e<strong>in</strong>ige Flugblattaktionen <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>.<br />

Dann war vier <strong>Jahre</strong> lang<br />

jede politische Tätigkeit gelähmt.<br />

E<strong>in</strong>e neue Zeit beg<strong>in</strong>nt<br />

Die politischen Umwälzungen nach<br />

der Novemberrevolution 1918<br />

schlugen auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> große<br />

Wellen. Die e<strong>in</strong>gezogenen <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

kehrten nach und nach<br />

zurück. Der Freundeskreis war<br />

stark gelichtet. Doch diese Lücken<br />

wurden jetzt drei- und vierfach<br />

ausgefüllt von neuen Mitgliedern,<br />

denen auf Grund der E<strong>in</strong>führung<br />

des gleichen Wahlrechts <strong>in</strong> Preußen<br />

und der Pressefreiheit sowie der<br />

Versammlungsfreiheit die Möglich-<br />

Karl Denkner — sozialdemokratisches<br />

Mitglied des <strong>Paderborn</strong>er<br />

Volksrates<br />

keit gegeben war, ihre Forderungen<br />

und Me<strong>in</strong>ungen öffentlich zu<br />

vertreten. Aber aller Anfang war<br />

schwer.<br />

Karl Denkner berichtet: „Als ich<br />

am 9. November 1918 die Westernstraße<br />

entlangg<strong>in</strong>g, stand am E<strong>in</strong>gang<br />

zur Westernmauer e<strong>in</strong> Russe,<br />

den die Soldaten aus dem Gefängnis<br />

<strong>in</strong> der Königstraße befreit hatten.<br />

Mit se<strong>in</strong>em Gepäck stand er<br />

nun <strong>in</strong> der neugewonnenen Freiheit<br />

und rief verzweifelt: ,Hat sich was<br />

mit Freiheit, weiß ich nicht<br />

woh<strong>in</strong>.' Diese Worte konnten als<br />

Leitsatz für das neue Beg<strong>in</strong>nen<br />

nach 1918 generell gelten. "<br />

Es wurden nun die Wahlen zur<br />

Nationalversammlung, für die<br />

Landes-, Kreis- und Geme<strong>in</strong>deparlamente<br />

fällig. In <strong>Paderborn</strong> wurden<br />

zuerst die Arbeiter <strong>in</strong> den<br />

Eisenbahnbetrieben angesprochen.<br />

Für die Bediensteten des AW <strong>Paderborn</strong>-Haupt<br />

ergab sich die<br />

Überraschung, daß jeder das Neueste<br />

am Morgen auf se<strong>in</strong>em<br />

Arbeitsplatz vorfand. „He<strong>in</strong>zelmännchen"<br />

hatten <strong>in</strong> der Nacht<br />

jeden Werkplatz mit Flugblättern<br />

belegt. Arbeiter dieser Betriebe,<br />

auch aus den Werkstätten Stadler,<br />

versorgten die Dörfer der Kreise<br />

<strong>Paderborn</strong> und Büren mit Material<br />

der <strong>SPD</strong>.<br />

Dann die erste große Versammlung<br />

<strong>in</strong> Hesters Volkshalle: Freund<br />

Schreck referierte; auf der Galerie<br />

machte sich der deutschnationale<br />

Major von Selas<strong>in</strong>sky bemerkbar.<br />

Bei dem Rededuell dieser Kämpen<br />

wirkten alle Anwesenden mit. Die<br />

Versammlung war e<strong>in</strong> großer<br />

Erfolg für die Sozialdemokratie.<br />

Die Festigung der Organisation<br />

begann. Mitgliederversammlungen<br />

waren bei Lohmann <strong>in</strong> der Bahnhofstraße.<br />

In kle<strong>in</strong>erem Kreise<br />

machte man sich mit den Theorien<br />

und Grundsätzen der Partei vertraut.<br />

Die „Geschichte des Sozialismus"<br />

von M. Beer bildete die<br />

Grundlage.<br />

19


Im Haus Wigbertstr. Nr. 13 fanden<br />

sich um diese Zeit bildungshungrige<br />

junge Leute zusammen,<br />

um sich mit den neuen Ideen vertraut<br />

zu machen. Als Sozialistische<br />

Arbeiterjugend fanden sie<br />

Anschluß an diese Organisation.<br />

Mit der Novemberrevolution waren<br />

die Arbeiter- und Soldatenräte<br />

gebildet worden. Jedoch konnte<br />

diese Periode nur e<strong>in</strong> Übergang<br />

se<strong>in</strong>, bis die rechtlichen Voraussetzungen<br />

für e<strong>in</strong>e reguläre Selbstverwaltung<br />

geschaffen waren.<br />

Bereits am 20. November 1918 bildete<br />

sich <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> der „Volksrat",<br />

der sich die Aufgabe stellte,<br />

daß <strong>in</strong> der Stadt die Volksrechte<br />

gewahrt blieben, die durch die<br />

staatliche Umwälzung errungen<br />

wurden. 1. Vorsitzender des Volksrates<br />

war Eisenbahnobersekretär<br />

Ernst Strüf<strong>in</strong>g. In diesem Volksrat<br />

wirkten Bürger aller Parteien mit.<br />

Jedem wurde e<strong>in</strong>e Aufgabe zugewiesen,<br />

z.B. die Fleischversorgung,<br />

die Brot- oder Mehlversorgung<br />

sicherzustellen. Unter den weiteren<br />

Mitgliedern dieses 78 Mitglieder<br />

zählenden Rates befand sich —<br />

ohne genaueren Geschäftsbereich<br />

— Karl Denkner.<br />

Kommunal wähl vom 2. März 1919<br />

Der Volksrat wurde e<strong>in</strong>ige Monate<br />

später abgelöst durch die ordentlich<br />

gewählte Stadtverordnetenver-<br />

Flugblatt des Arbeiter- und Soldatenrates <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

20


Sammlung, die zum ersten<br />

Male am 29. März 1919 zusammentrat.<br />

Hier das Ergebnis der Kommunalwahl<br />

vom 2. März 1919, der ersten<br />

nach dem Umsturz: 12 421 Stimmen<br />

wurden <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> abgegeben.<br />

Davon entfielen 8 222 auf das<br />

Zentrum, 617 auf die Landwirtepartei,<br />

1 330 auf die Bürgerpartei,<br />

528 auf die Deutschnationalen,<br />

1 180 auf die <strong>Sozialdemokraten</strong>,<br />

643 auf die Kriegsbeschädigten.<br />

Das Zentrum erhielt <strong>in</strong> dem von<br />

27 auf 36 Sitze vergrößerten Gremium<br />

26 Sitze, vier die Bürgerpartei,<br />

drei die <strong>Sozialdemokraten</strong>. Die<br />

übrigen Parteien erhielten je e<strong>in</strong><br />

Mandat. Zum ersten Male <strong>in</strong> der<br />

Geschichte <strong>Paderborn</strong>s zogen auch<br />

Frauen <strong>in</strong> das Rathaus e<strong>in</strong> und —<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong>. Die drei sozialdemokratischen<br />

Stadtverordneten<br />

waren Gerber Christoph Eggers,<br />

Werkführer a.D. Max Gehrmann<br />

und Eisenbahnobersekretär Ernst<br />

Strüf<strong>in</strong>g. Die Arbeit der Gewerkschaften<br />

wurde nach 1918 stark<br />

forciert. In den großen Betrieben,<br />

<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> besonders auf den<br />

Ausbesserungswerken der Reichsbahn,<br />

gewannen die Gewerkschaften<br />

stark an Boden. Der 1916<br />

gegründete Deutsche Eisenbahnerverband<br />

erhielt Anfang 1919 durch<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

e<strong>in</strong>en eifrigen Werber. In der<br />

ersten Betriebsversammlung des<br />

RAW Nordbahnhof wurde er zum<br />

Betriebsobmann gewählt. (Nebenbei:<br />

Damals arbeiteten im RAW<br />

Nord 2000 Mann <strong>in</strong> Doppelschichten!)<br />

Lück<strong>in</strong>g, am 22. April 1884<br />

<strong>in</strong> Neuenbeken geboren, kam 1907<br />

nach <strong>Paderborn</strong> und war bereits<br />

vor dem ersten Weltkrieg im<br />

<strong>Paderborn</strong>er Bund der Eisenbahnhandwerker<br />

tätig.<br />

Die Spaltung der Sozialdemokratie<br />

<strong>in</strong> <strong>SPD</strong> und U<strong>SPD</strong> hatte sich <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> nicht stark bemerkbar<br />

gemacht. Dom<strong>in</strong>ierend waren die<br />

„Mehrheitssozialisten". Mitte 1924<br />

kam es <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> zu e<strong>in</strong>er<br />

friedlichen E<strong>in</strong>igung der beiden<br />

„fe<strong>in</strong>dlichen Brüder". Die beiden<br />

Gruppen wurden verschmolzen.<br />

1. Vorsitzender wurde He<strong>in</strong>rich<br />

Lück<strong>in</strong>g, den 2. Vorsitz übernahm<br />

von der früheren U<strong>SPD</strong> der Dreher<br />

Georg Gruber. Dieser zog 1926<br />

als Ersatzmann für den 1924 <strong>in</strong> die<br />

Stadtverordnetenversammlung<br />

gewählten Gewerkschaftssekretär<br />

He<strong>in</strong>rich Stahlberg <strong>in</strong>s Rathaus<br />

e<strong>in</strong>.<br />

E<strong>in</strong> Kapitel „Pressefreiheit"<br />

Obwohl die Sozialdemokratie nach<br />

dem Kriege gezeigt hatte, daß sie<br />

e<strong>in</strong>e staatstragende Partei war,<br />

weigerten sich die damals <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> ersche<strong>in</strong>enden Zeitungen,<br />

der „<strong>Paderborn</strong>er Anzeiger"<br />

und das „Westfälische Volksblatt",<br />

den <strong>Paderborn</strong>er <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

und ihrer Arbeit unparteiische<br />

Beachtung zu schenken. Das zentrumsorientierte<br />

„Volksblatt" wies<br />

darüber h<strong>in</strong>aus auch bezahlte<br />

Anzeigen für sozialdemokratische<br />

Versammlungen zurück.<br />

E<strong>in</strong> besonderes Schlaglicht auf<br />

diese Situation wirft e<strong>in</strong> Bericht<br />

über die am 11. April 1919 <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> abgehaltene Hungerdemonstration,<br />

der im „<strong>Paderborn</strong>er<br />

Anzeiger" erschien. Nachdem vor<br />

Tausenden von <strong>Paderborn</strong>ern mehrere<br />

Reden vor dem Rathaus<br />

gehalten worden waren, wollten<br />

die Demonstranten <strong>in</strong> die Rosenstraße<br />

ziehen und dort „Krach<br />

schlagen". Meldete der „Anzeiger":<br />

„Dem Vorhaben, wegen<br />

e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> sozialdemokratischen<br />

Parteifrage vor dem ,Volksblatt'<br />

zu demonstrieren, wurde von e<strong>in</strong>sichtiger<br />

Seite widersprochen,<br />

zumal e<strong>in</strong> Vertreter des ,Volksblattes',<br />

halbwegs e<strong>in</strong>en ,Gang nach<br />

Canossa' machend, versprach, daß<br />

bis zur E<strong>in</strong>holung e<strong>in</strong>es neuen<br />

(Zentrums-)Parteibescheides<br />

Anzeigen der <strong>SPD</strong> aufgenommen<br />

würden."<br />

Damals entschloß sich die Bielefelder<br />

„Volkswacht", <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

e<strong>in</strong> Kopfblatt unter dem Titel<br />

„Der Paderbote" herauszugeben,<br />

um der <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> wachsenden<br />

21


Sozialdemokratie das publizistische<br />

Echo zu verschaffen. Die Not der<br />

kommenden <strong>Jahre</strong> ließ das Kopfblatt<br />

jedoch wieder e<strong>in</strong>gehen. (1946<br />

entschloß sich der Verlag der<br />

FREIEN PRESSE <strong>in</strong> Bielefeld<br />

dann, die e<strong>in</strong>zig richtige Konsequenz<br />

aus der Pressesituation der<br />

Weimarer Zeit ziehend, <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

e<strong>in</strong>e Lokalausgabe der<br />

FREIEN PRESSE e<strong>in</strong>zurichten<br />

und auszubauen.)<br />

Über die E<strong>in</strong>seitigkeit <strong>in</strong> der<br />

Berichterstattung <strong>in</strong> den 20er <strong>Jahre</strong>n<br />

gibt e<strong>in</strong> Bericht der <strong>Paderborn</strong>er<br />

Polizei Auskunft. Am 3. Mai<br />

1924 hielt die <strong>SPD</strong> <strong>in</strong> der Hesterschen<br />

Volkshalle anläßlich der<br />

bevorstehenden Kommunalwahlen<br />

e<strong>in</strong>e Kundgebung ab. Der Sprecher<br />

war He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g, der 1922<br />

als Ersatzmann <strong>in</strong> die Stadtverordnetenversammlung<br />

e<strong>in</strong>zog. Laut<br />

Polizeibericht betonte Lück<strong>in</strong>g<br />

besonders, daß das „Westfälische<br />

Volksblatt" mit allen ihm zur Verfügung<br />

stehenden Mitteln gegen<br />

die <strong>SPD</strong> arbeite. Auch die von der<br />

Partei und ihm <strong>in</strong> der Stadtverwaltung<br />

vorgebrachten Anträge würden<br />

total verdreht, damit die Leser<br />

später von ihm den E<strong>in</strong>druck<br />

erhalten sollten, er sei gegen alles<br />

Gute, besonders was Religion<br />

betrifft. „Lück<strong>in</strong>g schilderte dann<br />

se<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der Stadtverordnetensitzung<br />

vorgebrachten Antrag, daß<br />

22<br />

die Schulmesse <strong>in</strong> den W<strong>in</strong>termonaten<br />

etwas später verlegt würde.<br />

Die Zeitung habe <strong>in</strong> diesem Falle<br />

die Angelegenheit so dargestellt,<br />

als gehe se<strong>in</strong> Antrag dah<strong>in</strong>, daß<br />

die K<strong>in</strong>der überhaupt nicht zur<br />

Kirche gehen sollten."<br />

Kapp-Putsch<br />

Am 13. März 1920 hatten der<br />

Generallandschaftsdirektor von<br />

Kapp und General von Lüttwitz<br />

versucht, die Regierung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

zu stürzen. Reichspräsident Ebert<br />

und Reichskanzler Bauer flohen<br />

nach Dresden. Die Nationalversammlung<br />

wurde nach Stuttgart<br />

e<strong>in</strong>berufen. In dieser kritischen<br />

Situation rief der sozialdemokratische<br />

Parteivorstand zum Generalstreik<br />

auf.<br />

Die <strong>Paderborn</strong>er Arbeiter reagierten<br />

sofort im S<strong>in</strong>ne der verfassungsmäßigen<br />

Regierung. Sehr im<br />

Widerspruch zu den leitenden<br />

Amtspersonen wurde die Generalstreikparole<br />

bei der Eisenbahn<br />

befolgt. Die <strong>in</strong> den Gewerkschaften<br />

organisierten Eisenbahner wurden<br />

besonders mißtrauisch, als<br />

man entdeckte, daß die von Berl<strong>in</strong><br />

über Kassel nach <strong>Paderborn</strong> gehenden<br />

Telegramme <strong>in</strong> der Beurteilung<br />

der Lage optimistischer gefärbt<br />

waren als die vertraulichen<br />

Berichte aus Berl<strong>in</strong>. Von der Aufforderung<br />

zum Generalstreik<br />

erwähnten die offiziellen Telegramme<br />

nichts, sondern sie sprachen<br />

nur von Diszipl<strong>in</strong> und Ordnung.<br />

Auch der Auftrag, für<br />

undurchsichtige Militärzwecke<br />

Eisenbahnwagen abzustellen,<br />

wurde von den Eisenbahnarbeitern<br />

verh<strong>in</strong>dert. Bereits am 17. März<br />

war der Streik zu Ende: „Reichskanzler"<br />

von Kapp gab se<strong>in</strong>en<br />

Rücktritt bekannt, „um den <strong>in</strong>neren<br />

Frieden wiederherzustellen".<br />

Die streikenden Arbeiter im Vere<strong>in</strong><br />

mit der legalen Gewalt hatten den<br />

Rücktritt erzwungen.<br />

Kritische Katholiken<br />

Schon seit Beg<strong>in</strong>n der Weimarer<br />

Republik gab es vor allem unter<br />

den jungen Leuten des <strong>Paderborn</strong>er<br />

Katholizismus (auch bei e<strong>in</strong>igen<br />

jungen Priestern) erhebliche<br />

E<strong>in</strong>flüsse e<strong>in</strong>er „l<strong>in</strong>ken", d.h.<br />

kapitalismuskritischen, sozialreformerischen<br />

und kriegsgegnerischen<br />

Richtung, die Teile der katholischen<br />

Jugendbewegung prägte, im<br />

„Friedensbund deutscher Katholiken"<br />

wirkte und bis <strong>in</strong> den W<strong>in</strong>dthorstbund<br />

(die Jugendorganisation<br />

der Zentrumspartei) h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>reichte.<br />

Bei der Junfermann'sehen Verlagsbuchhandlung<br />

erschien bis 1931 die<br />

religiös-kulturelle Monatszeitschrift<br />

„Das Heilige Feuer", die von dem<br />

pazifistisch-lebensreformerischen<br />

katholischen Dichter und Priester


Ernst Thrasolt gegründet worden<br />

war. „Das Heilige Feuer" gab der<br />

oben erwähnten Richtung Raum,<br />

hier schrieben u.a. Nikolaus Ehlen<br />

und Walter Dirks. An dieser Zeitschrift<br />

arbeitete auch der <strong>in</strong> Brilon<br />

beheimatete, für den „kritischen<br />

Katholizismus" im <strong>Paderborn</strong>er<br />

Raum und für die damalige hiesige<br />

Friedensbewegung maßgebliche<br />

geistliche Studienrat Josef Rüther<br />

mit. Dieser publizierte 1919 e<strong>in</strong><br />

Buch unter dem Titel „Kampf dem<br />

Kapitalismus, dem Völkerfe<strong>in</strong>de",<br />

<strong>in</strong> dem es u.a. heißt:<br />

„Die größte und drückendste Last<br />

der heutigen Menschheit, zugleich<br />

ihre Unehre vor den kommenden<br />

Jahrhunderten und e<strong>in</strong>e Hauptschule<br />

der Verwilderung ist der<br />

Militarismus, nicht ohne <strong>in</strong>neren<br />

Zusammenhang mit dem Kapitalismus.<br />

Er ist zwar nicht dessen<br />

K<strong>in</strong>d, aber dessen nächster Vetter.<br />

Darum stehen und halten sie<br />

zusammen. Der Militarismus kann<br />

nicht leben ohne schweres Geld,<br />

der Kapitalismus nicht, ohne daß<br />

se<strong>in</strong>e Werwolfsideale <strong>in</strong> aller Welt<br />

geschützt werden. Das tun der<br />

Militarismus und se<strong>in</strong> begeistertes<br />

und studiertes Söhnchen, der<br />

Patriotismus."<br />

Hier gab es also durchaus Radikalität,<br />

aber sie fand ke<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung<br />

zur Sozialdemokratie, die<br />

den katholischen Antikapitalisten<br />

und Antimilitaristen als christentumsfe<strong>in</strong>dlich<br />

— und wohl auch<br />

als zu betulich erschien.<br />

Der „rote" Pastor Hohoff<br />

E<strong>in</strong>es Mannes aus „jenen <strong>Jahre</strong>n"<br />

muß noch gedacht werden: des im<br />

<strong>Jahre</strong> 1848 <strong>in</strong> Medebach geborenen,<br />

1871 <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> zum Priester<br />

geweihten und 1923 <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

gestorbenen katholischen<br />

Geistlichen Wilhelm Hohoff. Er<br />

war e<strong>in</strong> treuer Sohn und Priester<br />

se<strong>in</strong>er Kirche, der sich mit wissenschaftlicher<br />

Gründlichkeit um die<br />

Synthese zwischen christlicher Reli-<br />

gion und dem Sozialismus<br />

bemühte. Die Mehr Werttheorie, die<br />

er als Fundament der Lehre von<br />

Karl Marx schon früh erkannte,<br />

hat Hohoff, gestützt auf e<strong>in</strong><br />

umfassendes und gründliches Wissen,<br />

gegen die gesamten „bürgerlichen"<br />

Nationalökonomen se<strong>in</strong>er<br />

Zeit unentwegt verteidigt. In zwei<br />

grundlegenden Werken, „Warenwert<br />

und Kapitalprofit" und „Die<br />

Bedeutung der Marxschen Kapitalkritik",<br />

erschienen im Verlag Junfermann<br />

und bei der Bonifaciusdruckerei<br />

<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>, hat er<br />

se<strong>in</strong>e durch jahrelanges Studium<br />

gewonnenen Kenntnisse niedergelegt.<br />

Hohoff war es, der als junger<br />

Kaplan <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kontroverse mit<br />

August Bebel diesen zu der Aussage<br />

provoziert hatte, daß „Christentum<br />

und Sozialismus sich gegenüberstehen<br />

wie Wasser und<br />

Feuer". Hohoffs Antwort hieß:<br />

„Nicht Sozialismus und Christentum,<br />

sondern Kapitalismus und<br />

Christentum stehen e<strong>in</strong>ander<br />

gegenüber wie Feuer und Wasser."<br />

Das Heim von Hohoff am Gierswall<br />

<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> sah viele prom<strong>in</strong>ente<br />

Gäste. So war August Bebel<br />

mit se<strong>in</strong>er Tochter bei ihm zu<br />

Besuch, ebenso Hermann Greulich,<br />

der Senior der Schweizer <strong>Sozialdemokraten</strong>.<br />

Vielen der christlichen<br />

Soziologen der späteren <strong>Jahre</strong> war<br />

er Lehrer und Wegweiser.<br />

23


August Bebel an Kaplan Hoho ff<br />

Der rege Verkehr im Hause des<br />

geistlichen Wissenschaftlers gab<br />

Gelegenheit zu e<strong>in</strong>em regen Gedankenaustausch<br />

auch mit den <strong>Paderborn</strong>er<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong>.<br />

Im <strong>Jahre</strong> 1919 schrieb Hohoff <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Artikel für die Münchener<br />

