Matrix3000 History: Was wäre wenn... die Geschichte anders wäre? (Sonderheft) (Vorschau)
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sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrtum<br />
und Selbstbetrug; <strong>die</strong> allerschlechtesten<br />
Methoden der Erkenntnis.“<br />
An anderer Stelle reflektierte<br />
Nietzsche: „Zuletzt verstehen<br />
wir das bewusste Ich selber nur<br />
als ein Werkzeug im Dienst jenes höheren<br />
überschauenden Intellekts.“<br />
Dass der Philosoph mit Offenbarungen<br />
vertraut war, zeigt seine folgende<br />
Aussage: „Der Begriff Offenbarung,<br />
in dem Sinn, dass plötzlich, mit<br />
unsäglicher Sicherheit und Feinheit,<br />
etwas sichtbar, hörbar wird, etwas,<br />
das einem im Tiefsten erschüttert und<br />
umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand...<br />
Wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke<br />
auf, mit Notwendigkeit, in der<br />
Form ohne Zögern, - ich habe nie eine<br />
Wahl gehabt.“<br />
Nietzsche hatte demnach Kontakt<br />
zur Welt der Ideen, wie es Platon<br />
nennen würde. Von dort schöpfte er<br />
Inspirationen und Eingebungen. Der<br />
Literaturprofessor und spätere Yogi<br />
Sri Aurobindo, der sich an 28 Stellen<br />
seines Werkes auf Nietzsche bezieht,<br />
würdigte <strong>die</strong>sen „lebendigsten, konkretesten<br />
und anregendsten“ modernen<br />
Denker, weil er <strong>die</strong> Philosophie<br />
wieder mit der intuitiven Schau bereicherte.<br />
Die Verlockung von Macht und Ego<br />
Sri Aurobindo schränkte jedoch ein:<br />
„Zum größten Teil wurde <strong>die</strong>se Botschaft<br />
(Nietzsches), <strong>die</strong> vibrierend aus<br />
dem Unendlichen in sein inneres Ohr<br />
gelangte,... mit einem etwas turbulentem<br />
Strom assoziierender Gedanken<br />
vermischt, der viel von der ursprünglichen<br />
reinen Melo<strong>die</strong> vergehen ließ.“<br />
Sri Aurobindo bezeichnete Nietzsche<br />
sogar als einen Propheten, der jedoch<br />
„seine eigene Botschaft missverstand.“<br />
Nietzsches Ego war nicht bereitet,<br />
nicht assimiliert für <strong>die</strong> höheren<br />
Eingebungen und blieb<br />
seinen alten Vorstellungen und Prinzipien<br />
verhaftet. Er missbrauchte <strong>die</strong><br />
spirituellen Impulse für seine egobezogenen<br />
Ambitionen, seinen Machtanspruch<br />
und seine Selbstverliebtheit,<br />
<strong>die</strong> sich auch in seinen monströsen<br />
Wortgebilden, seiner ausdrucksstarken,<br />
fast musikalisch und rhythmisch<br />
überhöhten bilderreichen sowie sehr<br />
apodiktischen Sprache niederschlug.<br />
Mit seinen spirituellen Erfahrungen<br />
war Nietzsche allein.<br />
<strong>Was</strong> ihm fehlte,<br />
war der schützende<br />
Rahmen einer Mysterienschule<br />
oder<br />
eines kompetenten<br />
spirituellen Lehrers.<br />
Denn <strong>die</strong> Entgrenzung<br />
des Ichs,<br />
<strong>die</strong> mögliche Überschwemmung<br />
mit<br />
Impulsen und Eingebungen<br />
erfordert<br />
auf der anderen Seite<br />
einen Halt, eine<br />
Struktur und eine<br />
Führung.<br />
Problematisch<br />
auf dem spirituellen<br />
Weg<br />
kann gerade <strong>die</strong> lange<br />
Zwischenphase<br />
sein, <strong>die</strong> Phase der<br />
Schwebe, in der der<br />
Anwärter das sichere<br />
und gewohnte<br />
Festland verlassen,<br />
das andere Ufer<br />
aber noch nicht erreicht<br />
hat. In <strong>die</strong>ser<br />
Wüste – so <strong>die</strong> bildhafte<br />
