75 Jahre Sozialdemokraten in Paderborn - SPD Paderborn
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E<strong>in</strong>e weitere Meldung des Polizeisergeanten<br />
Hirt (von den Überwachten<br />
gutmütig „der gute Hirt"<br />
genannt) vom 24. 12. 1911: „In<br />
der Nacht von Samstag auf Sonntag,<br />
den 23ten zum 24ten, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />
hiesiger Stadt Flugblätter, welche<br />
anliegen, verteilt worden:<br />
Nr. I vom Centrum<br />
Nr. II ,Frohe Botschaft von der<br />
Sozialdemokratie'. — Letztere sollen<br />
von e<strong>in</strong>em Schlosser, welcher<br />
bei Atorf und Proppe beschäftigt<br />
ist, und e<strong>in</strong>em tau,p 'stummen<br />
Schuhmacher, welcher bei Auerbach<br />
(damals e<strong>in</strong>e Schuhfabrik <strong>in</strong><br />
der Riemekestraße) beschäftigt se<strong>in</strong><br />
soll, verteilt worden se<strong>in</strong>. "<br />
Wenn der „gute Hirt" noch lebte,<br />
könnten wir ihm heute den Namen<br />
des Schlossers verraten: Es war<br />
Willi Ahrendt, später Stadtverordneter<br />
und zuletzt Meister auf dem<br />
Zementwerk „Atlas". Dieses<br />
„Geheimnis" lüftete fast 50 <strong>Jahre</strong><br />
nach der „Tat" He<strong>in</strong>rich Lück<strong>in</strong>g.<br />
Von historischem Interesse ist der<br />
Polizeibericht des Polizeisergeanten<br />
Rüter vom 14. 12. 1911:<br />
„Bericht über den Vere<strong>in</strong> der<br />
<strong>Sozialdemokraten</strong> <strong>in</strong> hiesiger Stadt.<br />
Der Vere<strong>in</strong> besteht zur Zeit aus 40<br />
Mitglieder und haben ihr Versammlungslokal<br />
bei den Wirt Ernst<br />
Siegmund im Bürgerlichen Brauhaus,<br />
II. Etage. Der Vere<strong>in</strong> hat<br />
alle 14 Tage Versammlung, jedes<br />
18<br />
Mitglied zahlt pro Woche (!) 60<br />
Pfennig und 10 Pfennig für den<br />
Wirt. Der Vere<strong>in</strong> soll seit 4 Monaten<br />
bei Siegmund die Versammlungen<br />
abgehalten haben. Am Montag,<br />
25. 12. 1911, f<strong>in</strong>det des nachmittags<br />
4 bis 7 1/2 Uhr im Vere<strong>in</strong>slokal<br />
Weihnachtsbescherung<br />
der Mitglieder statt. Die Hauptversammlung<br />
ist am 31. 12. 1911,<br />
abends, soweit ich erfahren habe,<br />
um 7 1/2 Uhr im Vere<strong>in</strong>slokal. "<br />
Abgesehen von der Mitgliederzahl<br />
ist dieser Bericht bemerkenswert,<br />
weil er den Mitgliedsbeitrag angibt.<br />
Bei der damaligen Kaufkraft der<br />
Mark waren 60 Pfennig pro<br />
Woche e<strong>in</strong>e hohes Opfer für die<br />
oft schlecht entlohnten Arbeiter.<br />
Zum Vergleich: Für e<strong>in</strong>en steifen<br />
Grog zahlte man damals e<strong>in</strong>en<br />
Groschen!<br />
Um bei dem Bericht Rüters zu<br />
bleiben: An den folgenden Tagen<br />
wurden der Wirtschaftsverwalter<br />
Ernst Siegmund, 37 <strong>Jahre</strong> alt,<br />
Liboristraße 5, und der Wirt Wilhelm<br />
Schwarze, Liboristraße 5,<br />
vorgeladen. Ke<strong>in</strong>er von beiden<br />
hatte von e<strong>in</strong>er Versammlung e<strong>in</strong>e<br />
Ahnung. Wilhelm Schwarze me<strong>in</strong>te<br />
seelenruhig: „Bei mir verkehren<br />
nur die christlichen Buchdrucker<br />
— Vorsitzender Bohle — und<br />
manchmal der Brieftaubenvere<strong>in</strong>."<br />
Diese Abfuhr ließ den eifrigen<br />
Polizeisergeanten nicht ruhen. Er<br />
recherchierte weiter mit bohrendem<br />
Beamten-Diensteifer: „Der Sozialdemokratische<br />
Vere<strong>in</strong>, welcher se<strong>in</strong><br />
Lokal bei dem Wirt Ernst Siegmund,<br />
hier, <strong>in</strong> der Liboristraße<br />
hatte, ist seit dem 1. Feiertag, den<br />
25. Dezember, aufgehoben. Verpächter<br />
Siegmund hat dem Vere<strong>in</strong><br />
gesagt, daß er den Vere<strong>in</strong> nicht<br />
mehr dulden dürfte, weil der Herr<br />
Bischof und die Paters ihm sonst<br />
um se<strong>in</strong>e Concession helfen. Die<br />
Feier hat an dem genannten Tag<br />
nicht stattgefunden, vorläufig hat<br />
der Vere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Lokal."<br />
Man spürt förmlich, wie böse der<br />
Wackere darüber war, daß die<br />
amtlichen Protokolle über die Aussagen<br />
Siegmunds und Schwarzes<br />
anders lauteten.<br />
Um zum Abschluß dieses Komplexes<br />
noch e<strong>in</strong>mal auf das Geldopfer<br />
der Mitglieder zurückzukommen:<br />
1903 — also nur e<strong>in</strong>ige <strong>Jahre</strong> früher<br />
— war <strong>in</strong> <strong>Paderborn</strong> von<br />
wohlhabenden Bürgern e<strong>in</strong> bürgerliches<br />
„Sociales Kränzchen"<br />
gegründet worden. Dieses honorige<br />
„Kränzchen" hatte sich zum Ziel<br />
gesetzt, bei den Teilnehmern das<br />
Verständnis „für die socialen Fragen<br />
und Aufgaben unserer Zeit zu<br />
fordern." Jedes Mitglied zahlte im<br />
<strong>Jahre</strong> nur zwei Mark Beitrag. Die<br />
Zahlung von zwei Mark pro Vierteljahr<br />
schien den Kränzchen-Leuten<br />
zu hoch. Deshalb wurden die