„Katholiken- und Kirchenzeitung"<br />

über die Bedeutung von Karl<br />

Marx:<br />

„Karl Marx hat auf dem Gebiete<br />

der politischen Ökonomie das gleiche<br />

geleistet, wie Kopernikus auf<br />

dem Gebiete der Astrologie. Beide<br />

haben gezeigt, daß die empirische<br />

Erfahrung alle<strong>in</strong>, die bloße Kennt-<br />

24<br />

nis der s<strong>in</strong>nlichen Ersche<strong>in</strong>ung an<br />

der Oberfläche kleben bleibt und<br />

ke<strong>in</strong> wahres Wissen gibt, sondern<br />

zu falschen Vorstellungen und irrigen<br />

Schlüssen verleitet. Sie haben<br />

gegenüber dem trügerischen Sche<strong>in</strong><br />

der Oberfläche den wahren, wirklichen<br />

Sachverhalt und Zusammenhang,<br />

das den s<strong>in</strong>nlich wahrnehmbaren<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen zugrunde liegende<br />

eigentliche Wesen erkannt<br />

und enthüllt ...<br />

In der politischen Ökonomie hat<br />

Marx die Wahrheit aufgedeckt und<br />

gezeigt, daß nicht das Geld produktiv<br />

von Wert ist, daß es nicht<br />

hecken, nicht Früchte tragen, nicht<br />

mehr Geld oder mehr Wert zeugen<br />

kann, als es selbst besitzt, daß<br />

ganz ebensowenig Produktionsmittel,<br />

Instrumente, Masch<strong>in</strong>en sich<br />

selbst oder ihren Wert vermehren<br />

können, daß auch alle Rohstoffe,<br />

Naturstoffe, Naturkräfte ke<strong>in</strong>en<br />

Wert (d. h. Geldwert oder Tauschwert,<br />

der alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Geld gemessen<br />

wird und gemessen werden kann)<br />

hervorbr<strong>in</strong>gen oder produzieren<br />

können, sondern daß die Ursache<br />

und Quelle allen Wertes e<strong>in</strong>zig<br />

alle<strong>in</strong> die menschliche Arbeit ist ...<br />

Wenn heute jemand über Nationalökonomie<br />

mitreden oder als<br />

Staatsmann Politik treiben will,<br />

ohne die von Marx aufgedeckten<br />

Produktionsverhältnisse unserer<br />

Ära zu kennen und anzuerkennen,<br />

so ist das, wie wenn e<strong>in</strong> Mensch<br />

Astronomie treiben wollte, ohne<br />

Kopernikus zu kennen und anzuerkennen.<br />

Karl Marx war e<strong>in</strong> ,Denkgenie',<br />

e<strong>in</strong>e .Denkkraft allerersten Ranges',<br />

so gesteht selbst der angeblich<br />

genialste, orig<strong>in</strong>alste und<br />

gründlichste aller se<strong>in</strong>er Gegner,<br />

Prof. Eugen v. Böhm-Bawerk.<br />

Marxmst der weitaus größte Sozialökonom<br />

aller Zeiten. Se<strong>in</strong> Lebenswerk,<br />

das .Kapital', ist trotz der<br />

Schwächen und Irrtümer, die auch<br />

ihm, wie allem Menschenwerk<br />

ankleben, die zweifellos wertvollste<br />

wissenschaftliche Leistung, welche<br />

auf dem Gebiete der politischen<br />

Ökonomie oder Volkswirtschaftslehre<br />

jemals erschienen ist; sie<br />

steht turmhoch über den Leistungen<br />

se<strong>in</strong>er größten Vorgänger."<br />

Zwei <strong>Jahre</strong> später erklärte Hohoff<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben an den Ortsausschuß<br />

des ADGB <strong>in</strong> Essen:<br />

„Der Klassenkampf ist weder e<strong>in</strong>e<br />

Erf<strong>in</strong>dung von Karl Marx noch<br />

e<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung des Sozialismus,<br />

sondern e<strong>in</strong>e wirtschaftliche und<br />

historische Ersche<strong>in</strong>ung, die seit<br />

Jahrhunderten die irdische Welt<br />

durchzieht. Die Organisation der<br />

unterdrückten Klasse ist gerade<br />

dasjenige Mittel, durch welches der<br />

Marxismus die heutige kapitalistische<br />

Klassengesellschaft beseitigen<br />

und an ihre Stelle e<strong>in</strong>e bessere und


gerechtere Wirtschaftsordnung setzen<br />

will. Der Klassenkampf und<br />

se<strong>in</strong>e Organisation ist etwas nicht<br />

nur historisch Überkommenes,<br />

sondern auch gegenwärtig absolut<br />

Notwendiges und Gebotenes. Dieser<br />

Kampf braucht aber ke<strong>in</strong>eswegs<br />

zum Klassenhaß zu führen, wie ja<br />

überhaupt jeder berechtigte Kampf<br />

ohne Haß geführt werden sollte. "<br />

Die kirchliche Obrigkeit war irritiert:<br />

„Die Fälle mehren sich, daß<br />

Angehörige der freien Gewerkschaften<br />

und der Sozialdemokratie<br />

sich auf Pastor Hohoff aus <strong>Paderborn</strong><br />

berufend, Katholiken für den<br />

E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die freien Gewerkschaften<br />

und <strong>in</strong> die sozialdemokratische<br />

Partei werben. An dem Verhalten<br />

Pastor Hohoffs könne man erkennen,<br />

daß es den Katholiken erlaubt<br />

sei, diesen Organisationen anzugehören.<br />

Pastor Hohoff erklärte<br />

zwar, daß er der sozialdemokratischen<br />

Partei nicht angehöre. Se<strong>in</strong><br />

gesamtes Verhalten gegenüber der<br />

sozialdemokratischen Partei veranlaßt<br />

aber viele <strong>Sozialdemokraten</strong>,<br />

ihn für sich <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen<br />

und bei der Werbung von<br />

Anhängern sich auf ihn zu berufen.<br />

In katholischen Kreisen wirkt<br />

das zum Teil ärgerniserregend,<br />

zum Teil verwirrend. Wir mißbilligen<br />

es scharf, daß e<strong>in</strong> katholischer<br />

Geistlicher es ruhig ansieht, daß<br />

unter Berufung auf ihn Katholiken<br />

<strong>in</strong> Organisationen e<strong>in</strong>treten, <strong>in</strong><br />

denen sie ernsten Gefahren für<br />

ihren Glauben ausgesetzt s<strong>in</strong>d, und<br />

sehen uns genötigt, die Katholiken<br />

vor dem Anschluß an die freien<br />

Gewerkschaften und sozialdemokratische<br />

Partei nachdrücklich zu<br />

warnen." („Kirchliches Amtsblatt<br />

für die Diözese <strong>Paderborn</strong>",<br />

8. 8. 1922)<br />

An der „Unterprivilegierung" der<br />

<strong>SPD</strong> im <strong>Paderborn</strong>er Raum vermochte<br />

damals freilich auch die<br />

wissenschaftliche und publizistische<br />

Tätigkeit des Pastor Hohoff nichts<br />

zu ändern. Von den <strong>Paderborn</strong>er<br />

Brief des Bischöflichen<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> war es nicht<br />

zuletzt der sehr aktive Gewerkschaftsfunktionär<br />

Hermann Brockmann,<br />

der sich um e<strong>in</strong>en Brückenbau<br />

zwischen Katholizismus und<br />

<strong>SPD</strong> bemühte, — auch er von<br />

Pastor Hohoff angeregt.<br />

25


Die <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> — strukturell benachteiligt<br />

Die Verteilung der Stimmen auf die wichtigsten Parteien bei den Reichstagswahlen<br />

von 1920 bis 1933 ergibt für den Kreis <strong>Paderborn</strong> das folgende<br />

Bild:<br />

KPD U<strong>SPD</strong> <strong>SPD</strong> DDP Zentrum DVP DNVP NSDAP<br />

1920 — 4,1 8,2 1,5 <strong>75</strong>,8 6,1 4,0 —<br />

Mai<br />

1924 1,8 0,2 6,8 0,7 68,2 4,8 6,7 1,8<br />

Dezember<br />

1924 1,0 0,1 8,9 1,0 74,2 3,6 5,7 0,6<br />

1928 1,1 — 11,0 1,0 67,1 3,6 4,4 0,4<br />

1930 3,6 — 7,1 2,0 67,2 2,1 2,9 4,8<br />

Juli<br />

1932 5,3 — 5,5 0,1 72,9 0,5 2,5 11,7<br />

November<br />

1932 7,2 — 5,0 0,1 71,2 0,8 4,5 9,7<br />

1933 3,7 — 4,4 0,1 63,0 0,4 4,4 23,7<br />

Diese Zahlen zeigen, daß die <strong>SPD</strong><br />

im <strong>Paderborn</strong>er Bereich aufgrund<br />

sowohl der Konfessions- als auch<br />

der Sozialstruktur zu Zeiten der<br />

Weimarer Republik die „geborene"<br />

M<strong>in</strong>derheit war und blieb. Nur bei<br />

den Reichstagswahlen 1928 überschritt<br />

sie hier die 10%-Marke;<br />

aber bei dieser Wahl lag der<br />

Reichsdurchschnitt der <strong>SPD</strong>-<br />

Stimmen immerh<strong>in</strong> bei fast 30<br />

Prozent. Bemerkenswert ist, daß<br />

im Kreis <strong>Paderborn</strong> — wie <strong>in</strong> vielen<br />

anderen vorwiegend katholischen<br />

Bezirken — die KPD Ende<br />

1932 die <strong>SPD</strong> an Stimmen übertraf.<br />

Deutlich wird auch, daß die<br />

Zentrumspartei ihre absolute<br />

Mehrheitsstellung selbst auf dem<br />

Höhepunkt der Erfolge der<br />

NSDAP im Kreis <strong>Paderborn</strong> nicht<br />

gefährdet sehen mußte. Bei den<br />

Wahlen im Juli 1932, als die<br />

NSDAP unter freien Wahlbed<strong>in</strong>gungen<br />

ihren größten Erfolg mit<br />

37,4 Prozent im Reichsdurchschnitt<br />

erreichte, kam sie im Kreis<br />

<strong>Paderborn</strong> nur auf 11,7 Prozent.<br />

Ausschlaggebend war hier der<br />

Konfessionsfaktor.<br />

Was die Sozialstruktur angeht, so<br />

war der Anteil der „Unterschichten"<br />

im <strong>Paderborn</strong>er Kreisgebiet<br />

ke<strong>in</strong>eswegs ger<strong>in</strong>g. 1925 ergibt sich<br />

folgendes Bild:<br />

Von den Erwerbspersonen waren<br />

hier 39,5% Arbeiter, 19,8% Angestellte<br />

und Beamte, 17,1% Selbständige,<br />

23,6% mithelfende Familienangehörige.<br />

E<strong>in</strong> erheblicher Teil<br />

der „Selbständigen" und der mithelfenden<br />

Familienangehörigen<br />

lebte aber <strong>in</strong> materiell bescheidenen<br />

kle<strong>in</strong>bäuerlichen oder kle<strong>in</strong>handwerklichen<br />

Verhältnissen. Der<br />

ger<strong>in</strong>ge E<strong>in</strong>fluß der Sozialdemokratie<br />

im <strong>Paderborn</strong>er Raum<br />

erklärt sich daraus, daß hier die<br />

„Unterschichten" vorwiegend agrarisch-handwerklich<br />

geprägt waren;<br />

wichtiger noch war aber wohl die<br />

Konfessionsstruktur: im <strong>Jahre</strong><br />

1925 waren 90,9 Prozent der<br />

Bevölkerung im Kreis <strong>Paderborn</strong><br />

katholisch.<br />

26


<strong>Jahre</strong> der Ruhe — vor dem Sturm<br />

der „nationalen Revolution"<br />

Als nach dem Ende der Inflation<br />

1923 sich die wirtschaftliche und<br />

politische Lage <strong>in</strong> Deutschland teilweise<br />

stabilisierte, g<strong>in</strong>g es auch <strong>in</strong><br />

der <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> vergleichsweise<br />

ruhig zu. Höhepunkte der<br />

Veranstaltungen des <strong>SPD</strong>-Ortsvere<strong>in</strong>s<br />

<strong>Paderborn</strong> waren die jährlichen<br />

Maifeiern. Die Teilnehmerzahl<br />

wuchs ständig. Festplätze<br />

waren abwechselnd die Gaststätten<br />

„Zur Nachtigall", „Inselbad" und<br />

„Auf dem Dören". 1924 standen<br />

die Wahlen für die Stadtverordnetenversammlungen<br />

und den Reichs-<br />

- tag an. Reichstagsabgeordneter<br />

Karl Schreck, Bielefeld, und der<br />

preußische Innenm<strong>in</strong>ister Carl<br />

Sever<strong>in</strong>g sprachen <strong>in</strong> gutbesuchten<br />

Versammlungen. Die Polizei bezifferte<br />

die Zahl der Anwesenden auf<br />

jeweils 600! Zur Kommunalwahl<br />

1924 referierte He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g <strong>in</strong><br />

der Hesterschen Volkshalle. „Dann<br />

g<strong>in</strong>g Lück<strong>in</strong>g auf die bisherige<br />

schwierige Stellung der Partei im<br />

Rathaus e<strong>in</strong> und betonte, daß das<br />

sozialdemokratische ,Drei-Männer-<br />

Kollegium' nicht e<strong>in</strong>mal imstande<br />

gewesen sei, e<strong>in</strong>en Antrag zu stellen,<br />

weil die Unterschrift der erforderlichen<br />

vierten Person gefehlt<br />

hätte", heißt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Überwachungsbericht.<br />

„Redner betonte,<br />

daß <strong>in</strong> das Ratskollegium tüchtige<br />

Leute gesandt werden müßten und<br />

ke<strong>in</strong>e alten Tranpfuntzen (so<br />

schrieb der wackere Beamte!), welche<br />

schon nach e<strong>in</strong>er halben Stunde<br />

Tagung dort säßen und schliefen."<br />

(„Ansche<strong>in</strong>end waren die Frauen<br />

des Kollegiums damit geme<strong>in</strong>t" —<br />

vermutete der Beamte!)<br />

Maiausflug des <strong>SPD</strong>-Ortsvere<strong>in</strong>s <strong>Paderborn</strong> <strong>in</strong> der Weimarer Zeit.<br />

Selbstverständlich „ wackelten " die mitgenommenen K<strong>in</strong>der — und e<strong>in</strong>ige<br />

Köpfe wurden unscharf. Es ist heute schwer, die Dargestellten zu identifizieren.<br />

E<strong>in</strong>en aber erkennt man, sagen wir, auf den zweiten Blick:<br />

Karl Denkner mit Brille und e<strong>in</strong>em stattlichen Schnurrbart (der vierte<br />

Mann von rechts <strong>in</strong> der mittleren Reihe)<br />

Von drei auf sechs<br />

Das Wahlergebnis war 1924 überraschend<br />

gut für die <strong>SPD</strong>: Zum<br />

ersten Male zogen sechs Kommunalpolitiker<br />

der <strong>SPD</strong>-Fraktion <strong>in</strong><br />

das Stadtverordnetenkollegium e<strong>in</strong>.<br />

Jetzt hatte man die vierte Person<br />

für die fehlenden Unterschriften<br />

bei Anträgen!<br />

Die <strong>SPD</strong>-Fraktion bestand aus<br />

dem Eisenbahnschlosser He<strong>in</strong>rich<br />

Lück<strong>in</strong>g, dem Gewerkschaftssekretär<br />

Hermann Brockmann, dem<br />

Gewerkschaftssekretär He<strong>in</strong>rich<br />

Stahlberg, dem Eisenbahner<br />

Johannes Schniedermeyer, dem<br />

27


Gürtlermeister Karl Denkner und<br />

dem <strong>in</strong> der Möbelfabrik Stadler<br />

beschäftigten Wilhelm Harbarth.<br />

Nach der ersten Sitzung vom 16.<br />

Mai 1924 kam Harbarth als unbesoldetes<br />

Mitglied <strong>in</strong> den Magistrat.<br />

Für ihn rückte als Ersatzmann der<br />

Werkmeister aus dem Zementwerk<br />

„Atlas", Willi Ahrendt, <strong>in</strong> das<br />

Kollegium. 1926 wurde Gewerkschaftssekretär<br />

Stahlberg versetzt.<br />

Für ihn zog am 9. April 1926 der<br />

Eisenbahndreher Georg Gruber <strong>in</strong><br />

die Stadtverordnetenversammlung.<br />

Von den 1919 gewählten drei <strong>SPD</strong>-<br />

Stadtverordneten war ke<strong>in</strong>er mehr<br />

<strong>in</strong> der zweiten Legislaturperiode<br />

vertreten: Christoph Eggers fühlte<br />

sich zu alt und kandidierte nicht<br />

mehr wie auch Max Gehrmann.<br />

Obersekretär Strüf<strong>in</strong>g wurde 1923<br />

beruflich versetzt, so daß sich das<br />

„Drei-Männer-Kollegium" gegen<br />

Ende der ersten Legislaturperiode<br />

aus Christoph Eggers und den<br />

Ersatzleuten Lück<strong>in</strong>g und Stahlberg<br />

zusammengesetzt hatte. Mit<br />

Anteilnahme liest man heute noch<br />

den Brief von Strüf<strong>in</strong>g an den<br />

damaligen Stadtverordnetenvorsteher<br />

Peters, dem er se<strong>in</strong>e Versetzung<br />

nach Gött<strong>in</strong>gen meldete:<br />

„Schweren Herzens, wie ich vor<br />

sieben <strong>Jahre</strong>n nach <strong>Paderborn</strong><br />

gekommen b<strong>in</strong>, scheide ich jetzt.<br />

War mir damals das Herz schwer,<br />

weil <strong>Paderborn</strong> für mich das<br />

28<br />

Zuchthaus se<strong>in</strong> sollte, so ist das<br />

Herz mir jetzt schwer, weil es den<br />

Abschied gilt von e<strong>in</strong>er Stadt, <strong>in</strong><br />

der ich <strong>in</strong> trüber Zeit viel Liebe<br />

erfahren habe, von e<strong>in</strong>er Stadt, die<br />

auch mir ans Herz gewachsen ist<br />

und <strong>in</strong> die ich mehr und mehr h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gewachsen<br />

b<strong>in</strong>. Das, wofür man<br />

arbeitet, wächst e<strong>in</strong>em ja ans Herz.<br />

Und wenn es Abschied zu nehmen<br />

gilt, vergißt man die bitteren Stunden<br />

des Kämpfens und R<strong>in</strong>gens; es<br />

bleibt nur die Er<strong>in</strong>nerung an das<br />

geme<strong>in</strong>same Streben. Zum Wohle<br />

der Stadt <strong>Paderborn</strong> habe ich<br />

arbeiten wollen. Dieses Bewußtse<strong>in</strong><br />

nehme ich mit, und ich hoffe, auch<br />

me<strong>in</strong>e Gegner <strong>in</strong> der Stadtverordneten-Versammlung<br />

werden mir jene<br />

Absicht nicht abstreiten."<br />

Der Freiheitsraum, der mit der<br />

Weimarer Republik den <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> zugewachsen<br />

war, hielt allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />

lange stand. Anfang der dreißiger<br />

<strong>Jahre</strong> kündigte sich das „Dritte<br />

Reich" an — im katholischen<br />

<strong>Paderborn</strong> bis 1933 noch nicht so<br />

wahrnehmbar wie <strong>in</strong> mancher<br />

anderen Region.<br />

„Mit Braun und Sever<strong>in</strong>g—<br />

Wählt Liste 1"<br />

— So sah es vor dem<br />

<strong>Paderborn</strong>er Rathaus<br />

<strong>in</strong> den letzten <strong>Jahre</strong>n<br />

der Weimarer Republik<br />

aus, wenn sich<br />

die verschiedenen Parteien<br />

ihre letzten<br />

„Plakatschlachten "<br />

am Wahlmorgen lieferten.<br />

Damit das<br />

große <strong>SPD</strong>-Plakat<br />

über Nacht nicht<br />

abgerissen wurde,<br />

stellte man Posten<br />

auf.


Die <strong>Paderborn</strong>er <strong>Sozialdemokraten</strong> am Ende der Weimarer<br />

Republik und <strong>in</strong> der Zeit des Nationalsozialismus<br />

Nach Aufzeichnungen, Zeitungsberichten und Gesprächen mit alten Genoss<strong>in</strong>nen und Genossen<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> <strong>in</strong> der Krisenzeit<br />

Bei den letzten freien Kommunalwahlen<br />

am 20. Dezember 1929<br />

konnte die sozialdemokratische<br />

Partei noch e<strong>in</strong>mal erfolgreich<br />

se<strong>in</strong>. Mit 16,8% und damit 6<br />

Stadtverordneten hatte die Partei<br />

e<strong>in</strong> lokal hervorragendes Ergebnis<br />

erzielt. Lück<strong>in</strong>g, Brockmann, Harbarth,<br />

Schniedermeier, Gruber und<br />

Denkner zogen <strong>in</strong> die Stadtverordnetenversammlung<br />

e<strong>in</strong>. Da Harbarth<br />

bald darauf wieder unbesoldetes<br />

Magistratsmitglied wurde,<br />

rückte für ihn Ahrendt nach. Für<br />

Brockmann, der versetzt wurde,<br />

nahm der Eisenbahnschlosser<br />

Behrens dessen Platz im Rat e<strong>in</strong>.<br />

Im September 1931 schied Ahrendt<br />

aus, und von der Reserveliste kam<br />

der Arbeiter Puls zu den anderen.<br />

In dieser Zeit zunehmender sozialer<br />

Not war es e<strong>in</strong>e Hauptaufgabe<br />

der <strong>Sozialdemokraten</strong>, diese Not<br />

zu l<strong>in</strong>dern zu suchen. Die Partei<br />

versuchte dies im Rat der Stadt, <strong>in</strong><br />

eigens durchgeführten Erwerbslosenversammlungen<br />

und durch Aufklärungsarbeit<br />

vor dem Arbeitsamt<br />

und der Rentenzahlstelle der Post.<br />

Wie die Lage gerade auch der<br />

Rentner zu dieser Zeit aussah,<br />

zeigt e<strong>in</strong> Zeitungsbericht:<br />

„Zwei Frauen kommen, sie sprechen<br />

über die neue Kürzung; e<strong>in</strong>er<br />

r<strong>in</strong>nen Tränen durch die Furchen<br />

ihres Gesichts. Ich tröste, so gut<br />

ich kann, doch ihre Sorgen kann<br />

ich nicht nehmen. ,Nun müßten<br />

doch auch die Mieten gesenkt werden,<br />

wenn man uns was abzieht;<br />

die kann man doch jetzt gar nicht<br />

mehr zahlen!' sagt sie zu mir mit<br />

trostloser Stimme. ,Ja, liebe Frau',<br />

gebe ich zur Antwort, ,die Freiherren<br />

und Barone zahlen ke<strong>in</strong>e<br />

Miete, die wissen nicht, was das<br />

heißt, die wissen nicht, wie es uns<br />

Armen zumute ist.' Ich blicke <strong>in</strong><br />

hoffnungslose Augen, unendliches<br />

Mitleid mit dieser alten Frau ...<br />

E<strong>in</strong>er hat das Flugblatt schnell<br />

überflogen; er kommt auf mich<br />

zu, legt se<strong>in</strong>e Hand auf me<strong>in</strong>e<br />

Schulter und spricht zu mir mit<br />

blitzenden Augen: ,So ist's recht!<br />

Was ich vor 40 <strong>Jahre</strong>n schon<br />

gewählt habe, wähle ich auch dieses<br />

Mal wieder. Wir lassen uns<br />

nich' an de Wimpern klimpern!'<br />

Dieser Alte weiß, um was es<br />

geht ..."<br />

Auf Erwerbslosenversammlungen<br />

g<strong>in</strong>g es darum, der Partei den<br />

Rücken für ihre Arbeit im Rat und<br />

den Ausschüssen der Stadt zu stärken.<br />

Auf e<strong>in</strong>er solchen überfüllten<br />

Versammlung im Juli 1932 bei<br />

Lohmann wurde z.B. e<strong>in</strong>e Entschließung<br />

gefaßt, wonach die<br />

Pflichtarbeiter — das s<strong>in</strong>d die<br />

arbeitsverpflichteten Wohlfahrtsempfänger<br />

— aus dem städtischen<br />

Fuhrpark herausgenommen werden<br />

sollten, für andere Arbeiten der<br />

Tariflohn gezahlt werden sollte,<br />

alle auf gerechte Weise zur Pflichtarbeit<br />

herangezogen werden und<br />

die über 50jährigen davon ausgenommen<br />

werden sollten. In dieser<br />

Versammlung sprachen auch Mitglieder<br />

der KPD, die „ihre altbekannten<br />

Sprüche an den Mann<br />

br<strong>in</strong>gen" wollten, wie die sozialdemokratische<br />

„Volkswacht" schrieb.<br />

Aber, so weiter die „Volkswacht",<br />

sie „mußten sich vom Genossen<br />

Lück<strong>in</strong>g sagen lassen, daß die<br />

Situation zu ernst sei, um alten<br />

Brei aufzuwärmen und daß er ke<strong>in</strong>en<br />

Bruderkampf dulde!" Am<br />

Ende sprachen sich dann auch die<br />

Kommunisten für die Annahme<br />

der genannten Entschließung aus,<br />

damit denen, die „sich für die<br />

Erwerbslosen e<strong>in</strong>setzen, der<br />

Rücken gestärkt wird und der<br />

Magistrat sieht, was los ist!"<br />

Diese Sorgen bedrückten die<br />

<strong>Paderborn</strong>er <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

sehr. Das Ausmaß der Gefahr, die<br />

von den Nazis ausg<strong>in</strong>g, wurde<br />

ihnen zunächst nicht so deutlich<br />

wie <strong>in</strong> den nächsten <strong>Jahre</strong>n.<br />

Dennoch wurde Anfang der 30er<br />

<strong>Jahre</strong> e<strong>in</strong>e Abteilung des „Reichsbanner"<br />

vor allem auf Initiative<br />

von Karl Behrens gegründet. Sie<br />

sollte die Veranstaltungen und Versammlungen<br />

vor Angriffen der SA<br />

29


Fast 20 <strong>Jahre</strong> später kam die<br />

Fahne nach <strong>Paderborn</strong> zurück.<br />

Am 1. Mai 1952 wurde sie von der<br />

Reichsbanner-Kameradschaft Hannover<br />

dem Ortsvere<strong>in</strong> der <strong>SPD</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> übergeben."<br />