Nomenklatur<br />
in der Bibel – ist der<br />
Mysterienschüler<br />
besonders anfällig<br />
für Verführungen<br />
oder Versuchungen<br />
seitens der subtilen<br />
Ego-Anteile.<br />
Der unscharfe<br />
Übermensch<br />
In <strong>die</strong>ser unheilvollen<br />
Vermischung<br />
von spirituellen In-<br />
Gemälde von Hans<br />
Olde (1899)<br />
spirationen, seiner<br />
Sehnsucht nach geistigem Wachstum<br />
und dem Machtanspruch des Ego entwickelte<br />
Nietzsche seine bereits erwähnten<br />
Ideen vom Übermenschen.<br />
Diese blieben letztendlich unscharf, da<br />
sie <strong>die</strong> Widersprüchlichkeit von Nietzsches<br />
geistigen Einflüssen und seiner<br />
unzureichenden spirituellen Reife widerspiegeln.<br />
Oft verstand Nietzsche<br />
unter dem Übermenschen den auferstandenen<br />
und zur Blüte gekommenen<br />
inneren Geistmenschen - ein<br />
Postulat zahlreicher spiritueller Bewegungen.<br />
Vor allem in der Zeit nach<br />
seinem „Zarathustra“ skizzierte er<br />
Der Übermensch<br />
Der Begriff „Übermensch“ (hyperanthropos, homo superior)<br />
reicht philosophiegeschichtlich bis ins 1. Jd. vor Christus zurück.<br />
Er charakterisiert einen Menschen, der sein geistiges<br />
Potenzial sehr weit entwickelt hat und voll ausschöpft. Manche<br />
Schriftsteller benutzten <strong>die</strong>se Bezeichnung aber auch<br />
spöttelnd. Nietzsche übernahm den Begriff von dem französischen<br />
Philosophen Claude Adrien Helvétius.<br />
Nietzsche verwendete <strong>die</strong>sen Begriff nicht immer einheitlich<br />
und stimmig. Er betonte jedoch an vielen Stellen, dass<br />
im Menschen ein Keim wohnt, der über ihn hinausweist, und<br />
dass es Aufgabe des Menschen ist, <strong>die</strong>sen zu erwecken und<br />
wachsen zu lassen. „Der bisherige Mensch“ ist, so Nietzsche,<br />
„gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft - alle gestaltenden<br />
Kräfte, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>sen hinzielen, sind in ihm.“<br />
Diese Idee ist auch <strong>die</strong> Grundlage zahlreicher spiritueller<br />
Weltanschauungen. Im „Buch des Mirdad“ bezeichnet der<br />
arabische Autor Mikhail Naimy den Menschen als einen „Gott<br />
in Windeln“. Der Rosenkreuzer-Großmeister van Rijckenborgh<br />
spricht vom „transfigurierten“ oder „kommenden<br />
neuen Menschen“, Sri Aurobindo lehrt das Erreichen des<br />
supramentalen Bewusstseins, und <strong>die</strong> theosophische und<br />
anthroposophische Tradition lehrt, dass der Mensch noch<br />
weitere, vor allem geistige, Enwicklungsstufen vor sich hat.<br />
Der Bibliothekar und Schriftsteller K.O. Schmidt nimmt<br />
Nietzsche vor dessen späterem Missbrauch in Schutz: „Der<br />
Übermensch – das ist keine neue Gattung, kein Erzeugnis der<br />
Rassenzüchtung; er ist der Gottesfunke in uns, der im Bewusstsein<br />
jedes zu sich selbst Erwachenden geboren wird.“<br />
unter <strong>die</strong>sem Begriff aber auch den<br />
weltlichen Machtmenschen. Diese<br />
Inkonsistenz in Nietzsches Ausführungen<br />
bereitete den Boden für unterschiedliche<br />
Auslegungen sowie<br />
ihren Missbrauch.<br />
Die Belastung der<br />
Fremdlingsschaft<br />
Der Widerstreit zwischen den spirituellen<br />
Impulsen und den Machtansprüchen<br />
seines Ichs begleitete<br />
Nietzsche sein ganzes Leben und<br />
tränkte seine teilweise widersprüchlichen<br />
und gelegentlich wirr klingenden<br />
Lehren.<br />
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