Im <strong>Jahre</strong> 1932 aber glaubte man<br />

sich <strong>in</strong> der Sozialdemokratie<br />

durchaus noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>sgesamt<br />

guten Position:<br />

„Allen Widerständen zum Trotz<br />

trat die Arbeiterbewegung kraftvoll<br />

<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung. Gerade im Wechsel<br />

unserer <strong>Jahre</strong> kündigt sich an<br />

e<strong>in</strong>e neue Kulturepoche. E<strong>in</strong> stilles,<br />

aber bedeutungsvolles Heldentum<br />

wurde geübt, das jeden zur Achtung<br />

zw<strong>in</strong>gt. Die <strong>in</strong> den Kämpfen<br />

gebrachten Opfer weisen auf die<br />

Kraftquellen h<strong>in</strong>, die den Arbeitern<br />

immer mehr das Bewußtse<strong>in</strong> ihrer<br />

Würde gaben (...) Die rauhe<br />

Gegenwart muß benutzt werden,<br />

um e<strong>in</strong>er freudigeren, menschlicheren<br />

Zukunft zu dienen."<br />

So hieß es Januar 1932, e<strong>in</strong> Jahr<br />

vor Hitlers Machtergreifung, im<br />

Tätigkeitsbericht der <strong>SPD</strong> für den<br />

Bezirk Ostwestfalen und Lippe.<br />

Die Partei wähnte sich, vorsichtig<br />

schon, noch im Besitz ihrer ganzen<br />

Kraft. Dennoch sollte es nur<br />

In e<strong>in</strong>em Gartenhaus <strong>in</strong> Hannover<br />

versteckt, überdauerte die Fahne<br />

des „Reichsbanners <strong>Paderborn</strong>"<br />

den Terror des „Dritten Reiches".<br />

Nach dem Kriege kam sie nach<br />

<strong>Paderborn</strong> zurück.<br />

schützen. Die Fahne, die damals<br />

von Richardt Hundt für die <strong>Paderborn</strong>er<br />

Reichsbanner-Gruppe entworfen<br />

wurde, konnte dieser nach<br />

der Machtübernahme der Nazis <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Gartenhaus bei Hannover<br />

verstecken. Karl Kran schrieb zum<br />

50jährigen Bestehen der <strong>Paderborn</strong>er<br />

<strong>SPD</strong> dazu: „Hier überlebte sie<br />

Gestapo und Kriegskatastrophe.<br />

Der <strong>Paderborn</strong>er Arbeitersportvere<strong>in</strong> um 1928. Von l. n.r.: Born,<br />

Jolmes, Pahlsmeier, Koch, Pittich, Luig, Pahlsmeier H., Glahn,<br />

Gröb<strong>in</strong>g, Jürgen Isermann.<br />

30


knapp e<strong>in</strong> halbes Jahr dauern, und<br />

die Partei würde ihre Entmachtung<br />

am 20. Juli 1932 <strong>in</strong> Preußen fast<br />

widerspruchslos, jedenfalls widerstandslos<br />

h<strong>in</strong>nehmen: Die Absetzung<br />

des sozialdemokratischen<br />

M<strong>in</strong>isterpräsidenten Braun, die<br />

Verhängung des Ausnahmezustands<br />

und die E<strong>in</strong>setzung des<br />

Reichskanzlers von Papen zum<br />

Reichskommissar für Preußen.<br />

Ebenso wehrlos und trotz ihrer<br />

kämpferischen Parolen machtlos<br />

stand die Partei 1933 vor dem<br />

Faschismus, bis sie am 20. Juni<br />

1933 verboten wurde. Viele e<strong>in</strong>zelne<br />

Genossen leisteten Widerstand,<br />

aber es war schwierig, wenn<br />

nicht unmöglich, sich dabei <strong>in</strong><br />

Gruppen zusammenzuschließen,<br />

geschweige denn als „Partei"<br />

<strong>in</strong>sgesamt Widerstand zu leisten.<br />

Wie sah es nun mit der Partei <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> aus? Hier, wo sie<br />

immer gegenüber dem politischen<br />

Katholizismus des Zentrums,<br />

gegenüber e<strong>in</strong>er mehrheitlich bürgerlichen<br />

und bäuerlichen Bevölkerung<br />

die wenigen Arbeiter, vor<br />

allem Facharbeiter, vertrat.<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er katholisch-konservativen<br />

Stadt<br />

Im Geschäftsbericht des Parteibezirks<br />

für das Jahr 1931 f<strong>in</strong>den sich<br />

e<strong>in</strong>ige Zahlen über die Stärke der<br />

Partei: da gab es im Unterbezirk<br />

<strong>Paderborn</strong>-Büren 6 Ortsvere<strong>in</strong>e mit<br />

zusammen 179 Mitgliedern, von<br />

denen 19 Frauen waren. Nach verschiedenen<br />

Aussagen gab es im<br />

Ortsvere<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> ca. 60 bis 80<br />

Mitglieder, und daran hat sich <strong>in</strong><br />

den <strong>Jahre</strong>n bis 1933 nicht viel<br />

geändert.<br />

Wenn man noch e<strong>in</strong>ige Wahlergebnisse<br />

h<strong>in</strong>zunimmt, ergibt sich daraus<br />

folgendes Bild:<br />

Bei den letzten freien Kommunalwahlen<br />

im November 1929 bekam<br />

die hiesige <strong>SPD</strong> noch 16,8% (im<br />

Vergleich: das Zentrum 60,3% und<br />

die KPD nur 1,2%, während die<br />

nationalistische DNVP nur auf<br />

2,8% kam.)<br />

Bei den Reichstagswahlen seit 1930<br />

g<strong>in</strong>g der Stimmenanteil der <strong>Paderborn</strong>er<br />

<strong>SPD</strong> von 9,8% (Sept. 1930)<br />

auf 7,3% (Juli 1932), 6,4% (Nov.<br />

1932) und schließlich bei den nicht<br />

mehr wirklich freien Wahlen im<br />

März 1933 auf 6,3% zurück. Im<br />

Vergleich sei hier noch e<strong>in</strong>mal auf<br />

das Zentrum, die KPD und auch<br />

die NSDAP verwiesen.<br />

Das Zentrum hatte bei den Wahlen<br />

1930 62,5% erhalten, steigerte sich<br />

<strong>in</strong> den folgenden Wahlen auf<br />

nahezu 70% und erhielt auch im<br />

März 1933 noch immer 61,2%.<br />

Die KPD, die bei Reichstagswahlen<br />

<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> immer besser<br />

abschnitt als bei Kommunalwahlen.<br />

erhielt 1930 noch 5,5%,<br />

konnte sich auf fast 7% im<br />

November 1932 steigern, erhielt<br />

also mehr Stimmen als die <strong>SPD</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong>, und mußte im März<br />

1933 dann auf 4,3% zurückstecken.<br />

Die Nazipartei entwickelte<br />

sich <strong>in</strong> diesen Wahlen von 5,1%<br />

im <strong>Jahre</strong> 1930 über 11,8% im Juli<br />

1932 und 9,5% im November des<br />

gleichen <strong>Jahre</strong>s auf „nur" 21,8%<br />

im März 1933. (Diese Zahlen<br />

beziehen sich auf die Stadt<br />

<strong>Paderborn</strong>)<br />

Was können diese Zahlen über das<br />

politische Kräfteverhältnis <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> und über die Sozialdemokratie<br />

aussagen?<br />

Erst e<strong>in</strong>mal bleibt die Vormachtstellung<br />

des politischen Katholizismus<br />

ungebrochen. Selbst bei den<br />

letzten Wahlen im Frühjahr 1933<br />

verliert das Zentrum nur ganz<br />

unwesentlich Stimmen, die<br />

NSDAP kann hier ke<strong>in</strong>en Durchbruch<br />

erzielen. Die beiden Arbeiterparteien,<br />

<strong>SPD</strong> und KPD, aber<br />

bleiben <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> etwa bei<br />

ihrem Stimmenanteil; sie s<strong>in</strong>d die<br />

Vertretung e<strong>in</strong>er sozialen und konfessionellen<br />

M<strong>in</strong>derheit im katholischen<br />

<strong>Paderborn</strong>. Dennoch ist auffällig,<br />

daß die Sozialdemokratie<br />

bei den Kommunalwahlen e<strong>in</strong>en<br />

mehr als doppelt so großen Stimmenanteil<br />

als sonst bei den Reichsund<br />

Landtags wählen erhält, während<br />

z.B. die KPD <strong>in</strong> ihrem Stim-<br />

31


menanteil gegenüber solchen Wahlen<br />

um mehr als die Hälfte s<strong>in</strong>kt.<br />

So problematisch es ist, aus Wahlergebnissen<br />

alle<strong>in</strong> Schlüsse auf das<br />

Leben der Partei und ihrer Mitglieder<br />

zu ziehen, so soll es doch<br />

ansatzweise versucht werden, um<br />

vor allem e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schätzung für<br />

das Verhalten der Sozialdemokratie<br />

gegenüber dem Faschismus <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> geben zu können.<br />

Sozialdemokratische Kommunalpolitik<br />

Aus Gesprächen mit alten Genossen<br />

(M<strong>in</strong>e Maibohm, Hubert<br />

Coprian, Hannes Isermann, Hansi<br />

Steiger) wird deutlich, daß zur<br />

Sozialdemokratie e<strong>in</strong>e eigene Kultur<br />

gehörte, die wenig mit der bürgerlichen<br />

Kultur der Stadt zu tun<br />

hatte; man wohnte sozusagen vor<br />

ihren Toren, bei „Port Arthur",<br />

den Wohnsiedlungen der Eisenbahner,<br />

oder an der Warmen Pader,<br />

vor allem aber abseits des Bürgertums.<br />

Man machte se<strong>in</strong>e eigenen<br />

Feste (Willi Töpfer: „Wir <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

waren e<strong>in</strong>e Familie,<br />

wenn wir z. B. am 1. Mai mit der<br />

roten Fahne an die Fischteiche<br />

zogen."), man hatte <strong>in</strong> den 20er<br />

<strong>Jahre</strong>n eigene Sportvere<strong>in</strong>e und<br />

e<strong>in</strong>en Sängervere<strong>in</strong> — getrennt<br />

nach Männern und Frauen —<br />

gegründet und verstand sich <strong>in</strong> dieser<br />

Weise als Heimat der Arbeiter-<br />

32<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g; er prägte über<br />

viele <strong>Jahre</strong> h<strong>in</strong>weg die Geschicke<br />

der <strong>Paderborn</strong>er Sozialdemokratie.<br />

Der Unterbezirk <strong>Paderborn</strong>-Büren<br />

ernannte ihn zum Ehrenvorsitzenden.<br />

schaft. Die Partei, so sche<strong>in</strong>t es,<br />

war vor allem e<strong>in</strong>e Möglichkeit,<br />

solche Lebensformen sichern zu<br />

helfen. Dazu gehörten auch die<br />

AWO, die Naturfreunde und<br />

andere sozialdemokratische Verbände.<br />

Vorsitzender war He<strong>in</strong>rich<br />

Lück<strong>in</strong>g, der wie e<strong>in</strong> Patriarch<br />

wirkte und unumstritten war.<br />

Lück<strong>in</strong>g führte die Fraktion und<br />

war bei den Arbeitern, aber auch<br />

<strong>in</strong> anderen Kreisen der Bevölkerung<br />

e<strong>in</strong> geachteter Mann. Die von<br />

Lück<strong>in</strong>g geführte Fraktion setzte<br />

sich im kommunalpolitischen<br />

Bereich für ihre Wähler, die oben<br />

beschriebenen Gruppen, e<strong>in</strong>. Um<br />

für Arbeiter und andere benachteiligte<br />

Menschen etwas herauszuholen,<br />

sah man ke<strong>in</strong>en Anlaß für<br />

fundamentale Opposition, sondern<br />

arbeitete oft auch mit der hiesigen<br />

Mehrheit (Zentrum) zusammen.<br />

Kämpfe mit den Nazis<br />

Auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> machte sich<br />

der aufkommende Nationalsozialismus<br />

bald bemerkbar.<br />

Nicht nur, daß die Auswirkungen<br />

der Weltwirtschaftskrise den Nazis<br />

Anlaß gaben, vor allem bei<br />

Arbeitslosenversammlungen oder<br />

auf den Stempelstellen der Arbeitsämter<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen anzuzetteln,<br />

wie dies während des <strong>Jahre</strong>s<br />

1932 öfter vorkam; auch<br />

andere gewaltsame Konflikte<br />

kamen zum Ausbruch und verdeutlichten,<br />

daß selbst auf dem Lande<br />

und <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>z der Nationalsozialismus<br />

bereit war, brutal gegen<br />

se<strong>in</strong>e politischen Gegner gerade aus<br />

der Arbeiterschaft vorzugehen —<br />

und es waren dort hauptsächlich<br />

KPD und <strong>SPD</strong> von diesen Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />

betroffen. So als<br />

von den Nazis e<strong>in</strong> kommunistischer<br />

Arbeiter <strong>in</strong> Neuhaus im Juli


1932, <strong>in</strong> der Nacht der Reichstagswahl,<br />

ermordet wurde. Dort war<br />

es, nachdem e<strong>in</strong>e Gruppe Nationalsozialisten<br />

e<strong>in</strong>e Klebekolonne der<br />

<strong>SPD</strong> angegriffen und zwei von<br />

ihnen erheblich verletzt hatte, zur<br />

weiteren Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />

e<strong>in</strong>er kommunistischen Gruppe<br />

gekommen, <strong>in</strong> deren Verlauf die<br />

Nazis e<strong>in</strong> Mitglied der KPD<br />

erschossen. Obwohl dieser Mord<br />

aufgeklärt und abgeurteilt werden<br />

konnte, blieb es weiterh<strong>in</strong> bei solchen<br />

gewaltsamen Ause<strong>in</strong>andersetzungen.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel sei hier noch<br />

angeführt. Der Zeitungsbericht<br />

stammt aus der „Volkswacht" vom<br />

30. Juli 1932:<br />

„Politische Schlägerei beim<br />

Arbeitsamt<br />

SA-Leute schreien — Blutbad<br />

durch die Polizei verh<strong>in</strong>dert.<br />

Gestern morgen gegen 11.30 Uhr<br />

kam es vor dem <strong>Paderborn</strong>er<br />

Arbeitsamt zu e<strong>in</strong>er schweren<br />

Schlägerei zwischen SA-Leuten<br />

und Kommunisten. Die Kürzungen<br />

der Papenschen Notverordnung<br />

traten heute <strong>in</strong> aller Schärfe <strong>in</strong><br />

Kraft. Die dadurch hervorgerufene<br />

Erregung steigerte sich spontan, als<br />

Nazis kamen und den , Völkischen<br />

Beobachter' verteilen wollten. Aus<br />

e<strong>in</strong>em erregten Wortwechsel entwickelte<br />

sich e<strong>in</strong>e Schlägerei. Mehrere<br />

Nazis mußten mit Verletzungen<br />

das Feld räumen. E<strong>in</strong>er, der<br />

e<strong>in</strong>en Schuß abgegeben hatte,<br />

suchte se<strong>in</strong> Heil <strong>in</strong> der Flucht.<br />

Polizei traf gleich e<strong>in</strong> und nahm<br />

e<strong>in</strong>e Zwangsgestellung vor. Das<br />

Überfallkommando der braunen<br />

Jünger erschien ebenfalls mit<br />

e<strong>in</strong>em Auto, wurde jedoch sofort<br />

von der Polizei abgeschoben. —<br />

Was geschehen wäre, wenn das<br />

Rollkommando der Nazis früher<br />

als die Polizei erschienen wäre,<br />

kann man sich an se<strong>in</strong>en fünf F<strong>in</strong>gern<br />

abzählen. — Wie wir noch<br />

erfahren, ist der SA-Mann, der<br />

geschossen hatte, festgenommen<br />

worden. E<strong>in</strong> anderer ist nach Zeugenaussagen<br />

mit der Pistole <strong>in</strong> der<br />

Hand abgesprungen und entkommen.<br />

"<br />

Unterstützung Arbeitsloser<br />

An diesem Beispiel ist gut zu<br />

sehen, daß die wirtschaftliche Not<br />

den H<strong>in</strong>tergrund der politischen<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen abgab und<br />

daß es die KPD war, die vor allem<br />

„auf der Straße" die Konflikte mit<br />

den Nazis austrug. Für die <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

waren es weiterh<strong>in</strong> die<br />

parlamentarischen Gremien, <strong>in</strong><br />

denen sie etwas zu ändern hofften.<br />

So auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>. Beispielhaft<br />

für diese parlamentarische Arbeit<br />

waren Konflikte um die Unterstützung<br />

der von wirtschaftlicher Not<br />

Bedrängten.<br />

Die Arbeitslosenzahlen hatten sich<br />

<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> <strong>in</strong> den <strong>Jahre</strong>n 1929<br />

bis 1933 dabei folgendermaßen<br />

entwickelt:<br />

Dez. 1929 Juli 1930 Dez. 1930<br />

4.524 3.567 7.318<br />

Dez. 1931 Dez. 1932 Juni 1933<br />

8.642 9.724 7.318<br />

Im Mai 1932 war es zudem zu<br />

e<strong>in</strong>er großen Entlassungswelle <strong>in</strong><br />

den beiden Eisenbahnausbesserungswerken<br />

gekommen, die e<strong>in</strong>e<br />

Art „Hochburg" der Sozialdemokratie<br />

bildeten und bei der über<br />

400 Arbeiter ihre Arbeit verloren.<br />

In <strong>Paderborn</strong> waren es damit zu<br />

diesem Zeitpunkt mehr als 18.000<br />

Personen, die „die Erwerbslosigkeit<br />

ihres Ernährers zu beklagen<br />

hatten", wie es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bericht<br />

des „Volksblattes" hieß. Weiter<br />

hieß es dazu im selben Bericht:<br />

„Die Bürgerschaft wird, soweit es<br />

ihr noch möglich ist, Geme<strong>in</strong>schaftss<strong>in</strong>n<br />

zeigen und versuchen<br />

müssen, den so hart betroffenen<br />

Familien ihr Los möglichst zu<br />

erleichtern." Wie dieser Geme<strong>in</strong>schaftss<strong>in</strong>n<br />

aussehen konnte, darüber<br />

gab e<strong>in</strong> Bericht der sozialdemokratischen<br />

„Volkswacht", die <strong>in</strong><br />

Bielefeld erschien, e<strong>in</strong> deutliches<br />

Zeugnis.<br />

33


Die Ause<strong>in</strong>andersetzung war<br />

typisch für <strong>Paderborn</strong>. Zur Organisierung<br />

e<strong>in</strong>er W<strong>in</strong>terhilfe war<br />

wohl auf sozialdemokratische<br />

Initiative h<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Fürsorgebeirat<br />

gebildet worden, der Anträge auf<br />

Beihilfen zu prüfen gehabt hätte.<br />

Dennoch war es so, daß weiterh<strong>in</strong><br />

den Pfarrern diese Anträge vorgelegt<br />

wurden, wogegen sich die Partei,<br />

vor allem der Genösse<br />

Lück<strong>in</strong>g, wandte. Dies brachte ihm<br />

natürlich den Vorwurf e<strong>in</strong>,<br />

„die christliche Idee, den christlichen<br />

Geist aus der ganzen Unterstützungsaktion<br />

verbannen und<br />

diese ganz <strong>in</strong> das Fahrwasser sozialistischer<br />

Religionslosigkeit leiten"<br />

zu wollen. Im eigentlichen aber<br />

g<strong>in</strong>g es darum, die AWO aus e<strong>in</strong>er<br />

geplanten Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft der<br />

Wohlfahrtsvere<strong>in</strong>e herauszuhalten,<br />

und es war wiederholt auch vorgekommen,<br />

daß sozialdemokratische<br />

Familien bei ihren Anträgen auf<br />

Unterstützung Schwierigkeiten<br />

gehabt hatten. Die parlamentarische<br />

Arbeit der kle<strong>in</strong>en sozialdemokratischen<br />

Fraktion im <strong>Paderborn</strong>er<br />

Stadtrat war so <strong>in</strong> der<br />

Hauptsache auf die sozialen und<br />

wirtschaftlichen Belange der Arbeiter<br />

und der Bedürftigen gerichtet,<br />

und so fragt die „Volkswacht"<br />

zum Schluß ihres Artikels mit<br />

Recht: „Denn wer nennt uns die<br />

Person, die <strong>in</strong> den letzten <strong>Jahre</strong>n<br />

34<br />

so unermüdlich für das Allgeme<strong>in</strong><strong>in</strong>teresse<br />

und besonders für die<br />

Armen und Bedürftigen gearbeitet<br />

hat, wie unser Freund Lück<strong>in</strong>g?"<br />

Die Partei- und Fraktionsarbeit<br />

verlangte viel Zeit und Kraft, so<br />

daß man die Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit den großen politischen Konflikten<br />

im wesentlichen den Parteivorständen<br />

<strong>in</strong> Bielefeld und Berl<strong>in</strong><br />

überließ. Daraus ergab sich vielleicht<br />

zwangsläufig e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Hilflosigkeit dem aufkommenden<br />

Nationalsozialismus gegenüber. Als<br />

Dokument e<strong>in</strong> Bericht über die<br />

Generalversammlung der Partei<br />

wenige Wochen vor der Machtübernahme<br />

der Nazis:<br />

„Die Generalversammlung der<br />

Sozialdemokratischen Partei bewies<br />

wieder e<strong>in</strong>mal die E<strong>in</strong>mütigkeit<br />

und Geschlossenheit der Bewegung<br />

<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>. Trotz der Krise und<br />

der steigenden Arbeitslosigkeit war<br />

es möglich, im <strong>Jahre</strong> 1932 der Partei<br />

neue Mitglieder zuzuführen.<br />

Die Aktivität und Bereitwilligkeit<br />

der Funktionäre ermöglichten es<br />

der örtlichen Leitung, allen Anforderungen,<br />

besonders <strong>in</strong> den Wahlkämpfen,<br />

nachzukommen. Die <strong>in</strong><br />

der Wohlfahrtspflege geleistete<br />

Arbeit des Funktionärkörpers und<br />

die erzielten Erfolge wurden besonders<br />

anerkannt. Die Zusammenarbeit<br />

mit den anderen freien Organisationen<br />

war im <strong>Jahre</strong> 1932 für<br />

alle fördernd und im Interesse der<br />

Gesamtbewegung. Der Vorstand<br />

wurde unter H<strong>in</strong>zuziehung e<strong>in</strong>es<br />

weiteren weiblichen Vertreters <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er früheren Zusammensetzung<br />

wiedergewählt und ihm dadurch<br />

das Vertrauen der Mitgliedschaft<br />

am besten bewiesen. Möge das<br />

Kampf jähr 1933 uns genau so<br />

gerüstet f<strong>in</strong>den wie das Kampf jähr<br />

1932!"<br />

Machtübernahme der Nazis<br />

In der alten Jubiläumsschrift zum<br />

50. Gründungsjahr der Partei <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> wird der Faschismus<br />

noch als „lächerlich" dargestellt,<br />

dem man überlegen begegnete und<br />

der, so muß es sche<strong>in</strong>en, eigentlich<br />

ke<strong>in</strong>en Erfolg hätte haben können.<br />

So wurde damals unter der Überschrift<br />

„Er<strong>in</strong>nerung an Carl Sever<strong>in</strong>g"<br />

die Begegnung mit den Nazis<br />

dargestellt:<br />

„In dieser Zeit, es war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Versammlung im <strong>Jahre</strong> 1932, vermachte<br />

der damalige preußische<br />

Innenm<strong>in</strong>ister, Carl Sever<strong>in</strong>g,<br />

e<strong>in</strong>em braunen Diskussionsredner<br />

auch se<strong>in</strong> — angebliches — Vermögen<br />

<strong>in</strong> der Schweiz. Da Sever<strong>in</strong>g<br />

wegen e<strong>in</strong>er Konferenz erst<br />

nach Versammlungsbeg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>treffen<br />

konnte, benutzte der Mann die<br />

Gelegenheit, <strong>in</strong> den Saal des ,Kaiserhofes'<br />

am Kamp zu rufen, Sever<strong>in</strong>g<br />

werde nicht kommen. Er sei


<strong>in</strong> die Schweiz geflüchtet, wo er<br />

se<strong>in</strong> Geld bereits <strong>in</strong> Konten und<br />

e<strong>in</strong>er schloßähnlichen Villa angelegt<br />

habe.<br />

Sever<strong>in</strong>g erschien — leicht verspätet<br />

— trotzdem. Er bat den , Vorredner'<br />

auf die Bühne und schlug<br />

ihm vor, durch e<strong>in</strong>en notariell<br />

beglaubigten Vertrag jegliche ausländischen<br />

Besitztümer Sever<strong>in</strong>gs,<br />

seien sie sachlicher oder f<strong>in</strong>anzieller<br />

Art, als hochherziges Geschenk<br />

anzunehmen. Mit dieser Parade<br />

hatte Sever<strong>in</strong>g dem Nazi das Wasser<br />

abgegraben. Gelächter und Beifall!<br />

Der Gelackmeierte schlich von<br />

dannen ..."<br />

Aber am 30. Januar 1933 kam<br />

Hitler doch an die Macht, und die<br />

Verfolgung vor allem der Arbeiterbewegung<br />

nahm nun härteste Formen<br />

an. Am 27. Februar brannte<br />

der Reichstag, die kommunistische<br />

Partei wurde unterdrückt und die<br />

Presse der Arbeiterbewegung zum<br />

Schweigen verurteilt. Dies traf<br />

auch die „Volkswacht" <strong>in</strong> Bielefeld.<br />

Die Wahlen am 6. März 1933<br />

zum Reichstag, die unter größtem<br />

Terror gegen die Arbeiterparteien<br />

stattfanden, brachten dennoch den<br />

Nazis nicht die erhoffte absolute<br />

Mehrheit. Sie erhielten 43,9%,<br />

hatten aber mit der Kampffront<br />

Schwarz-Weiß-Rot, die 8 % erhalten<br />

hatte, die Mehrheit. Die Arbeiterparteien<br />

waren nur unwesentlich<br />

abgesunken: die <strong>SPD</strong> erhielt<br />

18,3% (Nov. 32: 20,4%), die<br />

KPD erhielt 12,3 % (Nov. 32:<br />

16,8 %). Das Zentrum hatte se<strong>in</strong>en<br />

Bestand fast halten können:<br />

11,2% (Nov. 32: 11,9%).<br />

Trotzdem bedeutete dies e<strong>in</strong>en<br />

„Sieg" des nationalistischen<br />

Lagers, dem die Arbeiterparteien<br />

nichts mehr entgegenzuhalten vermochten<br />

und dem das Zentrum<br />

schon nichts mehr entgegenhalten<br />

wollte.<br />

In <strong>Paderborn</strong> hatten sich bis auf<br />

den Sprung der Nazipartei von<br />

9,5 % auf 21,8 % zunächst ke<strong>in</strong>e<br />

großen Veränderungen ergeben.<br />

Der Erfolg der NSDAP war nicht<br />

zu Lasten des Zentrums gegangen,<br />

sondern ergab sich aus dem Zerfall<br />

aller anderen bürgerlichen Gruppierungen.<br />

<strong>SPD</strong> und KPD erhielten<br />

<strong>in</strong> der Stadt <strong>Paderborn</strong> ihre knapp<br />

6 % bzw. 4 %. Aus der Zeit zwischen<br />

dem 30. Januar und der<br />

Reichstagswahl im März existieren<br />

ke<strong>in</strong>e Zeugnisse größerer sozialdemokratischer<br />

Agitation. Aus<br />

Gesprächen mit alten Genossen<br />

war eher herauszuhören, daß es<br />

auch jetzt vor allem wirtschaftliche<br />

Sorgen waren, die die Arbeiter<br />

bedrängten. In Wahlkämpfen, so<br />

war zu vernehmen, hatten <strong>in</strong>sbesondere<br />

junge Parteimitglieder<br />

auch handgreifliche Ause<strong>in</strong>ander-<br />

Standartenführer Jostmeier bei der Weihe der neuen Standarte durch<br />

Hitler auf dem Reichsparteitag 1934<br />

35


Setzungen mit den Nazis gehabt.<br />

Man war gegen die Nazis, aber<br />

gleichzeitig versuchte man zu<br />

sehen, „wie das Leben weitergehen<br />

konnte".<br />

<strong>Paderborn</strong> sah derweil, wie das<br />

übrige „Reich", Festumzüge und<br />

andere Propagandaveranstaltungen<br />

der Nazis, an denen sich mehr<br />

oder weniger auch die erst noch<br />

weiterexistierenden bürgerlichen<br />

Parteien oder die Stadt selbst<br />

beteiligten. So beim sogenannten<br />

„Tag von Potsdam", am 21. März<br />

1933, der zum Nationalfeiertag<br />

erklärt worden war. In e<strong>in</strong>em Pressebericht<br />

über die Feiern <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

heißt es dazu: „Noch lange<br />

bewegte sich e<strong>in</strong>e festlich gestimmte<br />

Menschenmenge durch die Straßen<br />

der Stadt. Überall sah und<br />

hörte man kle<strong>in</strong>ere Gruppen unter<br />

dem Gesang des Deutschlandliedes<br />

und des Horst- Wessel-Liedes den<br />

heimatlichen Penaten zustreben.<br />

Besonders die Schuljugend tat sich<br />

dabei hervor ...So wurde der<br />

historische Tag <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> mit<br />

e<strong>in</strong>er — man kann wohl behaupten<br />

— seltenen Begeisterung begangen.<br />

Möge es e<strong>in</strong> Auftakt se<strong>in</strong> zu friedlicheren,<br />

besseren Zeiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

gee<strong>in</strong>ten neuen Deutschland."<br />

Daß es nicht friedlich werden<br />

sollte, zeigte sich im ganzen erst<br />

später und doch für viele schon<br />

gleich zu Anfang des Dritten Rei-<br />

36<br />

ches. Die Verfolgungen, Verhaftungen,<br />

Verhöre und Folterungen und<br />

oft der Tod gehörten gleich zum<br />

Auftakt der Naziherrschaft, und,<br />

so war zu hören, die Kommunisten<br />

seien gleich verhaftet worden und<br />

„nicht wiedergekommen".<br />

Schon am 28. März war es <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> zum Boykott jüdischer<br />

Geschäfte gekommen. Manche versuchten<br />

wohl noch, diesen Boykott<br />

nicht wahrzunehmen, aber weiteres<br />

geschah nicht. Dafür aber ernannte<br />

die Stadt am 20. April Adolf Hitler<br />

e<strong>in</strong>stimmig zum Ehrenbürger<br />

von <strong>Paderborn</strong> — und das mit den<br />

Stimmen der <strong>Sozialdemokraten</strong>.<br />

Das Protokollbuch des Rates der<br />

Stadt weist es aus.<br />

Wieso? Warum? Aus den Interviews<br />

ergab sich ke<strong>in</strong>e Antwort auf<br />

die Frage. Unumstritten sche<strong>in</strong>t die<br />

Zustimmung der sozialdemokratischen<br />

Ratsherren nicht gewesen zu<br />

se<strong>in</strong>, wie die Interviewten berichteten.<br />

Was kann die <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

im Rat veranlaßt haben, zuzustimmen?<br />

Man kann nur Vermutungen<br />

anstellen. Vielleicht ist dieses<br />

Verhalten e<strong>in</strong>e Folge des sozialdemokratischen<br />

Legalismus<br />

(Respekt vor Gesetzen, gewählten<br />

Gremien und Personen).<br />

Hitler war nicht e<strong>in</strong>fach nur der<br />

Führer der Nazipartei, ne<strong>in</strong>, er war<br />

Reichskanzler und damit e<strong>in</strong>e<br />

höchste Autorität. Die Ehrenbür-<br />

gerschaft für den Reichskanzler,<br />

wer hätte sie verweigern mögen?<br />

Autoritätsglaube auch der sozialdemokratischen<br />

Politik. Die E<strong>in</strong>mütigkeit<br />

der <strong>Paderborn</strong>er <strong>in</strong> den großen<br />

nationalen Fragen: vielleicht<br />

gehörte auch das dazu?<br />

Am 12. März hatte es noch e<strong>in</strong>mal<br />

Kommunalwahlen gegeben. Das<br />

Zentrum hatte immer noch 50,4 %<br />

(1929: 60,3 %) erhalten, die<br />

NSDAP, die 1929 nicht kandidiert<br />

hatte, bekam 23,4%, aber die<br />

Stimmen der <strong>SPD</strong> hatten sich halbiert<br />

von 16,8% auf 8,6%. Das<br />

waren statt 6 nur noch 3 Mandate.<br />

Die KPD erhielt e<strong>in</strong> wenig mehr:<br />

statt 1,2 (1929) jetzt 1,8%. Die<br />

letzten sozialdemokratischen Stadtverordneten<br />

waren He<strong>in</strong>rich<br />

Lück<strong>in</strong>g, Karl Denkner und Georg<br />

Gruber.<br />

Dazu noch e<strong>in</strong>e merkwürdig stimmende<br />

Anekdote, die man sich<br />

unter <strong>Sozialdemokraten</strong> erzählt:<br />

Die SA, heißt es, hätte vorgehabt,<br />

beim E<strong>in</strong>zug der neuen Stadtverordneten<br />

<strong>in</strong>s Rathaus die <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

„anzurempeln". Als<br />

diese dann kamen, habe man von<br />

Seiten des SA-Trupps e<strong>in</strong> großes<br />

„Hallo" und Geschrei angestimmt<br />

und hätte auf die Stadtverordneten<br />

losgehen wollen. Da aber hätten<br />

sie gesehen, daß Georg Gruber<br />

se<strong>in</strong>e Kriegsauszeichnung, den<br />

Pour le merite, den höchsten


Orden des I. Weltkrieges, angelegt<br />

hatte. Sofort hätte man auf Anruf<br />

des SA-Führers die „Hacken<br />

zusammengeschlagen" und e<strong>in</strong>e<br />

Ehrenbezeugung geleistet. Und so<br />

seien die <strong>Sozialdemokraten</strong> unbehelligt<br />

<strong>in</strong>s Rathaus gelangt.<br />

Kl<strong>in</strong>gt die Geschichte nun<br />

komisch, oder kann sie nicht eher<br />

nachdenklich machen? Was sagt<br />

sie, gleichgültig ob sie wahr oder<br />

erfunden ist, über Stimmung und<br />

Bewußtse<strong>in</strong> damals aus?<br />

Gleichschaltung und Auflösung der<br />

<strong>SPD</strong><br />

Es folgte die Zeit der Gleichschaltung<br />

von Stadtverwaltungen und<br />

Stadtvertretungen. Der westfälische<br />

Oberpräsident, e<strong>in</strong> Mann des Zentrums,<br />

war am 17. Februar abgesetzt<br />

worden, zum 1. April war e<strong>in</strong><br />

überzeugter Nazi zum M<strong>in</strong>dener<br />

Regierungspräsidenten bestellt worden,<br />

und nach dem Gesetz zur<br />

Wiederherstellung des Berufsbeamtentums<br />

vom 7. April war es zu<br />

Säuberungen der Stadtverwaltungen<br />

von allen „unzuverlässigen"<br />

und „nichtarischen" Beamten<br />

gekommen. Nach längerem H<strong>in</strong><br />

und Her hatte sich <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

die Stadtverordnetenversammlung<br />

selbst aufgelöst; nur e<strong>in</strong>en Monat<br />

später, Anfang Juli 1933, wurde<br />

OB Haerten (Zentrum) „zwangsbeurlaubt",<br />

obwohl er sich immer<br />

Niederlegung des Stadtverordnetenmandats durch He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g<br />

am 30. 4. 1933<br />

Pressenotiz über die Verhaftung von He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g und<br />

Georg Gruber<br />

37


Die Parteiorganisation löste sich<br />

auf. Listen von Mitgliedern ließ<br />

man verschw<strong>in</strong>den. Restschulden<br />

wurden bezahlt. Für e<strong>in</strong>e Weiterarbeit<br />

der hiesigen Partei <strong>in</strong> der Illegalität<br />

gibt es ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise.<br />

Aber die Mitglieder der Partei versuchten<br />

<strong>in</strong> dieser Zeit, totale<br />

Anpassung zu vermeiden.<br />

Aktennotiz vom 27. 6. 1933 über die Unterdrückung der <strong>SPD</strong>-Mandate<br />

wieder zu den neuen Machthabern<br />

bekannt hatte. Im August 1933<br />

kam es dann zur „Ernennung"<br />

e<strong>in</strong>er Stadtverordnetenversammlung<br />

auf Vorschlag der Nazis, die<br />

dann im Januar 1934 nach dem<br />

neuen Geme<strong>in</strong>deverfassungsgesetz<br />

endgültig aufgelöst wurde.<br />

Welche Rolle konnten bis dah<strong>in</strong><br />

noch die <strong>Sozialdemokraten</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> spielen? Am 30. April<br />

1933 hatte He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g se<strong>in</strong><br />

Mandat niedergelegt. Warum? Das<br />

war nicht mehr zu rekonstruieren.<br />

Der Versuch, für ihn gemäß den<br />

immer noch geltenden Gesetzen<br />

e<strong>in</strong>en Nachfolger zu f<strong>in</strong>den, schlug<br />

damals fehl. Alle Ersatzkandidaten<br />

auf den Wahllisten lehnten ab. In<br />

der schon erwähnten Jubiläumsschrift<br />

der Partei heißt es: „Da e<strong>in</strong><br />

Verbot der <strong>SPD</strong> unmittelbar bevorstand<br />

... hatten die Parteifreunde<br />

abgemacht, sich gegenseitig zu<br />

decken und Interesselosigkeit am<br />

weiteren Parteileben zu heucheln. "<br />

Die Ablehnungen, das Mandat von<br />

Lück<strong>in</strong>g wahrzunehmen, lassen<br />

erkennen, daß die Ersatzkandidaten<br />

auf der Wahlliste ke<strong>in</strong>e Hoffnung<br />

mehr hatten, im Rat der<br />

Stadt sozialdemokratische Politik<br />

vertreten zu können. Auch die<br />

Aussagen alter Genossen belegen<br />

das. Widerstand mit Aussicht auf<br />

Erfolg war nicht vorstellbar und<br />

schien den <strong>Paderborn</strong>er Genossen<br />

nicht möglich, allenfalls bei Gefahr<br />

für Leib und Leben. Der Platz von<br />

Lück<strong>in</strong>g blieb leer. Die <strong>SPD</strong> wurde<br />

am 20. 6. 1933 im ganzen Reich,<br />

so auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> verboten.<br />

Verbot der Gewerkschaften<br />

Die Gewerkschaften klammerten<br />

sich an die Illusion, daß e<strong>in</strong> Vergleich<br />

mit den Nationalsozialisten<br />

möglich sei. Nur so ist zu verstehen,<br />

daß sie zum 1. Mai 1933 ihre<br />

Mitglieder aufriefen, an den<br />

Umzügen zum „Tag der nationalen<br />

Arbeit" teilzunehmen; die Arbeiter<br />

mußten unter den Hakenkreuzfahnen<br />

„mitmarschieren".<br />

Dennoch war Hitler entschlossen,<br />

die Gewerkschaften völlig auszuschalten.<br />

Am 2. Mai wurden dann die<br />

Freien Gewerkschaften zerschlagen;<br />

die christlichen „erst" am 24.<br />

Juni. Ob <strong>Paderborn</strong>er Gewerkschafter<br />

am 1. Mai mitg<strong>in</strong>gen, war<br />

nicht e<strong>in</strong>deutig festzustellen. In<br />

dem von Begeisterung über die<br />

neue nationale E<strong>in</strong>heit überschäumenden<br />

Bericht des „Westfälischen<br />

Volksblattes" werden fast alle<br />

Organisationen — auch die christlichen<br />

Gewerkschaften, die katholischen<br />

Vere<strong>in</strong>e und Jugendgruppen<br />

38


Ausschluß Georg Grubers aus der Stadtverordnetenversammlung und<br />

dem Elternbeirat der evangelischen Schule <strong>Paderborn</strong> am 8. 7. 1933<br />

— der Stadt <strong>Paderborn</strong> aufgezählt,<br />

die Freien Gewerkschaften nicht.<br />

Am 2. Mai wurde dann auch <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> das Gewerkschaftsbüro<br />

der Freien Gewerkschaften besetzt,<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g und Georg Gruber<br />

wurden vorübergehend verhaftet,<br />

aber bald schon wieder freigelassen.<br />

Damit hörten auch <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> die Freien Gewerkschaften<br />

auf zu bestehen. Lück<strong>in</strong>g<br />

wurde im Juni vom Reichsbahnausbesserungswerk<br />

wegen „des<br />

Verdachts staatsfe<strong>in</strong>dlicher E<strong>in</strong>stellung"<br />

aufgrund se<strong>in</strong>er „früheren<br />

E<strong>in</strong>stellung zum Nationalsozialismus"<br />

und weil er nicht die<br />

Gewähr biete, „fest h<strong>in</strong>ter der<br />

Regierung Adolf Hitler zu stehen",<br />

entlassen.<br />

Diese Entlassung wurde nach e<strong>in</strong>iger<br />

Zeit wieder aufgehoben,<br />

Lück<strong>in</strong>g konnte an se<strong>in</strong>e Arbeitsstelle,<br />

wenn auch zuerst wohl nicht<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e alte Stellung, zurückkehren.<br />

Die Ausschaltung der <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

aus allen öffentlichen<br />

Bereichen fand ihren Abschluß <strong>in</strong><br />

der Ausschließung von Georg Gruber<br />

aus der Stadtverordnetenversammlung,<br />

die allerd<strong>in</strong>gs zu dieser<br />

Zeit schon „selbstaufgelöst" war,<br />

und aus dem Elternbeirat der<br />

evangelischen Schule. Der Ausschluß<br />

aus dem Stadtparlament<br />

erfolgte aufgrund e<strong>in</strong>er Verfügung,<br />

die besagte: „Sämtliche Mitglieder<br />

39


der <strong>SPD</strong>, die noch Volksvertretungen<br />

und Geme<strong>in</strong>devertretungen<br />

angehören, s<strong>in</strong>d von der weiteren<br />

Ausübung ihrer Mandate ausgeschlossen."<br />

Dies traf <strong>in</strong> gleicher<br />

Weise auch den anderen Mandatsträger<br />

der Partei, Karl Denkner.<br />

Er wurde damit gleichzeitig aus<br />

dem Kreistag des Kreises <strong>Paderborn</strong><br />

ausgeschlossen.<br />

Kündigungsschreiben des Reichsbahnausbesserungswerks an<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g<br />

Leben unter den Nazis<br />

Was taten die Mitglieder der Partei<br />

nun weiter? Darüber gibt es fast<br />

ke<strong>in</strong>e schriftlichen Quellen. Aber<br />

e<strong>in</strong>ige alte Genossen konnten e<strong>in</strong>en<br />

E<strong>in</strong>druck vom Leben während dieser<br />

Zeit geben:<br />

Die Nazis hätten, von e<strong>in</strong>igen<br />

„Hausdurchsuchungen", bei denen<br />

sie dann Bebel-Bilder zerschlagen<br />

hätten, abgesehen, den <strong>Paderborn</strong>er<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> „nichts weiter<br />

getan". Ab und zu sei es wohl<br />

auch zu Festnahmen gekommen,<br />

aber nur für jeweils kurze Zeit, zu<br />

Verhören, ob noch etwas mit der<br />

Parteiarbeit sei. Immerh<strong>in</strong> hielten<br />

die <strong>Sozialdemokraten</strong> weiter<br />

zusammen. In „Port Arthur"<br />

wohnten fast nur ehemalige <strong>Sozialdemokraten</strong>,<br />

die es ihrem Herzen<br />

nach weiterh<strong>in</strong> waren. Manchmal<br />

„vergaß" man dann das Flaggen<br />

am 20. April, Hitlers Geburtstag.<br />

Dafür wurde zwei Tage später<br />

„Schwarz-Weiß-Rot" gezeigt, nicht<br />

40


die Hakenkreuz-Fahne. Am 22.<br />

April aber war He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>gs<br />

Geburtstag. E<strong>in</strong> wenig Ironie, versteckte<br />

Opposition.<br />

Arbeitslos waren viele <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

vor 1933, und mehr noch<br />

die Kommunisten. Nach 1933 g<strong>in</strong>g<br />

es dann langsam wieder „aufwärts",<br />

und z.T. bekamen <strong>SPD</strong>-<br />

Mitglieder erst nur schlechte Stellen.<br />

Beim Ausbau des Flughafens<br />

sei es dann anders geworden.<br />

Und die Arbeitervere<strong>in</strong>e, was<br />

wurde aus ihnen?<br />

Der Arbeitersportvere<strong>in</strong> wurde aufgelöst<br />

wie alle sozialdemokratischen<br />

Vere<strong>in</strong>e. Vorher aber nahm<br />

man Bälle, Trikots und anderes<br />

mit und schloß sich dann anderen<br />

Vere<strong>in</strong>en an. E<strong>in</strong>ige, die vorher<br />

mitgemacht hatten, mehr des<br />

Spiels als der Partei wegen, g<strong>in</strong>gen<br />

auch zur SA.<br />

Als dem Mandol<strong>in</strong>en-Club e<strong>in</strong><br />

Nazi vorgesetzt wurde, hat man<br />

sich alles „geschnappt" und „ist<br />

weg". Der Vere<strong>in</strong> hörte auf zu<br />

bestehen. So ähnlich ist es fast<br />

überall gelaufen; die Kassen wurden<br />

noch ordnungsgemäß abgeschlossen<br />

und übergeben. Oft<br />

genug an die Vertreter der NSDAP<br />

oder an staatliche Stellen. Für das<br />

alles gab es Verordnungen, Erlasse,<br />

Gesetze.<br />

Das Leben g<strong>in</strong>g also weiter; zwar<br />

gab es wieder Arbeit, aber die<br />

soziale Lage der meisten änderte<br />

sich nicht viel. Wie überall <strong>in</strong><br />

Deutschland wurde die jüdische<br />

Bevölkerung auch aus <strong>Paderborn</strong><br />

verschleppt und kam <strong>in</strong> den Konzentrationslagern<br />

der Nazis um.<br />

Auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> brannte im<br />

November 1938 die Synagoge.<br />

Auch hier wurden die politischen<br />

Gegner der Nazis verfolgt, aber<br />

eigentlicher Widerstand bildete sich<br />

hier kaum; auch nicht aus den<br />

Reihen der <strong>Sozialdemokraten</strong>.<br />

Wäre mehr Widerstand möglich<br />

gewesen? Die Antwort ist schwierig.<br />

Die Rolle e<strong>in</strong>er sozialen, politischen<br />

und oft konfessionellen M<strong>in</strong>derheit,<br />

die die <strong>SPD</strong> <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

spielte, die E<strong>in</strong>gebundenheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Milieu aus Untertanengeist und<br />

prov<strong>in</strong>zieller Enge, Staats- und<br />

Autoritätsgläubigkeit, verhaftet<br />

dem nationalen Gedanken, ließ<br />

vielleicht kaum etwas anderes zu<br />

als Stillehalten. Man rang wohl<br />

vor 1933 immer noch eher um die<br />

soziale Anerkennung des Arbeiters<br />

als gleichberechtigten Bürgers,<br />

suchte die Lage der Arbeiter und<br />

der vielen anderen Bedürftigen zu<br />

bessern, aber man dachte sicherlich<br />

nicht an die Umwälzung der gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse. Der<br />

Nationalsozialismus realisierte propagandistisch<br />

und demagogisch die<br />

Ansprüche der Arbeiterschaft auf<br />

Gleichberechtigung und zerschlug<br />

gerade darum alle ihre selbständigen<br />

Organisationen. Dies wurde<br />

mehr oder m<strong>in</strong>der erbittert h<strong>in</strong>genommen,<br />

wobei sich auch kaum<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> den Nazis<br />

zuwendeten und viele Verweigerungshaltung<br />

zeigten, wo es eben<br />

g<strong>in</strong>g. Heute wird oft diskutiert, ob<br />

und warum es gegen die NS-<br />

Herrschaft ke<strong>in</strong>en massiven Widerstand<br />

gab, auch nicht von der<br />

Basis der Sozialdemokratie.<br />

Aber muß man sich nicht fragen,<br />

ob wir Nachgeborenen unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen der damaligen Zeit,<br />

der miserablen wirtschaftlichen<br />

Lage, den großen Versprechungen<br />

Hitlers und den Terrordrohungen<br />

von SA und SS <strong>in</strong> der Lage gewesen<br />

wären, Widerstand zu leisten?<br />

Wir dürfen im nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> nicht<br />

verurteilen, müssen aber <strong>in</strong> unserer<br />

heutigen Welt aufmerksam se<strong>in</strong> für<br />

Gewalt und Unterdrückung und<br />

e<strong>in</strong> solches oder ähnliches Gewaltregime<br />

rechtzeitig zu verh<strong>in</strong>dern<br />

suchen.<br />

Als der Faschismus endlich von<br />

außen niedergerungen war, g<strong>in</strong>g<br />

man daran, all das wieder aufzubauen,<br />

was die Nazis zerschlagen<br />

hatten. Aber war es dasselbe,<br />

konnte so unmittelbar an das wieder<br />

angeknüpft werden, was 1933<br />

aufgegeben werden mußte?<br />

41


Ergebnis des „Tausendjährigen Reiches": Blick auf den Rathausplatz 1945, im H<strong>in</strong>tergrund der zerstörte Dom.<br />

42


Wiederaufbau und Entwicklung der<br />

<strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> nach 1945<br />

„Gebt mir vier <strong>Jahre</strong> Zeit — und<br />

ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen",<br />

hatte Hitler bei den<br />

Wahlen 1933 von se<strong>in</strong>en Wählern<br />

gefordert. Zwölf <strong>Jahre</strong> und drei<br />

Monate nach der „Machtübernahme"<br />

kannte tatsächlich niemand<br />

Deutschland wieder. Diejenigen<br />

Männer und Frauen, die nach den<br />

Verfolgungen <strong>in</strong> den zwölf <strong>Jahre</strong>n<br />

brauner Herrschaft am meisten<br />

Grund gehabt hätten, jede weitere<br />

politische Verantwortung von sich<br />

zu weisen, stellten sich trotzdem<br />

als erste beim Wiederaufbau<br />

der zerstörten Heimat zur Verfügung.<br />

Nachdem das Leben im bombenzerstörten<br />

<strong>Paderborn</strong> e<strong>in</strong>ige<br />

Monate stagniert hatte, wurde am<br />

16. 7. 1945 von der britischen<br />

Besatzungsmacht e<strong>in</strong> Bürgerausschuß<br />

ernannt, der sich mit den<br />

wichtigsten Versorgungsfragen<br />

befaßte. Mitglieder dieses Bürgerausschusses<br />

waren von Seiten der<br />

<strong>SPD</strong> He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g, Karl<br />

Denkner und Hermann Brockmann.<br />

Diesem bis zum 10. 12.<br />

1945 amtierenden Ausschuß folgte<br />

e<strong>in</strong>e von der Militärregierung<br />

ernannte Stadtvertretung vom<br />

11. 12. 1945 bis 14. 9. 1946. In<br />

diesem 30-Mann-Gremium waren<br />

von der <strong>SPD</strong> vertreten: He<strong>in</strong>rich<br />

Lück<strong>in</strong>g, Hermann Brockmann,<br />

Karl Denkner, Karl Behrens, Paul<br />

Inacker, Franz Wiedemeier und<br />

Wilhelm Sandmann.<br />

Die erste freie Wahl<br />

Am 15. September 1946 folgten<br />

die ersten freien Wahlen nach<br />

1933.<br />

Nach dem damaligen Wahlmodus<br />

hatte jeder Wähler drei Stimmen,<br />

die er nach Belieben verteilen<br />

konnte. 18 077 Bürger waren wahlberechtigt,<br />

13 550 Stimmen wurden<br />

abgegeben. Ungültig waren 515<br />

Stimmen. Die CDU erhielt 17 8<strong>75</strong><br />

Stimmen, das Zentrum 8 640, die<br />

<strong>SPD</strong> 8 260, die KPD 860, und die<br />

Unabhängigen erhielten 712<br />

Stimmen.<br />

Infolge der Eigenart der Wahl<br />

erhielt die <strong>SPD</strong>, obwohl sie fast<br />

die Hälfte der CDU-Stimmenzahl<br />

auf sich vere<strong>in</strong>igen konnte, nur<br />

zwei Vertreter im Rat, die CDU<br />

jedoch 23, das Zentrum wiederum<br />

nur zwei! He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g und<br />

Paul Inacker zogen <strong>in</strong> den Rat.<br />

Inacker wurde kurze Zeit darauf<br />

nach Bielefeld versetzt, so daß als<br />

Ersatzmann am 7. 11. 1946 Steuersekretär<br />

Wilhelm Sandmann e<strong>in</strong>sprang.<br />

In der ersten Sitzung am<br />

27. September 1946 wurde He<strong>in</strong>rich<br />

Lück<strong>in</strong>g zum 2. Bürgermeister<br />

gewählt, e<strong>in</strong>e Stellung, die er lange<br />

<strong>Jahre</strong> h<strong>in</strong>durch <strong>in</strong>nehatte.<br />

Durch Verordnung der Militärregierung<br />

am 15. September 1945<br />

war die Bildung von politischen<br />

Parteien und deren Betätigung<br />

gestattet worden. Im November<br />

1945 gründete <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> das<br />

Zentrum die erste Kreisgruppe, im<br />

Januar 1946 folgte die CDU und<br />

wenig später die <strong>SPD</strong>. Vorsitzender<br />

des <strong>SPD</strong>-Ortsvere<strong>in</strong>s wurde He<strong>in</strong>rich<br />

Lück<strong>in</strong>g, der auch <strong>in</strong> den<br />

Landtag delegiert wurde. Se<strong>in</strong><br />

Nachfolger wurde 1950 bei der<br />

Landtagswahl DGB-Gewerkschaftssekretär<br />

Hermann Brockmann<br />

(über die Reserveliste).<br />

Am 3. April 1946 erschien e<strong>in</strong>e<br />

neue Zeitung <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>, die<br />

FREIE PRESSE. Der Phönix-Verlag<br />

Bielefeld, die <strong>Paderborn</strong>er<br />

<strong>Sozialdemokraten</strong> und Carl Sever<strong>in</strong>g<br />

hatten die Lehren aus den<br />

Presseverhältnissen der Weimarer<br />

Zeit gezogen und <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

e<strong>in</strong>e Lokalausgabe der Bielefelder<br />

sozialdemokratischen Tageszeitung<br />

<strong>in</strong>s Leben gerufen, die bis zum<br />

Übergang <strong>in</strong> die NEUE WESTFÄ-<br />

LISCHE bestand.<br />

Am 17. Oktober 1948 folgte die<br />

zweite freie Kommunalwahl <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong>. Mit 2 990 Stimmen<br />

stellte die <strong>SPD</strong> von 28 Stadtvertretern<br />

sieben. Den komplizierten<br />

Wahlmodus von 1946 hatte man<br />

fallengelassen. Ratsherren wurden<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g, Hermann<br />

43


Brockmann, Wilhelm Sandmann,<br />

Gustav Zogoll, Josefa Mischke,<br />

Gustav Geile (DGB-Sekretär) und<br />

Josef Jost.<br />

Es war nicht leicht, <strong>in</strong> dieser Zeit<br />

Ratsherr zu se<strong>in</strong>. Viele Schwierigkeiten<br />

mußten überwunden werden.<br />

Die Arbeit der <strong>SPD</strong>-Fraktion<br />

im Stadtrat wurde von der Bevölkerung<br />

anerkannt, denn bei den<br />

Kommunal wählen vom 9. November<br />

1952 erhielt die <strong>SPD</strong> 5 135<br />

Stimmen. Die <strong>SPD</strong> schickte neun<br />

Ratsherren von 38 <strong>in</strong> das Stadtparlament:<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g, Josefa<br />

Mischke, Gustav Geile, Josef Wittenberg,<br />

Gustav Zogoll, Hermann<br />

Brockmann, He<strong>in</strong>rich Göke, Wilhelm<br />

Sandmann und Albert<br />

Gnade. Während dieser Legislaturperiode<br />

ergaben sich e<strong>in</strong>ige Umstellungen<br />

durch Versetzung, Verzicht<br />

und Tod. Der schwerste Verlust<br />

war der Tod von Hermann Brock-<br />

mann, MdL, am 30. 8. 1953.<br />

Brockmanns Nachfolger wurde<br />

Redakteur Aloys Schwarze, der<br />

dann über viele <strong>Jahre</strong> h<strong>in</strong> als<br />

Sozialdemokrat die Bevölkerung<br />

des Paderbofner Raumes im Düsseldorfer<br />

Landtag vertrat (über die<br />

Reserveliste).<br />

Hermann Brockmann hatte nach<br />

e<strong>in</strong>er harten Wahlversammlung <strong>in</strong><br />

Bad Lippspr<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>en Herz<strong>in</strong>farkt<br />

erlitten. Er starb „<strong>in</strong> den Sielen".<br />

Der „Regierende" von Berl<strong>in</strong>, Willy Brandt, <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> bei der <strong>SPD</strong>-Kundgebung zur Landtagswahl 1958.<br />

Rund 4000 Menschen hörten der Rede aufmerksam zu.<br />

A4


Von den vielen Projekten, an<br />

denen er zum Nutzen der Allgeme<strong>in</strong>heit<br />

mitarbeitete, ist an erster<br />

Stelle die Städtische Realschule zu<br />

nennen. In e<strong>in</strong>er für die Anwesenden<br />

unvergeßlichen Ratssitzung im<br />

Saale der Stadtwerke am Bischofsteich<br />

gelang es ihm, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em glänzenden<br />

Plädoyer die Mehrheitsstimmung<br />

im Rat, die gegen diese<br />

Schule war, zu zerstreuen. Aktiv<br />

setzte er sich für e<strong>in</strong>e Unterschriftensammlung<br />

von Eltern der Realschüler<br />

e<strong>in</strong>. Heute ist die Realschule<br />

längst etwas Selbstverständliches<br />

geworden. Diese Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

damals zeigte: Auch <strong>in</strong><br />

der M<strong>in</strong>derheit kann e<strong>in</strong>e Fraktion<br />

erheblichen E<strong>in</strong>fluß auf kommunale<br />

Geschicke nehmen, vorausgesetzt,<br />

daß sie die besseren Argumente<br />

hat.<br />

Die nächste Wahl vom 28. Oktober<br />

1956 brachte zehn <strong>SPD</strong>-Ratsherren<br />

<strong>in</strong> den Stadtrat:<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g, Günther Almstedt,<br />

Karl Denkner, Gustav Geile,<br />

Ernst Hentschel, Detlef Kastner,<br />

Herbert Lubek, Sophie Menzel,<br />

Aloys Schwarze und Gustav<br />

Zogoll.<br />

Bei der Kommunal wähl 1961<br />

gelangten 9 Mitglieder der <strong>SPD</strong> <strong>in</strong>s<br />

Rathaus: Hubert Borghoff, Gustav<br />

Geile, Karl Kran, Herbert Lubek,<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g, Sophie Menzel,<br />

Karl Nolden, Konrad Nüsse, Aloys<br />

Schwarze. Stellvertretender Bürgermeister<br />

wurde He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g.<br />

Bei der Kommunalwahl 1964 kandidierte<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g nicht<br />

mehr. In diesem Jahr kamen <strong>in</strong>s<br />

Rathaus:<br />

Hubert Borghoff, Gustav Geile,<br />

Hermann Hegel, Hermann Hellmich,<br />

Herbert Lubek, Sophie Menzel,<br />

Karl Nolden, Resi Schmitthoff,<br />

Herbert Schulte und Hans<br />

Thöne. Gustav Geile wurde stellvertretender<br />

Bürgermeister. Hermann<br />

Hegel legte während der<br />

Amtsperiode se<strong>in</strong> Mandat nieder.<br />

Für ihn rückte Georg Bohla nach.<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g, Hermann<br />

Brockmann und Gustav Geile<br />

waren es, die (jeweils zeitweise als<br />

- Ortsvere<strong>in</strong>svorsitzende) die <strong>Paderborn</strong>er<br />

<strong>SPD</strong> <strong>in</strong> den <strong>Jahre</strong>n des<br />

Wiederaufbaus besonders stark<br />

So wie heute setzten sich auch schon Ende der 50er <strong>Jahre</strong> <strong>Sozialdemokraten</strong><br />

für das Ausbesserungswerk der Bundesbahn <strong>Paderborn</strong> e<strong>in</strong>.<br />

Die Arbeitsplätze sollten erhalten werden. Zum Bedauern der <strong>SPD</strong><br />

wurde e<strong>in</strong> Werk im Frühjahr 1959 praktisch geschlossen. Das Bild zeigt<br />

Aloys Schwarze (damals MdL), Ulrich Lohmar (damals MdB) und den<br />

damaligen A W-Personalratsvorsitzenden und stellv. Landrat Karl Behrens<br />

im Gespräch mit e<strong>in</strong>em Eisenbahner.<br />

45


prägten. Von 1960 bis 1970 lag der<br />

Vorsitz des Ortsvere<strong>in</strong>s bei Karl<br />

Nolden. He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g und<br />

Gustav Geile waren <strong>in</strong> den 50er<br />

bzw. 60er <strong>Jahre</strong>n auch Erste Bürgermeisterstellvertreter<br />

der Stadt<br />

<strong>Paderborn</strong>; Anfang der 70er <strong>Jahre</strong><br />

rückte auch hier Karl Nolden<br />

nach.<br />

Zwei Bundestagsabgeordnete der<br />

<strong>SPD</strong> waren der <strong>Paderborn</strong>er Partei<br />

lange <strong>Jahre</strong> h<strong>in</strong>durch verbunden:<br />

Ulrich Lohmar (der im Wahlkreis<br />

<strong>Paderborn</strong>-Wiedenbrück für die<br />

<strong>SPD</strong> kandidierte und über die<br />

Reserveliste <strong>in</strong> den Bundestag kam)<br />

und Karl-He<strong>in</strong>z Saxowski, 1981<br />

gestorben (der im Wahlkreis Büren<br />

— Höxter — Warburg kandidierte<br />

und ebenfalls über die Reserveliste<br />

<strong>in</strong> den Bundestag e<strong>in</strong>zog).<br />

Zu er<strong>in</strong>nern ist auch an Karl Behrens,<br />

der <strong>in</strong> den Aufbaujahren als<br />

Sozialdemokrat stellvertretender<br />

Landrat des Kreises <strong>Paderborn</strong> war.<br />

Versucht man die Probleme, vor<br />

denen <strong>in</strong> der Entwicklung nach<br />

1945 die <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> stand,<br />

kurz zu skizzieren, so ergibt sich<br />

folgendes Bild:<br />

Jubilarehrung der <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> um 1957:<br />

1. Reihe von l<strong>in</strong>ks: Lautenschläger, Bohnenkamp, Anne Harbart,<br />

Gustav Geile, Ulrich Lohmar, Anna Hanau, Friedrich Behrens,<br />

Josef <strong>in</strong>e He<strong>in</strong>, Albert Maßnick, He<strong>in</strong>rich Mucks<br />

2. Reihe von l<strong>in</strong>ks: Otto Libuda, Willi Töpfer, Paul Anlauf,<br />

He<strong>in</strong>z Harbart, Georg Farchm<strong>in</strong>, He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g, Karl Denkner, ???.<br />

Die ersten <strong>Jahre</strong> nach der Wiedergründung<br />

der <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong><br />

waren vorrangig bestimmt durch<br />

das Bemühen, die fast völlig zerstörte<br />

Stadt wieder lebensfähig zu<br />

machen. Es g<strong>in</strong>g damals darum, <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> den Alte<strong>in</strong>wohnern wieder<br />

Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten<br />

zu verschaffen — und darüber<br />

h<strong>in</strong>aus auch den zugeströmten<br />

Flüchtl<strong>in</strong>gen und Evakuierten zu<br />

helfen. Die <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> war<br />

zu dieser Zeit <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

soziale Vertretung der Arbeiterfamilien.<br />

Obwohl im hiesigen Raum<br />

<strong>in</strong> der M<strong>in</strong>derheit, hat die <strong>SPD</strong><br />

stark dazu beigetragen, daß dem<br />

unter den Kriegsfolgen leidenden<br />

<strong>Paderborn</strong> die Hilfe des Landes<br />

Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen zukam.<br />

Daß die <strong>SPD</strong> im katholisch geprägten<br />

<strong>Paderborn</strong> auch nach 1945<br />

weitverbreiteten Vorbehalten (und<br />

oft auch Diffamierungen) gegenüberstand,<br />

bedarf wohl nicht des<br />

Nachweises; immerh<strong>in</strong> wurde das<br />

Verhältnis von <strong>SPD</strong> und katholischer<br />

Kirche auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> ab<br />

den 60er <strong>Jahre</strong>n allmählich durch<br />

„Entspannungspolitik" bestimmt.<br />

Vieles geriet nun <strong>in</strong> Fluß: Die <strong>SPD</strong><br />

wurde zur „Volkspartei", das<br />

sozialstrukturelle Profil der Stadt<br />

<strong>Paderborn</strong> veränderte sich, e<strong>in</strong>e<br />

neue Generation wurde politisch<br />

„mündig".<br />

46


Die Familien gehörten dazu.<br />

Hier Nanni Isermann bei e<strong>in</strong>er<br />

Bescherung auf e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>derfest<br />

der <strong>SPD</strong> <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>.<br />

Die <strong>SPD</strong> verstand sich aufs Feiern:<br />

He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g als „Hahn im<br />

Korb".<br />

47


Der Ortsvere<strong>in</strong> der <strong>SPD</strong> von 1969 bis 1984<br />

<strong>SPD</strong> — e<strong>in</strong>e Volkspartei<br />

Mit dem Jahr 1969 begann e<strong>in</strong><br />

neuer Abschnitt <strong>in</strong> der Geschichte<br />

der <strong>SPD</strong>. Sie stellte zum ersten<br />

Mal seit der Weimarer Republik<br />

den Kanzler. Dies war nur möglich<br />

gewesen, weil es der <strong>SPD</strong> bei den<br />

Wahlen gelungen war, außer den<br />

Wählern aus der Arbeiterschaft<br />

Wähler aus anderen Schichten der<br />

Bevölkerung zu gew<strong>in</strong>nen. Die mit<br />

dem Godesberger Programm angekündigte<br />

Wendung zur Volkspartei<br />

erwies sich als Voraussetzung der<br />

Übernahme der Regierungsführung<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik. Im <strong>Paderborn</strong>er<br />

Ortsvere<strong>in</strong> wurde <strong>in</strong> der<br />

<strong>Jahre</strong>shauptversammlung im März<br />

1969 vom Vorsitzenden Karl Nolden<br />

die Notwendigkeit der Öffnung<br />

der <strong>SPD</strong> betont. Unter<br />

Bezugnahme auf den Dortmunder<br />

Parteitag führte er aus: „Die politische<br />

Entfaltung der <strong>SPD</strong> werde<br />

weitgehend abhängig se<strong>in</strong> von der<br />

Fähigkeit ihrer Organisation, sich<br />

weiter zu wandeln vom sozialen<br />

Organismus e<strong>in</strong>er ehemals<br />

geschlossenen Gruppe oder Klasse<br />

zum Träger der ständigen Me<strong>in</strong>ungsbildung<br />

und Willensbildung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er offenen Gesellschaft. "<br />

(NW, 5. 3. 1969).<br />

Der Wandel der Sozialstruktur<br />

spiegelte sich <strong>in</strong> der Mitglieder-<br />

48<br />

struktur der Partei. 1971 waren<br />

von den Mitgliedern des <strong>Paderborn</strong>er<br />

Ortsvere<strong>in</strong>s<br />

17 % Angestellte<br />

20% Arbeiter<br />

15% Beamte und Berufssoldaten<br />

16% Hausfrauen<br />

12% Rentner<br />

9 % Studenten und Schüler<br />

10% Selbständige<br />

1 % ohne Angabe<br />

(NW. 15. 3. 1971).<br />

1984 s<strong>in</strong>d von den Mitgliedern des<br />

<strong>Paderborn</strong>er Ortsvere<strong>in</strong>s<br />

26 % Angestellte<br />

16% Arbeiter<br />

13 % Beamte und Berufssoldaten<br />

8 % Hausfrauen<br />

1 % Auszubildende<br />

17% Rentner<br />

14% Schüler und Studenten<br />

4% Selbständige<br />

2 % ohne Angaben<br />

Der <strong>Paderborn</strong>er Ortsvere<strong>in</strong> zeigt<br />

vor allem e<strong>in</strong>e prozentuale<br />

Zunahme der Angestellten. Die<br />

Zunahme dieser Gruppe geht auf<br />

Kosten der Beamten, Hausfrauen,<br />

Arbeiter und Selbständigen. Das<br />

erklärt sich nur zum Teil daraus,<br />

daß es der <strong>SPD</strong> gelang, Mitglieder<br />

aus neuen Schichten zu gew<strong>in</strong>nen,<br />

sondern auch daraus, daß die<br />

Angestelltenschicht <strong>in</strong>sgesamt<br />

zunahm: Dies kann auch gewiß als<br />

e<strong>in</strong> Erfolg der Arbeiterbewegung<br />

angesehen werden, da mit der<br />

Angestelltentätigkeit häufig bessere<br />

und relativ sichere Arbeitsplätze<br />

gegeben s<strong>in</strong>d. Die prozentuale<br />

Zunahme der Schüler und Studenten<br />

kommt sicherlich daher, daß<br />

<strong>in</strong>folge sozialdemokratischer Bildungspolitik,<br />

die sich u. a. auch <strong>in</strong><br />

der Gründung der Gesamthochschule<br />

<strong>Paderborn</strong> zeigte, der Anteil<br />

von Studenten und Schülern an<br />

der Gesamtbevölkerung erheblich<br />

gewachsen ist. Die prozentuale<br />

Zunahme der Rentner könnte <strong>in</strong><br />

der veränderten Altersstruktur der<br />

Bevölkerung zu suchen se<strong>in</strong>, aber<br />

auch <strong>in</strong> der Tatsache, daß die<br />

Menschen heute früher „<strong>in</strong> Rente<br />

gehen". Niedrig ist immer noch<br />

der Anteil der Frauen im <strong>Paderborn</strong>er<br />

Ortsvere<strong>in</strong>. Z. Zt. stehen<br />

24 % Genoss<strong>in</strong>nen 76 % Genossen<br />

gegenüber.<br />

Mitgliederboom<br />

Die Ostpolitik und die Reformpolitik<br />

der sozialliberalen Koalitionsregierung<br />

Brandt /Scheel fanden auch<br />

<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> große Unterstützung.<br />

Die Zahl der Parteimitglieder nahm<br />

seit Ende der 60er <strong>Jahre</strong> stark zu.<br />

1970 wurden 74 neue Mitglieder <strong>in</strong><br />

den Ortsvere<strong>in</strong> aufgenommen, der<br />

am Ende des <strong>Jahre</strong>s mehr als 400<br />

Personen umfaßte. 1971 stieg die<br />

Zahl der Parteimitglieder auf über<br />

500, 1972 wurden 103 neue Mitglieder<br />

aufgenommen.


Die Hoffnung aber, daß sich dieser<br />

Mitgliederzuwachs halten<br />

werde, trog. In der Phase der<br />

Regierung Schmidt/Genscher wurden<br />

viele Hoffnungen auf e<strong>in</strong>e<br />

Neugestaltung der Bundesrepublik<br />

im sozialdemokratischen S<strong>in</strong>ne<br />

durch e<strong>in</strong>e Politik der Kompromisse<br />

mit dem Koalitionspartner<br />

FDP und mit der CDU-Mehrheit<br />

im Bundesrat zunichte gemacht.<br />

Manche neuen Mitglieder verließen<br />

wieder enttäuscht die Partei. Z. Zt.<br />

(Anfang 1984) umfaßt der Ortsvere<strong>in</strong><br />

323 Mitglieder.<br />

Die Wahlergebnisse zeigen, daß<br />

e<strong>in</strong>em Aufschwung bei den Landtagswahlen<br />

1966 und den Bundestags-<br />

und Stadtratswahlen 1969,<br />

bei denen die <strong>SPD</strong> mehr als 30%<br />

Stimmen erhielt, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er<br />

Abschwung bei den Kreistags- und<br />

Landtagswahlen 1970 folgte. 1972<br />

erreichte die <strong>SPD</strong> bei den Bundestagswahlen<br />

ihr <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> bisher<br />

bestes Ergebnis mit 35 % Erst- und<br />

33,8 °7o Zweitstimmen. Diese<br />

Ergebnisse konnten bei den folgenden<br />

Wahlen nicht gehalten werden.<br />

Bei den Kommunalwahlen 1984<br />

erlitt die CDU e<strong>in</strong>en Stimmenverlust<br />

von 9 %. Aber auch die <strong>SPD</strong><br />

verlor 4 %. Die Stimmenverluste<br />

der etablierten Parteien kamen<br />

hauptsächlich den „Grünen"<br />

zugute, die mit 12,1 % <strong>in</strong> den<br />

Stadtrat e<strong>in</strong>zogen. Es war trotz<br />

engagierten Wahlkampfes nicht<br />

gelungen, e<strong>in</strong> Abwandern von<br />

Wählerstimmen zu den Grünen zu<br />

verh<strong>in</strong>dern. Sicher auch e<strong>in</strong> Zeichen<br />

dafür, daß bundesweite<br />

Trends vor Ort kaum aufzuhalten<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Sehr unterschiedlich waren die<br />

Ergebnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Wahlkreisen<br />

der Stadt, so konnte 1969<br />

Konrad Nüsse z.B. den Wahlkreis<br />

20 im Süden der Stadt direkt<br />

gew<strong>in</strong>nen. 19<strong>75</strong> erreichte Hansi<br />

Steiger mit 39 % ebenfalls im<br />

Süden der Stadt das beste Ergebnis<br />

für die Partei. Das vergleichsweise<br />

schlechte Ergebnis für die Partei <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> bei den Kommunalwahlen<br />

19<strong>75</strong> bei gutem Abschneiden<br />

der Partei im Lande hatte se<strong>in</strong>en<br />

Grund dar<strong>in</strong>, daß durch die Kommunalreform<br />

das Gebiet der Stadt<br />

um eher konservativ wählende<br />

Stadtteile vergrößert worden war.<br />

Günter Bitterberg, der Ortsvere<strong>in</strong>svorsitzende,<br />

kommentierte das<br />

Ergebnis 19<strong>75</strong>: „Wir sehen das<br />

Ergebnis mit e<strong>in</strong>em lachenden und<br />

e<strong>in</strong>em we<strong>in</strong>enden Auge, im Blick<br />

auf Düsseldorf und den <strong>Paderborn</strong>er<br />

Rat."<br />

1969 zogen <strong>in</strong> den Rat e<strong>in</strong>:<br />

Hubert Borghoff, Georg Bohla,<br />

Gustav Geile, Hermann Hellmich,<br />

Karl Klipste<strong>in</strong>, Herbert Lubek,<br />

Karl Nolden, Konrad Nüsse, Resi<br />

Schmitthoff, Hansi Steiger, Hans<br />

Thöne, Dr. Hans-Eugen Schlumm,<br />

Johannes Wille. Gustav Geile<br />

wurde zum stellvertretenden Bürgermeister<br />

gewählt.<br />

Es schieden <strong>in</strong> den folgenden <strong>Jahre</strong>n<br />

aus:<br />

Dr. Hans-Eugen Schlumm, Hubert<br />

Borghoff und Gustav Geile, an<br />

ihre Stelle traten Herbert Schulte,<br />

Rudi Salmen und Josef Köll<strong>in</strong>g.<br />

In den Kreistag zogen 1970 Aloys<br />

Schwarze und Sigrid Baucks-<br />

Warneke e<strong>in</strong>. Sigrid Baucks-<br />

Warneke wurde zur stellvertretenden<br />

Landrät<strong>in</strong> gewählt.<br />

19<strong>75</strong> zogen <strong>in</strong> den Stadtrat e<strong>in</strong>:<br />

Günter Bitterberg, Georg Bohla,<br />

Dr. Helmut Funke, Hermann<br />

Hellmich, Herbert Lubek, Karl<br />

Nolden, Dr. Rudi Salmen, Resi<br />

Schmitthoff, Aloys Schwarze,<br />

Hans Thöne und Ra<strong>in</strong>er Ulitzner.<br />

Karl Nolden wurde zum stellvertretenden<br />

Bürgermeister gewählt.<br />

In den Kreistag kamen Marlene<br />

Lubek, Bernd Hollenbeck und<br />

Konrad Josephs.<br />

Aufgrund der Kommunalwahlen<br />

kamen 1979 <strong>in</strong> den Stadtrat:<br />

Günter Bitterberg, Greta Erch<strong>in</strong>ger,<br />

Jupp Hackfort, Hermann<br />

Hellmich, Herbert Lubek, Rolf<br />

Niekamp, Karl Nolden, Resi<br />

Schmitthoff, Aloys Schwarze,<br />

Hansi Steiger, Hans Thöne.<br />

Karl Nolden wurde zum stellvertre-<br />

49


tenden Bürgermeister gewählt.<br />

In den Kreistag kamen:<br />

Konrad Josephs, der bald wegen<br />

e<strong>in</strong>er Erkrankung ausschied und an<br />

dessen Stelle Ra<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>tze aus<br />

Delbrück nachrückte, Bernd Hollenbeck,<br />

W<strong>in</strong>fried Eberhardt und<br />

Marlene Lubek.<br />

In den Stadtrat zogen 1984<br />

15 Mandatsträger und -träger<strong>in</strong>nen<br />

e<strong>in</strong>. Für den Ortsvere<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>:<br />

Günter Bitterberg, Josef<br />

Hackfort, Greta Erch<strong>in</strong>ger, Rolf<br />

Niekamp, Ra<strong>in</strong>er R<strong>in</strong>gs und Hans<br />

Thöne.<br />

Mit Hans Thöne stellt die <strong>SPD</strong><br />

den 2. stellvertretenden Bürgermeister.<br />

In den Kreistag kamen 15 Abgeordnete,<br />

davon für den Ortsvere<strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong>: Marlene Lubek, W<strong>in</strong>fried<br />

Eberhardt und Käthe Meermeier.<br />

In den Landtag kam Aloys<br />

Schwarze 1970 zunächst nicht wieder<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, er rückte aber nach<br />

e<strong>in</strong>igen Monaten nach.<br />

19<strong>75</strong> scheiterte Dr. Rudi Salmen<br />

mit se<strong>in</strong>er Kandidatur für den<br />

Landtag, weil er auf der Liste<br />

schlechter als se<strong>in</strong> Konkurrent<br />

Horst He<strong>in</strong> aus Höxter abgesichert<br />

war. 1979 bewarb sich Marlene<br />

Lubek um e<strong>in</strong>e Landtagskandidatur.<br />

Bei der Konkurrenz um e<strong>in</strong>en<br />

abgesicherten Listenplatz unterlag<br />

Der <strong>Paderborn</strong>er Bundestagsabgeordnete Klaus Thüs<strong>in</strong>g im Bundestagswahlkampf<br />

1983<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

sie Horst He<strong>in</strong> aus Höxter. Sie trat<br />

daraufh<strong>in</strong> von der Kandidatur<br />

zurück, um zu zeigen, wie benachteiligt<br />

Frauen bei der Absicherung<br />

auf Listenplätzen seien. Hansi Steiger<br />

übernahm dann die aussichtslose<br />

Kandidatur.<br />

Im Bundestag wurde der Wahlkreis<br />

seit 1957 über die Landesliste<br />

durch den Abgeordneten Ulrich<br />

Lohmar vertreten, geboren 1928,<br />

1967 bis 1969 Chefredakteur der<br />

Neuen Westfälischen, danach Professor<br />

für Politikwissenschaft,<br />

zuletzt <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong>. Seit 1965<br />

war er Vorsitzender des Bundestagsausschusses<br />

für Bildung und<br />

Wissenschaft, <strong>in</strong> dem er sich <strong>in</strong><br />

besonderer Weise um die Bildungsreform<br />

verdient gemacht hat.<br />

1976 wurde Ulrich Lohmar durch<br />

Klaus Thüs<strong>in</strong>g abgelöst, der allerd<strong>in</strong>gs<br />

erst nach e<strong>in</strong>em halben Jahr<br />

„Wartezeit" wegen e<strong>in</strong>es nicht so<br />

günstigen Listenplatzes <strong>in</strong> den<br />

Bundestag gelangte. Auch bei den<br />

Wahlen 1980 kam Klaus Thüs<strong>in</strong>g<br />

über die Landesliste <strong>in</strong> den Bundestag,<br />

scheiterte aber vorerst<br />

1983.<br />

50


E<strong>in</strong> anderer Bundestagsabgeordneter<br />

aus <strong>Paderborn</strong> war Karl-He<strong>in</strong>z<br />

Saxowski, 1918 <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

geboren, seit 1947 <strong>in</strong> der Stadtverwaltung<br />

tätig, seit 1948 Mitglied<br />

der <strong>SPD</strong>, 1961 bis 1980 Abgeordneter<br />

für den Wahlkreis Höxter im<br />

Deutschen Bundestag.<br />

Z. Zt. hat die <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> im<br />

Landtag und im Bundestag ke<strong>in</strong>en<br />

Vertreter. Im Europäischen Parlament<br />

ist die hiesige Sozialdemokratie<br />

seit Juni 1984 durch Mechtild<br />

Rothe aus Bad Lippspr<strong>in</strong>ge vertreten.<br />

Frauen <strong>in</strong> der Politik<br />

Wie Frauen im Ortsvere<strong>in</strong> <strong>in</strong> der<br />

M<strong>in</strong>derheit s<strong>in</strong>d, so s<strong>in</strong>d sie auch<br />

im Rat und im Kreistag nur <strong>in</strong><br />

ger<strong>in</strong>ger Zahl vertreten. 1969 und<br />

19<strong>75</strong> war Resi Schmitthoff die e<strong>in</strong>zige<br />

sozialdemokratische Vertreter<strong>in</strong><br />

im Rat, 1979 erhielt sie Unterstützung<br />

durch Greta Erch<strong>in</strong>ger.<br />

Im Kreistag waren 1969 Sigrid<br />

Baucks-Warneke und 19<strong>75</strong> und<br />

1979 Marlene Lubek vertreten.<br />

E<strong>in</strong>e neue Generation<br />

1970 gab Karl Nolden se<strong>in</strong> Amt als<br />

Vorsitzender nach 10 <strong>Jahre</strong>n ab<br />

und legte es <strong>in</strong> die Hände jüngerer<br />

Mitglieder des Ortsvere<strong>in</strong>s.<br />

Karl Nolden, „e<strong>in</strong> Wahlpaderborner<br />

aus echtem Schrot und Korn"<br />

(NW, 30. 7. 1981) stammt aus<br />

Essen, ist <strong>in</strong> der Bonifaciusdruckerei<br />

tätig. Lang ist die Zahl se<strong>in</strong>er<br />

öffentlichen Ämter: Ortsvere<strong>in</strong>svorsitzender<br />

bis 1970, Betriebsratsvorsitzender,<br />

Vorsitzender der<br />

AWO, ehrenamtlicher Richter<br />

beim Arbeitsgericht <strong>Paderborn</strong> und<br />

beim Oberverwaltungsgericht <strong>in</strong><br />

Münster etc., von 1961 bis 1984<br />

Stadtrat.<br />

In se<strong>in</strong>er Abschiedsrede als Ortsvere<strong>in</strong>svorsitzender<br />

forderte Karl<br />

Nolden e<strong>in</strong>en aktiven Ortsvere<strong>in</strong>:<br />

„Mitbestimmen und me<strong>in</strong>ungsbildend<br />

tätig werden kann man nur<br />

durch echtes Engagement <strong>in</strong> der<br />

Partei." Die <strong>SPD</strong> solle sich „für<br />

die Interessen der breiten arbeitenden<br />

Schicht engagieren und für<br />

die, die trotz Hochkonjunktur<br />

abseits vom großen Boom ständen.<br />

" (NW, 2. 3. 1970).<br />

Betrachtet man die Reihenfolge der<br />

Vorsitzenden der nächsten <strong>Jahre</strong>,<br />

so fällt auf, daß diese häufig<br />

wechselten, sicher e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis darauf,<br />

daß dieser Posten mit viel<br />

Arbeit und Schwierigkeiten verbunden<br />

ist. Gleichwohl kann man<br />

von Kont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> der Vorstandsarbeit<br />

sprechen, wenn man sieht,<br />

daß häufig nur der erste Vorsitzende<br />

mit den Stellvertretern ausgewechselt<br />

wurde. So war z.B.<br />

Günter Bitterberg von 1970 bis<br />

19<strong>75</strong> kont<strong>in</strong>uierlich im geschäftsführenden<br />

Vorstand, Margareta<br />

Erch<strong>in</strong>ger 1973 bis 1979. Bei den<br />

Funktionen des Schriftführers, des<br />

Kassierers und der Beisitzer zeigt<br />

sich, daß manche Vorstandsmitglieder<br />

mehrere Wahlperioden im Amt<br />

waren. Am unumstrittensten ist<br />

das Amt des Kassierers, das Bernhard<br />

Gerlach <strong>in</strong> der gesamten Zeit,<br />

z. T. von e<strong>in</strong>em zweiten Kassierer<br />

unterstützt, z. T. alle<strong>in</strong> mit großer<br />

Zuverlässigkeit und Genauigkeit<br />

ausübt. Auch Greta Erch<strong>in</strong>ger<br />

gehört zu den Vorstandsmitgliedern,<br />

die sich kont<strong>in</strong>uierlich um<br />

Nanni Isermann


die Geschicke des Ortsvere<strong>in</strong>s kümmern.<br />

1970 gelangte die damalige<br />

Studienrät<strong>in</strong> zunächst als Beisitzer<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> den Vorstand, war dann<br />

stellvertretende Vorsitzende und<br />

Vorsitzende. Seit 1979 hat sie das<br />

Amt der Schriftführer<strong>in</strong> <strong>in</strong>ne. Die<br />

Pressearbeit des Vorstandes hat sie<br />

<strong>in</strong> allen Ämtern zum Teil alle<strong>in</strong>,<br />

zum Teil <strong>in</strong> Kooperation mit anderen<br />

geleistet. Mancher Bericht über<br />

Parteiversammlungen kam aus<br />

ihrer Feder, auf manche Parteiversammlung<br />

hat sie h<strong>in</strong>gewiesen. Zu<br />

erwähnen ist auch Nanni Isermann,<br />

die von 1971 bis 1977 als<br />

Beisitzer<strong>in</strong> dem Vorstand angehörte.<br />

Von Jugend auf hat sie der<br />

Sozialdemokratie <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

nahegestanden. Fußballbegeistert<br />

nahm sie an manchem Spiel des<br />

SV Mönkeloh sogar als Schiedsrichter<strong>in</strong><br />

teil. Ihre Gastwirtschaft<br />

an der Borchener Straße war<br />

Treffpunkt für die Genossen und<br />

Genoss<strong>in</strong>nen des Südviertels.<br />

Durch ihre Begeisterung für die<br />

Sozialdemokratie hat sie manchen<br />

Genossen geworben. Die Erfolge<br />

der Partei im Süden der Stadt s<strong>in</strong>d<br />

sicher auch ihrer Aktivität zu verdanken.<br />

Häufig im Vorstand aktiv war<br />

Konrad Josephs, zu dessen 50.<br />

Geburtstag die NW am 27. 1. 1978<br />

schrieb:<br />

52


Der Anteil der Frauen im Ortsvere<strong>in</strong>svorstand<br />

stieg Anfang der 70er<br />

<strong>Jahre</strong> an. 1971 waren 50% der<br />

Beisitzer, 32 % des gesamten Vorstandes<br />

Frauen. Insgesamt waren<br />

die Frauen damals etwas besser<br />

repräsentiert, als ihrem Anteil an<br />

der Partei entsprach. Sie konnten<br />

<strong>in</strong> den folgenden <strong>Jahre</strong>n diesen<br />

Anteil aber nicht halten. Zur Zeit,<br />

im <strong>Jahre</strong> 1984, s<strong>in</strong>d im Vorstand<br />

von 13 Mitgliedern 3 Frauen.<br />

Die Arbeit des Ortsvere<strong>in</strong>s<br />

Versammlungen<br />

In zahlreichen Versammlungen, die<br />

<strong>in</strong> der Regel monatlich stattfanden,<br />

gab es Gelegenheit für die Ortsvere<strong>in</strong>smitglieder,<br />

sich politisch zu<br />

<strong>in</strong>formieren und zu diskutieren.<br />

Themen waren die Kommunalpolitik,<br />

Berichte der Abgeordneten<br />

über ihre Tätigkeit <strong>in</strong> Bund und<br />

Land, aktuelle Reformpolitik der<br />

sozialliberalen Koalition: die Rentenreform,<br />

die Eherechtsreform,<br />

Strafrechtsreform. Im letzten Jahr<br />

wurden Probleme der Arbeitslosigkeit,<br />

des Friedens, der neuen<br />

Medien, der sozialen Sicherung<br />

und der Struktur- und Kommunalpolitik<br />

des <strong>Paderborn</strong>er Raumes<br />

behandelt. E<strong>in</strong>ige Veranstaltungen<br />

befaßten sich mit Parteiprogrammen<br />

und Berichten von Parteitagen.<br />

Referenten waren Abgeord-<br />

Josef Hackfort <strong>in</strong>terviewt Josef Igla.<br />

nete, M<strong>in</strong>ister oder Fachleute aus<br />

den jeweiligen Gebieten.<br />

E<strong>in</strong> Teil der Tätigkeiten der Versammlungen<br />

bestand <strong>in</strong> der Aufstellung<br />

oder Benennung von<br />

Bewerbern für die Wahlen <strong>in</strong><br />

Bund, Ländern und Geme<strong>in</strong>den.<br />

Es wurden Delegierte zu Stadtund<br />

Wahlkreiskonferenzen etc.<br />

gewählt, ferner zunächst jährlich,<br />

ab 1977 alle zwei <strong>Jahre</strong> die Vorstände<br />

des Ortsvere<strong>in</strong>s. Die Ortsvere<strong>in</strong>sversammlung<br />

nahm ihr<br />

Recht wahr, den Delegierten Anregungen<br />

mit auf den Weg zu geben.<br />

Dabei wurde oft heiß und heftig<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

gestritten, manche Wahlversammlung<br />

dauerte bis <strong>in</strong> den neuen Tag<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Nicht selten kämpften <strong>in</strong><br />

demokratischer Weise mehrere Personen<br />

um e<strong>in</strong>en Platz. Um die<br />

Bundestagskandidatur von Klaus<br />

Thüs<strong>in</strong>g 1980 gab es heftige Kontroversen,<br />

da se<strong>in</strong> Konkurrent<br />

Klaus Vorbeck aus Büren sich<br />

engagiert um e<strong>in</strong>e Bundestagskandidatur<br />

bemühte. Zu diesen Wahlversammlungen<br />

kamen <strong>in</strong> der<br />

Regel mehr Besucher als zu den<br />

Informationsveranstaltungen, was<br />

vermuten läßt, daß die Bewerber<br />

ihre Anhänger mobilisierten.<br />

53


„Heimat <strong>SPD</strong>"<br />

Probleme des Ortsvere<strong>in</strong>s bestanden<br />

dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e große Anzahl von<br />

Mitgliedern verschiedener Herkunft<br />

und verschiedenen Alters zu <strong>in</strong>tegrieren.<br />

Dazu wurden Feste und<br />

gesellige Veranstaltungen (z. B.<br />

Kegeln) organisiert, die <strong>in</strong> unregelmäßigen<br />

Abständen stattfanden.<br />

Es stellte sich heraus, daß diese<br />

Integration <strong>in</strong>folge der unterschiedlichen<br />

persönlichen Interessen nicht<br />

immer e<strong>in</strong>fach war. Von älteren<br />

Genossen wird der Verlust der<br />

„Heimat <strong>SPD</strong>" oft beklagt, und es<br />

gibt Überlegungen, die Genossen<br />

durch Geselligkeit wieder mehr<br />

zue<strong>in</strong>ander zu führen. In der letzten<br />

Zeit wurden Versuche gestartet<br />

durch e<strong>in</strong>e Talk-Show, <strong>in</strong> der<br />

ältere Genossen von ihrer Tätigkeit<br />

erzählten, und durch e<strong>in</strong>e Radtour<br />

<strong>in</strong> die Senne, bei der sich Geselligkeit<br />

und Information über die<br />

Umweltzerstörung verbanden.<br />

<strong>SPD</strong> <strong>in</strong> der Presse<br />

Über die Ortsvere<strong>in</strong>sversammlungen<br />

wurde <strong>in</strong> beiden <strong>Paderborn</strong>er<br />

Zeitungen, dem Westfälischen<br />

Volksblatt und der Neuen Westfälischen,<br />

berichtet. Häufig gab der<br />

Vorstand Presseerklärungen zu verschiedenen<br />

Themen ab. Leider<br />

zeigte sich, daß die der CDU nahestehende<br />

Lokalzeitung nicht jede<br />

Presseerklärung abdruckte, gerade<br />

<strong>in</strong> Wahlkampfzeiten fiel manche<br />

Presseerklärung unter den Tisch,<br />

z.B. 1984 e<strong>in</strong>e Presseerklärung<br />

zum Amnestiegesetz. Es zeigt sich,<br />

daß die <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> weiterh<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er CDU-geprägten Umgebung<br />

hart zu kämpfen hat.<br />

Manche Ortsvere<strong>in</strong>smitglieder<br />

bewähren sich als Leserbriefschreiber.<br />

Hier ist vor allem W<strong>in</strong>fried<br />

Eberhardt zu erwähnen, der öfter<br />

zur Feder greift.<br />

Der Ortsvere<strong>in</strong> gibt seit e<strong>in</strong>igen<br />

<strong>Jahre</strong>n e<strong>in</strong>e eigene Zeitung <strong>in</strong> unregelmäßigen<br />

Abständen heraus,<br />

genannt Info. Es dient dazu,<br />

aktuelle Probleme der Kommunalpolitik<br />

der Partei aus der Sicht des<br />

Ortsvere<strong>in</strong>s darzustellen.<br />

Die Talkshow hat sich als e<strong>in</strong> Mittel bewährt, Erfahrungen älterer<br />

Genossen zu vermitteln.<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

Wahlkämpfe<br />

Zu erwähnen s<strong>in</strong>d auch die Aktivitäten<br />

des Ortsvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> den Wahlkämpfen,<br />

an Ständen, beim Verteilen<br />

von Flugblättern, von Zeitungen<br />

früh morgens vor Werkstoren<br />

und <strong>in</strong> Häusern, beim Kleben von<br />

Plakaten und deren Überwachung.<br />

Bei letzterem hat sich besonders<br />

Hans Kibart hervorgetan, der<br />

ke<strong>in</strong>e Mühe gescheut hat, die Plakatständer<br />

<strong>in</strong> Ordnung zu halten.<br />

54


Im Bundestagswahlkampf 1983<br />

erfolgte e<strong>in</strong>e tatkräftige Unterstützung<br />

durch Berl<strong>in</strong>er Genossen.<br />

Im Vordergrund l<strong>in</strong>ks der Ortsvere<strong>in</strong>svorsitzende<br />

von Berl<strong>in</strong>-<br />

Hakenfelde, Joachim Schönberg.<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

Der frühere Bundestagsabgeordnete<br />

Klaus Thüs<strong>in</strong>g und die jetzige<br />

Europaabgeordnete Mechtild Rothe<br />

im Wahlkampf 1983 vor der Post.<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

55


Kontakte mit Berl<strong>in</strong>er Genossen<br />

Seit e<strong>in</strong>igen <strong>Jahre</strong>n besteht e<strong>in</strong>e Freundschaft zwischen dem Orts-vere<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> und dem Orts-vere<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-<br />

Hakenfelde im Bezirk Spandau. Die Berl<strong>in</strong>er Genossen kommen gern nach <strong>Paderborn</strong>, die <strong>Paderborn</strong>er Genossen s<strong>in</strong>d<br />

will-kommene Gäste <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>ige der Berl<strong>in</strong>er Genossen haben <strong>in</strong> den vergangenen <strong>Jahre</strong>n e<strong>in</strong>en Teil ihrer Ferien<br />

geopfert, um den <strong>Paderborn</strong>ern bei den Wahlkämp-fen zum Bundestag 1980 und 1983 zu helfen.<br />

Die Berl<strong>in</strong>er Genoss<strong>in</strong>nen und Genossen mit e<strong>in</strong>igen <strong>Paderborn</strong>er Vorstandsmitgliedern. Von l<strong>in</strong>ks vorne: Der<br />

Vorsitzende der Abtei-lung Hakenfelde, Joachim Schön-berg, Käthe Meermeier, Thea Brandt, W<strong>in</strong>fried Eberhard,<br />

Klaus Stienshoff, Josef Hackfort, stellv. Vorsitzende Uschi Brandt, die Abgeordnete des Repräsentan-tenhauses, Inge<br />

Frohnert, Horst Bohn, Greta Erch<strong>in</strong>ger, Hermann-Josef Pelgrim, Gerd Brandt, Klaus Thüs<strong>in</strong>g.<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

56


Kommunalpolitische Initiativen des Ortsvere<strong>in</strong>s<br />

Es sollen e<strong>in</strong>ige Initiativen des<br />

Ortsvere<strong>in</strong>s dargestellt werden, die<br />

u. a. die Arbeit der Fraktion im<br />

Stadtrat bee<strong>in</strong>flußt haben. Es soll<br />

damit gezeigt werden, wie sich<br />

Ortsvere<strong>in</strong>sarbeit <strong>in</strong> Politik zum<br />

Wohle der Bürger umsetzen kann.<br />

Hier kann es angesichts der Fülle<br />

nicht darum gehen, alle Aktivitäten<br />

aufzuzählen, sondern die Ortsvere<strong>in</strong>sarbeit<br />

soll exemplarisch an<br />

e<strong>in</strong>igen Beispielen dargestellt<br />

werden.<br />

Kommunale K<strong>in</strong>dergärten<br />

1969 wurde e<strong>in</strong> Antrag der Jusos<br />

auf Errichtung kommunaler K<strong>in</strong>dergärten<br />

an die Fraktion als Forderung<br />

des Ortsvere<strong>in</strong>s vermittelt.<br />

In den folgenden <strong>Jahre</strong>n s<strong>in</strong>d im<br />

Gebiet des Ortsvere<strong>in</strong>s folgende<br />

kommunale K<strong>in</strong>dergärten entstanden:<br />

1973 an der Fontanestraße,<br />

19<strong>75</strong> an der Erw<strong>in</strong>-Rommel-Straße,<br />

1977 an der Brakeler Straße, 1982<br />

an der Lemgoer Straße.<br />

berg, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag dar:<br />

„Schlagwörter wie Lebensqualität,<br />

Emanzipation, Innovation, Humanisierung<br />

und Chancengleichheit<br />

s<strong>in</strong>d an die Stelle von Argumenten<br />

getreten, vernebeln Sachverhalte,<br />

verdecken die wirklich bestehenden<br />

Bedürfnisse und deren Grenzen<br />

und stehen häufig am Anfang<br />

zahlloser kostenträchtiger Maßnahmen<br />

" ... „ Wir müssen unsere<br />

Wirtschaft pflegen, ihr die Ausdehnungsmöglichkeiten<br />

geben, die<br />

sie braucht, und dafür die planerischen<br />

Voraussetzungen schaffen.<br />

Sicher geht das zum Teil nur auf<br />

Kosten der unberührten Natur.<br />

Jeder hört gern den Gesang der<br />

Vögel im Wald, atmet gern frische<br />

Luft und möchte für e<strong>in</strong>ige Zeit<br />

unseren Städten mit ihren E<strong>in</strong>richtungen<br />

entfliehen, aber nur für<br />

e<strong>in</strong>ige Zeit kann er das. Vogelnester<br />

ernähren uns nicht."<br />

In der <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> war dagegen<br />

schon frühzeitig Umweltpolitik<br />

als Notwendigkeit erkannt worden,<br />

wobei gleichwohl die Probleme der<br />

Arbeitsplatzsicherung mitbedacht<br />

wurden.<br />

Dies äußerte sich vor allem bei<br />

Fragen der Verkehrsplanung und<br />

der Erhaltung von Erholungsgebieten,<br />

vor allem der Fischteiche.<br />

Umweltbewußtse<strong>in</strong><br />

In der Mitte der siebziger <strong>Jahre</strong><br />

war e<strong>in</strong> Umweltbewußtse<strong>in</strong> bei der<br />

Verwaltung der von der CDU<br />

regierten Stadt kaum zu f<strong>in</strong>den.<br />

1976 stellte der erste Beigeordnete<br />

der Stadt, Dr. Bernhard Löwen-<br />

Zur Vorbereitung des Kommunalwahlkampfes 1984 führte der<br />

Ortsvere<strong>in</strong>svorstand mit <strong>in</strong>teressierten Genoss<strong>in</strong>nen und Genossen e<strong>in</strong>e<br />

Klausurtagung <strong>in</strong> Wünnenberg durch.<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

57


Die Initiative war erfolgreich. Das<br />

BIB wurde nicht im Bereich der<br />

Fischteiche, sondern am Fürstenweg<br />

errichtet.<br />

58<br />

R<strong>in</strong>ge und Tangenten<br />

Heftig umkämpft war die Verkehrsplanung<br />

des Mittleren R<strong>in</strong>gs,<br />

der Nordtangente und des Verlaufs<br />

der B<strong>in</strong> zwischen der Anschlußstelle<br />

an der Bl und Schlangen.<br />

Der Mittlere R<strong>in</strong>g, der zur Zeit<br />

vom Ostr<strong>in</strong>g über den Südr<strong>in</strong>g bis<br />

zur Borchener Straße fertiggestellt<br />

ist, soll nach der ursprünglichen<br />

Konzeption weitergeführt werden<br />

durch e<strong>in</strong>e Unterführung unter<br />

dem Bahnhof über die Rathenaustraße,<br />

durch die Fürstengärten,<br />

über den Löffelmannweg bis zum<br />

Anschluß an den Ostr<strong>in</strong>g an der<br />

Detmolder Straße. Dagegen haben<br />

sich sowohl Ortsvere<strong>in</strong> als auch<br />

Fraktion immer wieder gewandt,<br />

bis jetzt mit Erfolg.<br />

Die Weiterführung der Westtangente<br />

(Unterer Frankfurter Weg)<br />

als Nordtangente von der Fürstenallee<br />

an den Fischteichen vorbei<br />

zur Marienloher Straße und der<br />

Bau der B<strong>in</strong> westlich und nördlich<br />

durch das Lippetal gaben Anlaß zu<br />

vielen Aktivitäten des Ortsvere<strong>in</strong>s.<br />

Auf e<strong>in</strong>er Tagung des Ortsvere<strong>in</strong>s<br />

mit der Fraktion und den Jusos im<br />

Herbst 1973 wurden die Probleme<br />

erörtert, die mit dem Bau der B<strong>in</strong><br />

entstanden. In e<strong>in</strong>em offenen Brief<br />

wurde der M<strong>in</strong>ister für Verkehr<br />

aufgefordert, den Planfeststellungsbeschluß<br />

für den Teilabschnitt<br />

<strong>Paderborn</strong> — Schlangen auszusetzen.<br />

Etwas später verfaßte der Ortsvere<strong>in</strong><br />

folgende Resolution, nachdem<br />

der Rat Vorschläge der <strong>SPD</strong> übernommen<br />

hatte.


Der M<strong>in</strong>ister g<strong>in</strong>g auf die Vorstellungen<br />

des Ortsvere<strong>in</strong>s nicht e<strong>in</strong>, da<br />

im Rahmen des „Planfeststellungsverfahrens<br />

weder Behörden noch<br />

privat Betroffene grundsätzlich E<strong>in</strong>wendungen<br />

gegen die L<strong>in</strong>ienführung<br />

der B<strong>in</strong> gemacht hätten."<br />

Daß es ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wendungen gegen<br />

die Trassierung gab, lag daran,<br />

daß das Gebiet, durch das die<br />

Trasse geführt werden sollte, sich<br />

<strong>in</strong> öffentlicher Hand befand, die ja<br />

gerade daran <strong>in</strong>teressiert war, die<br />

B<strong>in</strong> durch das Lippetal zu führen.<br />

E<strong>in</strong> Prozeß um e<strong>in</strong>e Ausstellung<br />

Die Stadt versuchte im Herbst<br />

1973 durch e<strong>in</strong>e Ausstellung <strong>in</strong> den<br />

Räumen des Stadthauses unter<br />

dem Leitwort „<strong>Paderborn</strong> —<br />

Schritte nach vorn" die Bürger mit<br />

der Stadtplanung, <strong>in</strong>sbesondere mit<br />

der Straßenplanung, bekannt zu<br />

machen und sie dafür zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

Die Kritik von Bürger<strong>in</strong>itiativen<br />

gegen diese e<strong>in</strong>seitige Information<br />

wurde vom Ortsvere<strong>in</strong> aufgegriffen.<br />

In e<strong>in</strong>em Flugblatt warf er<br />

der Stadt <strong>Paderborn</strong> vor, sie <strong>in</strong>formiere<br />

e<strong>in</strong>seitig und berücksichtige<br />

nicht die von ihm und verschiedenen<br />

Bürger<strong>in</strong>itiativen vorgeschlagenen<br />

Alternativen. E<strong>in</strong>e Dokumentation<br />

der Jusos auf e<strong>in</strong>em ca.<br />

1 qm großen Dreieckständer, auf<br />

dem mit zeichnerischen und textlichen<br />

Darstellungen den Besuchern<br />

der Ausstellung Alternativlösungen<br />

der Verkehrsplanung dargelegt werden<br />

sollten und der an drei Tagen<br />

im Oktober und November 1973<br />

an der E<strong>in</strong>mündung der Gutenbergstraße<br />

<strong>in</strong> den Rathausplatz<br />

aufgestellt werden sollte, wurde<br />

nicht gestattet. Der Ortsvere<strong>in</strong><br />

führte darauf e<strong>in</strong>en Prozeß gegen<br />

die Stadt, den er <strong>in</strong> zwei Instanzen<br />

beim Verwaltungsgericht im Juni<br />

1974 und beim Oberverwaltungsgericht<br />

im März 1976 gewann.<br />

Rettet die Fischteiche!<br />

1976 wurde über die Trassenführung<br />

der Nordtangente und ihren<br />

Anschluß an die B<strong>in</strong> entschieden.<br />

Der Ortsvere<strong>in</strong> widersetzte sich<br />

dem geplanten Anschluß der B<strong>in</strong><br />

an den Thuner Weg, jetzt Dubelohstraße,<br />

und konnte die Fraktion<br />

von se<strong>in</strong>er Auffassung überzeugen.<br />

In der Skizze wird die gegen den<br />

Willen der <strong>SPD</strong> verabschiedete<br />

Alternativlösung dargestellt; die<br />

von der <strong>SPD</strong> bevorzugte Lösung<br />

sah e<strong>in</strong>e Anb<strong>in</strong>dung der B<strong>in</strong> an<br />

die <strong>Paderborn</strong>er Straße, jetzt Neuhäuser<br />

Straße, B 64/68 vor.<br />

Trotz massiver Proteste der Bevölkerung<br />

wurde im Rat gegen die<br />

Stimmen der <strong>SPD</strong>-Fraktion die<br />

dargestellte Planung beschlossen.<br />

Der Ortsvere<strong>in</strong>svorstand wandte<br />

sich darauf mit Flugblättern an die<br />

<strong>Paderborn</strong>er Bevölkerung. Plakate<br />

mit der Aufschrift „Rettet die<br />

Fischteiche — Initiative der <strong>SPD</strong>"<br />

wurden geklebt. Mit e<strong>in</strong>er Petition<br />

wandte sich der Ortsvere<strong>in</strong>svorstand<br />

an den Landtag.<br />

Bei e<strong>in</strong>em Sommerfest an den<br />

Fischteichen am 4. 7. 1976, zu<br />

dem alle Bürger der Stadt e<strong>in</strong>geladen<br />

waren, wurde dort e<strong>in</strong> letztes<br />

Mal, frei von Abgasen und Lärm<br />

der Umgehungsstraßen, <strong>in</strong> unberührter<br />

Natur gefeiert.<br />

59


Auch bei diesen Aktivitäten fand<br />

der Ortsvere<strong>in</strong> Unterstützung der<br />

Bürger<strong>in</strong>itiative „Pro Grün", die<br />

sich seit <strong>Jahre</strong>n immer wieder der<br />

bedrohten Umwelt annimmt.<br />

Auch nach der Abstimmung gab es<br />

heftige Kontroversen um die Fischteiche,<br />

als über den Ausbau des<br />

Erholungsgebietes beraten wurde.<br />

Stadtdirektor Ferl<strong>in</strong>gs griff die<br />

Flugblatt- und Unterschriftenaktion<br />

der <strong>Paderborn</strong>er <strong>SPD</strong> an.<br />

„Er, Ferl<strong>in</strong>gs, könne sich an Plakate<br />

aus dem <strong>Jahre</strong> 1935 er<strong>in</strong>nern,<br />

auf denen mit gleichermaßen suggestiver<br />

Zielsetzung der Anschluß<br />

des Saarlandes gefordert worden<br />

sei" (WV, 9. 7. 1976).<br />

Den Bau der Nordtangente und die<br />

Führung der B<strong>in</strong> durch das Lippetal<br />

sowie die Anb<strong>in</strong>dung der B<strong>in</strong><br />

an den Thuner Weg hat die <strong>SPD</strong><br />

nicht verh<strong>in</strong>dern können. Wohl<br />

aber hat sie durch ihre Petition<br />

erreicht, daß der Bau der Nordtangente<br />

und die Anb<strong>in</strong>dung der B<strong>in</strong><br />

an den Thuner Weg möglichst<br />

ger<strong>in</strong>ge Bee<strong>in</strong>trächtigungen für das<br />

Naherholungsgebiet Fischteiche<br />

br<strong>in</strong>gen sollten. Es wurde zur Auflage<br />

gemacht, den Grüngürtel wieder<br />

aufzubauen und bei e<strong>in</strong>em Ver-<br />

kehrsaufkommen von über 2580<br />

Pkw-E<strong>in</strong>heiten pro Tag über die<br />

Dubelohstraße diese abzub<strong>in</strong>den.<br />

Letzteres ist bis heute nicht geschehen,<br />

obwohl erheblich mehr Verkehr<br />

über die Dubelohstraße und<br />

den Thuner Weg fährt und das<br />

N aherholungsgebiet bee<strong>in</strong>trächtigt.<br />

Der <strong>SPD</strong>-Ortsvere<strong>in</strong> hat se<strong>in</strong>e Politik<br />

darauf ausgerichtet, daß die<br />

Umwelt geschützt wird und<br />

zugleich Arbeitsplätze geschaffen<br />

werden bzw. erhalten bleiben. Im<br />

Zusammenhang mit dem Bau der<br />

Westtangente stellte der Ortsvere<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Presseerklärung dar:<br />

62


<strong>SPD</strong> und Arbeitslosigkeit<br />

1983 hat sich der Ortsvere<strong>in</strong> der<br />

Forderung der Ratsfraktion, städtische<br />

Aufgaben nicht zu privatisieren,<br />

angeschlossen. Er unterstützte<br />

auch die Forderung der Ratsfraktion<br />

nach Schaffung von Ausbildungsplätzen<br />

für Jugendliche.<br />

Genossen des Ortsvere<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d Mitglieder<br />

<strong>in</strong> der <strong>Paderborn</strong>er Initiative<br />

gegen Jugendarbeitslosigkeit.<br />

Die Friedensdiskussion<br />

Als weiteres Beispiel für Aktivitäten<br />

des Ortsvere<strong>in</strong>s dient die Diskussion<br />

des Herbstes 1983, bei der<br />

es um Stellungnahmen zur Stationierung<br />

amerikanischer Mittelstreckenraketen<br />

g<strong>in</strong>g. In e<strong>in</strong>er<br />

Resolution begrüßte der Ortsvere<strong>in</strong><br />

die Aktivitäten verschiedener<br />

Gruppen der Friedensbewegung <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong>. Er rief se<strong>in</strong>e Mitglieder<br />

auf, verstärkt <strong>in</strong> den Gruppierungen<br />

der Friedensbewegung mitzuarbeiten,<br />

und forderte die <strong>SPD</strong>-Kommunalpolitiker<br />

auf, diese Bestrebungen<br />

<strong>in</strong> geeigneter Form <strong>in</strong> die<br />

kommunalpolitische Diskussion<br />

e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen und durch lokale Initiativen<br />

für die Forderungen der<br />

Friedensbewegung e<strong>in</strong> positives<br />

Klima <strong>in</strong> der Öffentlichkeit zu<br />

schaffen.<br />

Auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> kam es während des „heißen Herbstes" zu Friedensdemonstrationen<br />

vor dem Rathaus.<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

63


Die Friedensdiskussion<br />

Als weiteres Beispiel für Aktivitäten<br />

des Ortsvere<strong>in</strong>s dient die Diskussion<br />

des Herbstes 1983, bei der<br />

E<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> den Zuschauerraum der Westfälischen Kammerspiele während der Hohoff-Veranstaltung<br />

Der Ortsvere<strong>in</strong>svorstand unterstützte<br />

deshalb die Initiative der<br />

<strong>SPD</strong>-Kreistagsfraktion zur Schaffung<br />

e<strong>in</strong>er atomwaffenfreien Zone<br />

und den Antrag der <strong>Paderborn</strong>er<br />

<strong>SPD</strong>-Ratsfraktion, die e<strong>in</strong>e kommunalpolitische<br />

Diskussion mit<br />

den örtlichen Friedens<strong>in</strong>itiativen<br />

forderte. Beide Initiativen waren<br />

vergeblich. Sie wurden im Kreistag<br />

bzw. Stadtrat als Tagesordnungs-<br />

64<br />

punkte nicht zugelassen, weil das<br />

Thema Frieden nicht <strong>in</strong> die<br />

Zuständigkeit der Gremien des<br />

Rates bzw. des Kreistages falle.<br />

Bei se<strong>in</strong>en Aktivitäten zeigte der<br />

Ortsvere<strong>in</strong>, daß er die Probleme<br />

der Bevölkerung aufzunehmen und<br />

zu artikulieren fähig ist und<br />

Anstöße <strong>in</strong> Richtung auf e<strong>in</strong>e menschenfreundliche<br />

lokale Politik<br />

geben kann.<br />

Mitarbeit <strong>in</strong> Bürger<strong>in</strong>itiativen und<br />

Vere<strong>in</strong>en<br />

Als Vorsitzender der Fördergesellschaft<br />

für staatspolitische Bildung<br />

<strong>Paderborn</strong> wirkte <strong>in</strong> den 70er <strong>Jahre</strong>n<br />

Günter Bitterberg. 1973 organisierte<br />

er zusammen mit der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung e<strong>in</strong>e<br />

Kundgebung zum 50. <strong>Jahre</strong>stag des<br />

Todes von Wilhelm Hohoff (siehe


Seite 23). Gäste waren u. a. Wal-ter<br />

Dirks, der katholische Profes-sor<br />

Hermann und der M<strong>in</strong>isterprä-sident<br />

des Landes NRW, He<strong>in</strong>z Kühn, über<br />

dessen Rede die NW berichtete:<br />

„He<strong>in</strong>z Kühn begrüßte e<strong>in</strong> neues<br />

Verhältnis von Kirche und Staat.<br />

Grundlage dafür wären die letzten<br />

päpstlichen Sozialenzykliken wie das<br />

Zweite Vatikanum auf der e<strong>in</strong>en, das<br />

Godesberger Programm der <strong>SPD</strong> auf<br />

der anderen Seite. In ihrer Schrift über<br />

,Die Kirche <strong>in</strong> der pluralistischen<br />

Gesellschaft und im demokratischen<br />

Staat der Gegenwart' hätten sich auch<br />

die Bischöfe der Bundesrepublik zu<br />

dieser neuen Grundlage bekannt."<br />

(NW, 12. 2. 1973)<br />

In e<strong>in</strong>er Gedenkstunde wurde e<strong>in</strong>e<br />

Tafel am Gierswall zur Er<strong>in</strong>nerung an<br />

Hohoff angebracht.<br />

M<strong>in</strong>isterpräsident He<strong>in</strong>z Kühn bei se<strong>in</strong>er Laudatio<br />

65


Um die Gedenkfeier und -stunde<br />

gab es heftige Ause<strong>in</strong>andersetzungen,<br />

s. Frankfurter Rundschau,<br />

12.2.1973.<br />

66


Erwähnt sei die Mitarbeit von<br />

Ortsvere<strong>in</strong>smitgliedern <strong>in</strong> verschiedenen<br />

Bürger<strong>in</strong>itiativen. „Pro Grün",<br />

<strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>ige Genossen Mitglieder<br />

s<strong>in</strong>d, wurde schon genannt. In der<br />

Bürger<strong>in</strong>itiative „Umweltschutz —<br />

<strong>Paderborn</strong>er Bürger gegen<br />

Atomkraftwerke", die sich Ende der<br />

70er <strong>Jahre</strong> gegen den Ausbau von<br />

Atomkraftwerken wandte, arbeiteten<br />

Mitglieder des Ortsvere<strong>in</strong>s mit. Auch<br />

die Bürger-<strong>in</strong>itiative am Berl<strong>in</strong>er R<strong>in</strong>g<br />

fand Unterstützung von Genossen.<br />

Gruppen im Ortsvere<strong>in</strong><br />

Auf den <strong>Jahre</strong>shauptversammlun-gen<br />

berichteten <strong>in</strong> der Regel die<br />

Vorsitzenden der verschiedenen<br />

Gruppen über die politische Tätig-keit<br />

<strong>in</strong> den Gruppen. Die<br />

Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft sozialdemokratischer<br />

Frauen setzt es sich zum<br />

Ziel, durch politische Informationsabende<br />

Frauen fit zu machen<br />

für die Politik. Daneben besteht e<strong>in</strong><br />

Teil der Bildungsarbeit dar<strong>in</strong>, sich<br />

vertraut zu machen mit verschiedenen<br />

Institutionen am Ort, wo man Politik<br />

„hautnah" erfahren kann. In der Regel<br />

macht die AsF auch Vorschläge für<br />

Kan-didat<strong>in</strong>nen für die Wahlen. Hier<br />

gibt es noch viel zu kämpfen. „Die<br />

rechtliche Gleichstellung der Frau ist<br />

weitgehend erreicht, aber<br />

67


Käthe Meermeier und Ra<strong>in</strong>er R<strong>in</strong>gs danken im Namen des Ortsvere<strong>in</strong>svorstandes<br />

Resi Schmidthof für ihre Arbeit.<br />

Foto: K. Thüs<strong>in</strong>g<br />

die gesellschaftliche Gleichwertigkeit<br />

und Gleichberechtigung nicht"<br />

(Marlene Lubek <strong>in</strong> Info 2). Lange<br />

<strong>Jahre</strong> war Resi Schmidthoff Vorsitzende<br />

der zunächst „Frauengruppe"<br />

genannten Organisation<br />

am Orte. Immer setzte sie sich für<br />

die Interessen der Frauen e<strong>in</strong>.<br />

Lange stand sie als e<strong>in</strong>zige<br />

Rats„herr<strong>in</strong>" der <strong>SPD</strong> ihre Frau.<br />

Als „Mutter Grün" hat sie sich<br />

darüber h<strong>in</strong>aus, zuletzt als Vorsitzende<br />

des Grünflächenausschusses,<br />

für die Belange der Umwelt e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

Im <strong>Jahre</strong> 1984 hat sie<br />

Abschied von der aktiven Politik<br />

im Rathaus genommen.<br />

E<strong>in</strong>e andere Gruppe, die Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

für Arbeitnehmerfragen,<br />

ist auf Unterbezirksebene<br />

organisiert.<br />

In Betriebsgruppen wird die AfA<br />

mit den konkreten Problemen der<br />

Arbeitnehmer vor Ort konfrontiert.<br />

Ihre Vertreter und ihr Vorsitzender<br />

Karl Nolden sorgen dafür,<br />

daß der Arbeitnehmer im Ortsvere<strong>in</strong><br />

nicht zu kurz kommt.<br />

Die Jusos s<strong>in</strong>d auf Stadtverbandsebene<br />

organisiert, die meisten Mitglieder<br />

gehören aber dem <strong>Paderborn</strong>er<br />

Ortsvere<strong>in</strong> an. E<strong>in</strong> großer<br />

Teil von ihnen s<strong>in</strong>d Studenten und<br />

Schüler. In den Zeiten der Koali-<br />

tionsregierung unter Helmut<br />

Schmidt verstanden sich die Jusos<br />

als kritische Instanz <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Partei. So forderten sie nach den<br />

Kommunalwahlen 1979 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Initiative die Ratsherren der <strong>SPD</strong>-<br />

Fraktion zu e<strong>in</strong>er offensiven Oppositionspolitik<br />

unter Beteiligung von<br />

Arbeitsgruppen und Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaften<br />

auf.<br />

Viele Initiativen des Ortsvere<strong>in</strong>s<br />

wurden von den Jusos angeregt,<br />

z.B. die oben erwähnten Initiativen<br />

zu kommunalen K<strong>in</strong>dergärten<br />

und zur Friedenspolitik.<br />

Weiterh<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d zu erwähnen die<br />

Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft für Bildung<br />

und die Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft für<br />

Selbständige, deren Vorsitzender<br />

W<strong>in</strong>fried Eberhardt bzw. Hansi<br />

Steiger s<strong>in</strong>d.<br />

E<strong>in</strong> 1978 gegründeter Arbeitskreis<br />

des Ortsvere<strong>in</strong>s wandte sich speziell<br />

den Problemen der Aussiedler zu.<br />

Er stand unter Leitung von Josef<br />

Igla, der, e<strong>in</strong> Verfolgter des Naziregimes,<br />

<strong>in</strong> ca. 2 <strong>Jahre</strong>n ungefähr<br />

2000 Aussiedler <strong>in</strong> Fragen des<br />

Lastenausgleichs, der Rentenanträge,<br />

des Lohnsteuerjahresausgleichs<br />

etc. kostenlos beriet.<br />

E<strong>in</strong>e verstärkte Zusammenarbeit<br />

aller Gruppen des Ortsvere<strong>in</strong>s zeigt<br />

sich, seitdem die Partei <strong>in</strong> Bonn <strong>in</strong><br />

der Opposition ist. Angesichts der<br />

heutigen Probleme der Arbeitslosigkeit,<br />

der Umweltschäden, der<br />

68


Bedrohung durch Raketen etc. gilt<br />

es, am Ort aktiv zu werden.<br />

E<strong>in</strong>e Partei, die auf e<strong>in</strong>e mehr als<br />

100jährige Tradition <strong>in</strong> Deutschland<br />

und auf <strong>75</strong> <strong>Jahre</strong> im<br />

„schwarzen <strong>Paderborn</strong>" zurückblickt,<br />

die schwierige und bedrohliche<br />

Zeiten überstanden hat, kann<br />

hoffnungsvoll an die neuen Aufgaben<br />

herangehen.<br />

Daß die Genoss<strong>in</strong>nen und Genossen das Feiern nicht verlernt haben, bewiesen sie anläßlich der Feier zum<br />

<strong>75</strong>jährigen Bestehen des Ortsvere<strong>in</strong>s.<br />

Foto: R. R<strong>in</strong>gs<br />

69


Die Wiederbegründung der <strong>Paderborn</strong>er<br />

Jungsozialisten (1968/69)<br />

Galerie-Club<br />

Daß die <strong>Paderborn</strong>er Jungsozialisten,<br />

die etliche <strong>Jahre</strong> nicht mehr<br />

existent gewesen waren, gerade im<br />

<strong>Jahre</strong> 1968 wiederbegründet wurden,<br />

ist sicherlich ke<strong>in</strong> Zufall. Dieses<br />

Jahr bezeichnet den Höhepunkt<br />

der se<strong>in</strong>erzeitigen Studentenrevolte,<br />

und so nimmt es nicht wunder,<br />

daß dies auch <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

gewisse Nachwirkungen zeitigte.<br />

Der eigentliche Gründungsort der<br />

Jungsozialisten war allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />

das <strong>SPD</strong>-Büro, sondern der<br />

Anfang 1968 <strong>in</strong>s Leben gerufene<br />

Galerie-Club. Dieser Club war<br />

nach dem Vorbild diverser Republikanischer<br />

Clubs entstanden, er<br />

sollte außer politischen Aktivitäten<br />

aber auch künstlerische Ziele verfolgen.<br />

Haupt<strong>in</strong>itiatoren dieser<br />

E<strong>in</strong>richtung waren der Glasmaler<br />

He<strong>in</strong>z Röper und der Soziologiestudent<br />

Ra<strong>in</strong>er Girndt, der schon<br />

als Schüler bei den damals noch<br />

aktiven Jungsozialisten mitgearbeitet<br />

hatte.<br />

Während der ersten beiden Monate<br />

funktionierte die Arbeitsteilung des<br />

Clubs: es gab auf der e<strong>in</strong>en Seite<br />

politische Aktionen, z.B. anläßlich<br />

des Attentats auf Rudi Dutschke,<br />

es fand andererseits e<strong>in</strong>e Ausstellung<br />

des renommierten Berl<strong>in</strong>er<br />

Malers Eduard Franoszek statt.<br />

Doch dann kam, was vielleicht<br />

70<br />

nicht zu vermeiden war: „Künstler"<br />

und „Politiker" gerieten sich<br />

<strong>in</strong> die Haare, und der Konflikt<br />

endete damit, daß sich die Kunst<strong>in</strong>teressenten,<br />

die sich auch f<strong>in</strong>anziell<br />

<strong>in</strong> besonderem Maße engagiert<br />

hatten, durchsetzten. In der Folgezeit<br />

übrigens entspannte sich das<br />

zunächst arg gestörte Verhältnis<br />

zwischen beiden Gruppierungen,<br />

und der Galerie-Club stand,<br />

solange er existierte, weiterh<strong>in</strong> als<br />

Kommunikationszentrum und auch<br />

Ort für politische Veranstaltungen<br />

zur Verfügung.<br />

Gründung der Jusos<br />

Ende April 1968 allerd<strong>in</strong>gs war die<br />

Lage so, daß etliche der politisch<br />

<strong>in</strong>teressierten Mitglieder des Clubs<br />

nach e<strong>in</strong>er neuen Organisationsform<br />

für ihr Engagement suchten.<br />

Es stellte sich schnell heraus, daß<br />

fast alle der <strong>SPD</strong> angehörten oder<br />

ihr zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichendem<br />

Maße nahestanden. Und so ergriffen<br />

Ra<strong>in</strong>er Girndt und Helmut<br />

Funke, der seit zwei <strong>Jahre</strong>n <strong>in</strong> der<br />

<strong>SPD</strong> war und <strong>in</strong> dem älteren<br />

Genossen e<strong>in</strong>e Art Mentor gefunden<br />

hatte, die Initiative: sie luden<br />

zu e<strong>in</strong>er Gründungsversammlung<br />

der Jungsozialisten des Kreises<br />

<strong>Paderborn</strong> e<strong>in</strong> — und hatten<br />

Erfolg. In der ersten Sitzung<br />

wurde Ra<strong>in</strong>er Girndt — wie zu<br />

erwarten war — zum Vorsitzenden<br />

gewählt, die erste politische Aussage<br />

der Gruppe bestand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Sympathieerklärung für 53<br />

<strong>SPD</strong>-Bundestagsabgeordnete, die<br />

nicht — wie <strong>in</strong> der Großen Koalition<br />

vere<strong>in</strong>bart — den Notstandsgesetzen<br />

zugestimmt hatten (vgl.<br />

Faksimile des Zeitungsartikels über<br />

die Gründungsversammlung).<br />

DDR-Woche<br />

E<strong>in</strong> Höhepunkt <strong>in</strong> der Arbeit der<br />

neugegründeten Gruppe war die<br />

Beteiligung an e<strong>in</strong>er DDR-Woche,<br />

die im Juni 1968 <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong><br />

stattfand. Hierzu muß man wissen,<br />

daß zu diesem Zeitpunkt die Beziehungen<br />

zwischen der BR Deutschland<br />

und der DDR alles andere als<br />

entkrampft waren. Es wurde noch<br />

bestritten, daß die DDR überhaupt<br />

e<strong>in</strong> Staat sei, der CDU-Kanzler der<br />

Großen Koalition, Kurt-Georg Kies<strong>in</strong>ger,<br />

hatte den unvergeßlichen<br />

Ausdruck von dem „Phänomen"<br />

geprägt, das östlich der Elbe zu<br />

f<strong>in</strong>den sei. In dieser Situation wollten<br />

Jungsozialisten, SHB und<br />

Jungdemokraten — wie es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Presseerklärung formuliert wurde<br />

— „e<strong>in</strong>er kritischen Öffentlichkeit<br />

Informationen aus erster Hand<br />

geben".<br />

Rückwirkend betrachtet, ist es<br />

wohl das Erstaunlichste, daß die<br />

DDR-Woche damals überhaupt<br />

zustande kam und relativ hochka-


ätige Referenten entsandt wurden. An<br />

der Spitze der Delegation stand Klaus<br />

Höpcke, se<strong>in</strong>erzeit Mitglied der<br />

Redaktion des „Neuen Deutschland"<br />

und jetzt stellvertretender<br />

Kultusm<strong>in</strong>ister der DDR, ferner<br />

nahmen Professoren, e<strong>in</strong> Autor und<br />

Mitglieder der (Ost-) CDU, der LDPD<br />

und FDJ an den diversen<br />

Veranstaltungen teil. Die DDR-Woche<br />

stieß <strong>in</strong> der Öffentlichkeit auf<br />

beachtliche Resonanz, allerd<strong>in</strong>gs auch<br />

auf arge Kritik der (West-)CDU: so<br />

stellte der <strong>Paderborn</strong>er<br />

Landtagsabgeordnete Josef Köhler<br />

sogar e<strong>in</strong>e diesbezügliche Anfrage <strong>in</strong><br />

Düsseldorf, <strong>in</strong> der er wissen wollte, ob<br />

diese Veranstaltung etwa von der<br />

Landesregierung gefördert worden sei.<br />

Nun, sie war es — abgesehen von der<br />

unentgeltlichen Überlassung von<br />

Räumen <strong>in</strong> der Pädagogischen<br />

Hochschule — nicht, und so blieb<br />

dieser politische „Nachschlag"<br />

wirkungs- und folgenlos.<br />

Jusos und „realer Sozialismus"<br />

Daß die Jungsozialisten nicht mit dem<br />

„realen Sozialismus" ä la DDR<br />

liebäugelten, konnten sie bald darauf<br />

unter Beweis stellen. Im August des<br />

<strong>Jahre</strong>s <strong>in</strong>tervenierten die Warschauer-<br />

Pakt-Staaten <strong>in</strong> der CSSR. Dieses<br />

Ereignis war für viele junge<br />

Sozialisten e<strong>in</strong>e schmerzliche<br />

Enttäuschung, da sie<br />

72


den Weg der tschechischen und<br />

slowakischen Reformer, e<strong>in</strong>en<br />

„Sozialismus mit menschlichem<br />

Gesicht" zu schaffen, mit viel<br />

Sympathie verfolgt und nicht an<br />

e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>greifen der UdSSR und<br />

ihrer Bundesgenossen geglaubt hatten.<br />

Die <strong>Paderborn</strong>er Gruppe reagierte<br />

sofort: sie sammelte an<br />

e<strong>in</strong>em Stand Unterschriften gegen<br />

die Unterdrückung der CSSR und<br />

rief zu Spenden auf. Die Art und<br />

Weise, wie damals die Warschauer-Pakt-Staaten<br />

im Namen<br />

des Sozialismus mit e<strong>in</strong>em ihrer<br />

Mitglieder umsprangen, ist sicherlich<br />

vielen damals aktiven Jungsozialisten<br />

unauslöschlich im<br />

Gedächtnis haften geblieben und<br />

hat ihr Verhältnis gegenüber allen<br />

Spielarten des moskautreuen Kommunismus<br />

nachhaltig geprägt.<br />

Jusos und <strong>SPD</strong><br />

Im übrigen verfestigte sich im<br />

Laufe des <strong>Jahre</strong>s die Organisation<br />

der Jungsozialisten. Es wurde e<strong>in</strong><br />

Unterbezirksvorstand <strong>in</strong>s Leben<br />

gerufen, die Mitarbeit im Bezirk<br />

aufgenommen und <strong>in</strong> der Folgezeit<br />

verstärkt, und zwei <strong>SPD</strong>-<br />

Mitglieder, die später noch e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Rolle <strong>in</strong> der Partei spielen<br />

sollten, machten ihre ersten politischen<br />

Schritte bei den Jusos: es<br />

waren die Rechtsreferendare Manfred<br />

Hoffmann und Rudolf Sal-<br />

<strong>in</strong>en. E<strong>in</strong>e bunte Palette von Themen<br />

bestimmte fortan die politische<br />

Arbeit: genannt seien hier nur<br />

Probleme des Strafvollzugs, der<br />

Wehrdienstverweigerung, der Anerkennung<br />

der DDR und immer wieder<br />

der Kampf gegen den Neonazismus,<br />

der <strong>in</strong> diesen <strong>Jahre</strong>n <strong>in</strong><br />

Form der NPD stark an Boden<br />

gewann (vgl. Faksimile e<strong>in</strong>es Flugblatts).<br />

Die Große Koalition wurde<br />

<strong>in</strong> der Regel abgelehnt und demnach<br />

auch die Arbeit der <strong>SPD</strong> <strong>in</strong><br />

diesem Bündnis kritisch betrachtet.<br />

Dies h<strong>in</strong>derte allerd<strong>in</strong>gs die Jungsozialisten<br />

nicht, auch Verantwortung<br />

<strong>in</strong> der heimischen Partei zu<br />

übernehmen, sei es im OV-Vorstand<br />

<strong>Paderborn</strong> (H. Funke), sei<br />

es im ÜB-Vorstand (R. Girndt).<br />

Viele hofften darauf, daß die<br />

Wahlen im <strong>Jahre</strong> 1969 zu e<strong>in</strong>em<br />

Ende der ungeliebten Großen Koalition<br />

und e<strong>in</strong>em Neubeg<strong>in</strong>n unter<br />

sozialdemokratischer Regie führen<br />

würden, und zeigten e<strong>in</strong>en entsprechenden<br />

E<strong>in</strong>satz im Wahlkampf.<br />

Schon im August hatte übrigens<br />

ke<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerer als Günter Grass<br />

<strong>Paderborn</strong> besucht und, tatkräftig<br />

von den Jusos unterstützt, die<br />

Werbetrommel für die ES-PE-DE<br />

gerührt.<br />

Am Ende des <strong>Jahre</strong>s 1969 — und<br />

damit war die Gründungsphase<br />

wohl endgültig abgeschlossen —<br />

rückte bei den Jungsozialisten e<strong>in</strong>e<br />

neue, jüngere „Garde" nach, die<br />

<strong>in</strong>zwischen den Weg zur <strong>SPD</strong><br />

gefunden hatte und die Arbeit der<br />

folgenden <strong>Jahre</strong> nachhaltig prägen<br />

sollte. Stellvertretend für alle sei<br />

Andreas Kertscher genannt, Student<br />

der Volkswirtschaft, der aufgrund<br />

se<strong>in</strong>es Fachgebietes der<br />

<strong>Paderborn</strong>er AG viele neue<br />

Impulse geben konnte.<br />

Die Juso-Gründungsmitglieder der<br />

ersten und zweiten Stunde <strong>in</strong><br />

<strong>Paderborn</strong> teilten bald das Schicksal<br />

ihrer prom<strong>in</strong>enten Mitstreiter<br />

auf Bundesebene, die 1969 den<br />

Kurs der Juso-Organisation nachhaltig<br />

verändert hatten und vielfach<br />

als „l<strong>in</strong>ke Rebellen" galten:<br />

sie wurden nach kurzer Zeit voll <strong>in</strong><br />

die Arbeit für die Partei <strong>in</strong>tegriert.<br />

Manfred Hoffmann übernahm<br />

1971 den <strong>SPD</strong>-Unterbezirksvorsitz<br />

und übte ihn bis zu se<strong>in</strong>em Wegzug<br />

nach Frankfurt aus; Rudi Sal<strong>in</strong>en<br />

wurde 1972 Ratsherr, später<br />

Beigeordneter der Stadt <strong>Paderborn</strong><br />

und sieht seit 1984 als Stadtdirektor<br />

<strong>in</strong> Lünen e<strong>in</strong>er noch hoffnungsvolleren<br />

kommunalpolitischen<br />

Zukunft entgegen; Helmut<br />

Funke gehörte seit 1971 dem UB-<br />

Vorstand an und wurde 1982 dessen<br />

Vorsitzender. Lediglich Ra<strong>in</strong>er<br />

Girndt konnte aus beruflichen<br />

Gründen se<strong>in</strong>e politische Laufbahn<br />

<strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> nicht fortsetzen: er<br />

ist aber heute <strong>in</strong> verantwortlicher<br />

73


Position für e<strong>in</strong>e Organisation<br />

tätig, die der <strong>SPD</strong> schon immer<br />

eng verbunden war, nämlich für<br />

den DGB.<br />

Die Integration der jungen Leute<br />

<strong>in</strong> die Partei g<strong>in</strong>g nicht problemlos<br />

vonstatten. Dies wird deutlich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Rede, die der scheidende<br />

Unterbezirksvorsitzende Aloys<br />

Schwarze beim Unterbezirksparteitag<br />

1971 hielt.<br />

Aus e<strong>in</strong>er Rede<br />

von Aloys Schwarze<br />

UB-Parteitag 1971<br />

Vor dem H<strong>in</strong>tergrund des Sprichwortes,<br />

daß Ruhe die erste Bürgerpflicht<br />

sei, ersche<strong>in</strong>t der Generationengegensatz<br />

heute als e<strong>in</strong> negativer<br />

Kontrast zu der angeblich so<br />

guten, alten Zeit der Vergangenheit,<br />

der so viele ahnungslos nachtrauern.<br />

E<strong>in</strong>er allzu bürgerlichen,<br />

etablierten Vergangenheit, gegen<br />

die die Jugend aus berechtigten<br />

Gründen heute rebelliert, weil sie<br />

Neues will, weil sie die Verhältnisse<br />

ändern will. Sozialdemokrat<br />

se<strong>in</strong> heißt: für Frieden, Freiheit<br />

und soziale Gerechtigkeit kämpfen.<br />

Was heißt das anders als — die<br />

Welt verändern wollen!<br />

Daß die jungen Menschen, denen<br />

die Zukunft wichtiger ist als die<br />

Vergangenheit, überwiegend<br />

„l<strong>in</strong>ks" stehen, hat mit Weltan-<br />

74<br />

schauung nichts zu tun, sondern<br />

e<strong>in</strong>fach mit der Erkenntnis, daß<br />

die Geschichte gerade unseres Volkes<br />

gezeigt hat, daß Bewegungen<br />

von „rechts" nie den Blick vorwärts<br />

richteten, sondern immer nur<br />

Vergangenes zementieren wollten.<br />

Der Faschismus ist dafür die am<br />

deutlichsten ausgeprägte Form.<br />

Demokratie aber verlangt mehr als<br />

nur ruhig und brav und gehorsam<br />

zu se<strong>in</strong>.<br />

Wenn Gehorsam e<strong>in</strong>e politische<br />

Tugend se<strong>in</strong> soll, dann haben wir<br />

<strong>in</strong> der Vergangenheit politisch allzusehr<br />

darunter gelitten, daß zu<br />

wenige Bürger ungehorsam waren.<br />

Warum, liebe Freunde, so könnte<br />

man fragen, waren wir nach 1945<br />

beim Neuanfang nach der furchtbaren<br />

Katastrophe zwar auch zeitentsprechend<br />

radikal, aber doch<br />

gewiß gehorsamer als die Jugend<br />

heute? Nicht nur, weil wir nach<br />

dem Niedergang des Staates aus<br />

Ru<strong>in</strong>en neu anfangen mußten, wieder<br />

aufbauen mußten, weil wir mit<br />

uns selbst zu sehr beschäftigt<br />

waren. Ne<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>fach auch deswegen,<br />

weil wir es nicht verstanden<br />

haben, <strong>in</strong> unserem traditionellen<br />

Erziehungs- und Bildungssystem<br />

den Ungehorsam zu kultivieren!<br />

Auf der e<strong>in</strong>en Seite, nämlich der<br />

konservativ-bürgerlichen, wurde<br />

nach dem Motto „Lieb' Vaterland,<br />

magst ruhig se<strong>in</strong> ", jede Opposi-<br />

tion, auch als Auflehnung gegen<br />

das Bestehende, als staatszersetzend<br />

angesehen (und wird es auch<br />

heute noch, das brauche ich wohl<br />

nicht h<strong>in</strong>zuzufügen).<br />

Und auch bei uns, <strong>in</strong> unserer Partei,<br />

laßt uns das offen e<strong>in</strong>gestehen,<br />

wurde mit dem politischen Ziel der<br />

Angleichung an das bürgerliche<br />

Lager zur schnelleren Erreichung<br />

der politischen Verantwortung <strong>in</strong><br />

diesem Staat („Ke<strong>in</strong>e Experimente",<br />

die Wahlslogans von CDU<br />

und <strong>SPD</strong> waren auch aus demselben<br />

Holz geschnitzt) e<strong>in</strong>e ähnliche<br />

Gefühlslage entwickelt <strong>in</strong> der<br />

Organisation und mehr noch <strong>in</strong><br />

der Öffentlichkeit. Damit wurde<br />

schließlich allerd<strong>in</strong>gs auch über die<br />

„große Koalition" das gesteckte<br />

Ziel erreicht: Wir stehen heute <strong>in</strong><br />

diesem Staat <strong>in</strong> der Verantwortung.<br />

Das Aufbegehren der jungen Generation<br />

gegen die beiden großen<br />

politischen Weißmacher „Ruhe<br />

und Ordnung" war und ist nichts<br />

anderes als nur folgerichtig. Und<br />

diese Rebellion hat e<strong>in</strong> neues<br />

gesellschaftliches Bewußtse<strong>in</strong><br />

erzeugt, nämlich, wie Günter Grass<br />

es e<strong>in</strong>mal ausgedrückt hat: Sie hat<br />

gezeigt, daß Unruhe die erste Bürgerpflicht<br />

ist.


Die Zusammensetzung des Ortsvere<strong>in</strong>svorstandes:<br />

Von 1969 bis 1984 setzten sich die Vorstände des Ortsvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> folgender<br />

Weise zusammen:<br />

Jahr Vorsitzender Stellvertreter Stellvertreter<br />

1969 K. Nolden K. Nüsse —<br />

1970 L. Baucks H. Steiger G. Bitterberg<br />

1971 L. Baucks H. Steiger G. Bitterberg<br />

1972 L. Baucks H. Steiger G. Bitterberg<br />

1973 G. Bitterberg G. Erch<strong>in</strong>ger H. Steiger<br />

1974 G. Bitterberg G. Erch<strong>in</strong>ger H. Steiger<br />

19<strong>75</strong> H. Steiger G. Erch<strong>in</strong>ger G. Kerkhof<br />

1976 H. Steiger G. Erch<strong>in</strong>ger H. Kibart<br />

1977 G. Erch<strong>in</strong>ger E. Michel J. Hackfort<br />

1978 G. Erch<strong>in</strong>ger H. Kibart K. Josephs<br />

1979 W. Lohren Dr. H. Funke J. Schmidt<br />

1980 W. Lohren Dr. H. Funke J. Schmidt<br />

1981 W. Lohren A. Arens H. Lubek<br />

1982 W. Lohren A. Arens H. Lubek<br />

1983 A. Arens R. R<strong>in</strong>gs H. Hellmich<br />

1983 K. Meermeier R. R<strong>in</strong>gs H. Hellmich<br />

1984 K. Meermeier R. R<strong>in</strong>gs H. Hellmich<br />

Der am 21. Oktober gewählte engere Vorstand: v. l: Hermann Hellmich,<br />

Käthe Meermeier, Ra<strong>in</strong>er R<strong>in</strong>gs<br />

Wahlergebnisse der<br />

<strong>SPD</strong> <strong>in</strong> der Stadt <strong>Paderborn</strong><br />

— ab 19<strong>75</strong> e<strong>in</strong>schl. der e<strong>in</strong>geme<strong>in</strong>deten<br />

Ortschaften —<br />

Kommunalwahl 1948 : 23,8 %<br />

Bundestagswahl 1949 : 20,5 %<br />

Landtagswahl 1950 : 20,5 %<br />

Kommunalwahl 1952 : 23,3 %<br />

Bundestagswahl 1953 : 18,9 %<br />

Landtagswahl 1954 : 21,8 %<br />

Kommunalwahl 1956 : 27,9 %<br />

Bundestagswahl 1957 : 19,6 %<br />

Landtagswahl 1958 : 23,4 %<br />

Kommunalwahl 1961 : 24,4 %<br />

Bundestagswahl 1961 : 21,2 %<br />

Landtagswahl 1962 : 27,0 %<br />

Kommunalwahl 1964 : 31,6 %<br />

Bundestagswahl 1965 : 26,2 %<br />

Landtagswahl 1966 : 31,8 %<br />

Bundestagswahl 1969 : 31,6 %<br />

Kommunalwahl 1969 : 30,1 %<br />

Kreistagswahl 1970 : 28,3 %<br />

Bundestagswahl 1972 : 35,6 %<br />

Landtagswahl 19<strong>75</strong> : 26,9 %<br />

Kreistagswahl 19<strong>75</strong> : 27,7 %<br />

Kommunalwahl 19<strong>75</strong> : 28,2 %<br />

Bundestagswahl 1976 : 28,5 %<br />

Europawahl 1979 : 26,7 %<br />

Kreistagswahl 1979 : 29,6 %<br />

Kommunalwahl 1979 : 29,1 %<br />

Landtagswahl 1980 : 29,6 %<br />

Bundestagswahl 1980 : 29,5 %<br />

Bundestagswahl 1983 : 27,2 %<br />

Europawahl 1984 : 23,5 %<br />

Kommunalwahl 1984 : 25,25 %<br />

Kreistagswahl 1984 : 25,02 %<br />

<strong>75</strong>


Anläßlich des <strong>75</strong>jährigen Ortsvere<strong>in</strong>sjubiläums<br />

ehrte der Bundesgeschäftsführer<br />

der <strong>SPD</strong>, Peter<br />

Glotz, verdiente Genoss<strong>in</strong>nen und<br />

Genossen.<br />

Von l<strong>in</strong>ks nach rechts: Aloys<br />

Schwarze, OV-Vorsitzende Käthe<br />

Meermeier, Bundesgeschäftsführer<br />

Peter Glotz, M<strong>in</strong>e Mayboom,<br />

Hans Wirt, Luise Lücke, Hansi<br />

Steiger.<br />

Die ersten 20 Kandidat<strong>in</strong>nen und<br />

Kandidaten, die auf der Wahlkreiskonferenz<br />

vom 24. März 1984 im<br />

Kolp<strong>in</strong>ghaus für die Liste aufgestellt<br />

wurden.<br />

Erste Reihe v. L: F. Amedick,<br />

A. Jakobsmeyer, J. Spietz,<br />

G. Erch<strong>in</strong>ger, H. Thöne, G. Bitterberg,<br />

J. Hackfort, H. Hellmich.<br />

Mittlere Reihe v. I.: H. Pütter,<br />

H. Isermann, K. Jäger, R. R<strong>in</strong>gs,<br />

H. Lubek.<br />

H<strong>in</strong>tere Reihe v. L: A. S<strong>in</strong>ne,<br />

H.-G. Grumm, F. Wolski,<br />

W. Pött<strong>in</strong>g, R. Niekamp,<br />

U. Frehse, K. Bergmann.<br />

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