Kulturwissenschaftliches Symposium Wald : Museum : Mensch ...
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ezahlt, dass die Familie so Hunger leidet, dass die Frau darauf<br />
drängt, die Kinder im <strong>Wald</strong> auszusetzen. Damit ist der Mann<br />
zunächst nicht einverstanden: „ ,das tue ich nicht; wie sollt’ ich’s<br />
übers Herz bringen, meine Kinder im <strong>Wald</strong>e allein zu lassen, die<br />
wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreißen‘ “ 10 . Trotz der<br />
wilden Tiere gehen sie bei Tagesanbruch „mitten in den <strong>Wald</strong>“ 11<br />
und sammeln zunächst Holz und Reisig für ein Feuer, damit<br />
die Kinder nicht frieren, was die emotionale Kälte der Situation<br />
geschickt unterstreicht. Als die Kinder realisieren, dass sie von den<br />
Eltern im <strong>Wald</strong> tatsächlich allein zurückgelassen worden sind,<br />
weint Gretel und meint: „ ,Wie sollen wir nun aus dem <strong>Wald</strong> kommen!‘<br />
“ 12 Beim ersten Mal klappt die Rückkehr bekanntlich, aber<br />
beim zweiten Mal finden die Kinder nicht mehr aus dem <strong>Wald</strong><br />
heraus, da „vieltausend Vögel“ 13 die zur Orientierung ausgestreuten<br />
Brotkrumen weggepickt hatten. So irren die Geschwister<br />
hilflos im <strong>Wald</strong> herum und „hatten nichts als die paar Beeren“ 14 ,<br />
die sie auf dem <strong>Wald</strong>boden finden. Überraschend stoßen sie<br />
tief im <strong>Wald</strong> auf ein merkwürdiges Haus, das von einer Hexe<br />
bewohnt wird. Die Kinder können die Hexe jedoch überlisten<br />
und es gelingt ihnen „aus dem Hexenwald“ 15 herauszukommen.<br />
Es ist also kein freundlicher oder schöner <strong>Wald</strong>, sondern ein<br />
düsterer, kalter <strong>Wald</strong>, der je weiter die Kinder vordringen, umso<br />
dichter wird, und mittendrin das Haus einer alten Hexe steht.<br />
Es ist ein Ort, an dem die Kinder von den verzweifelten Eltern<br />
ausgesetzt werden, dem Tod geweiht sind, wo wilde Tiere leben,<br />
die Kinder zerreißen, und es ist ein Ort des Verirrens. Obwohl<br />
sie als Kinder einer Holzhackerfamilie mit dem <strong>Wald</strong> vertraut<br />
sein sollten, vermögen sie sich im <strong>Wald</strong> kaum zu orientieren und<br />
mit einigen <strong>Wald</strong>beeren auch nur kümmerlich zu ernähren. Vom<br />
<strong>Wald</strong> als Lernort oder romantischem Abenteuerspielplatz kann<br />
bei den grimmschen Märchen nicht die Rede sein.<br />
Etwas anders ist die Situation bei den „Bremer Stadtmusikanten“.<br />
Da die vier entlaufenen Tiere an einem Tag Bremen nicht<br />
erreichen können, entscheiden sie sich aus freien Stücken und<br />
ohne Bedenken „abends in einem <strong>Wald</strong>“ 16 zu übernachten. Dazu<br />
schlagen sie zunächst unter einem „großen Baum“ 17 ihr Nachtquartier<br />
auf, bevor sie in der Ferne ein Räuberhaus entdecken.<br />
Mitten im <strong>Wald</strong> ein Haus von Räubern, mehr erfahren wir nicht<br />
über diesen <strong>Wald</strong>, der, einem verbreiteten Erzähltopos der Zeit<br />
folgend 18 , allein dadurch negativ charakterisiert wird, dass dort<br />
Räuber leben.<br />
10 Ebd., S. 100.<br />
11 Ebd., S. 101.<br />
12 Ebd., S. 102.<br />
13 Ebd., S. 104.<br />
14 Ebd., S. 104.<br />
15 Ebd., S. 107.<br />
16 Ebd., S. 162.<br />
17 Ebd., S. 162.<br />
18 Vgl. Ines Köhler-Zülch/Christine Shojaei Kawan: Räuber, Räubergestalten. In: Enzyklopädie<br />
des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg.<br />
von Rolf Wilhelm Brednich [u. a.] Bd. 11. Berlin/New York 2004, Sp. 307 – 323; Viktoria<br />
Urmersbach: Im <strong>Wald</strong>, da sind die Räuber. Eine Kulturgeschichte des <strong>Wald</strong>es. Berlin 2009.<br />
Wenden wir uns dem „Rotkäppchen“ zu, das bekanntlich die<br />
kranke Großmutter besuchen will. „Die Großmutter aber<br />
wohnte draußen im <strong>Wald</strong>, eine halbe Stunde vom Dorf.“ 19<br />
Genauer gesagt steht das Haus der Großmutter „im <strong>Wald</strong>,<br />
unter den drei großen Eichbäumen“ 20 . Wie Rotkäppchen in<br />
den <strong>Wald</strong> kommt, „begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber<br />
wußte nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich<br />
nicht vor ihm.“ 21 Hinterlistig spricht der Wolf zum Mädchen.<br />
„ ‚Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher<br />
stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du<br />
hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja<br />
für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig<br />
haußen in dem <strong>Wald</strong>.’ Rotkäppchen schlug die Augen auf, und<br />
als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und<br />
her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es:<br />
‚Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der<br />
wird ihr auch Freude machen.‘ “ 22 Daraufhin geriet das Mädchen<br />
beim Blumensuchen „immer tiefer in den <strong>Wald</strong> hinein“ 23 .<br />
Der Fortgang des Märchens ist bekannt, der Jäger kommt dem<br />
Wolf auf die Spur und meint: „ ,Finde ich dich hier, du alter<br />
Sünder‘ “ 24 . Rotkäppchen lernt aus der gerade noch gut gegangenen<br />
Geschichte und sagt zu sich: „ ,Du willst dein Lebtag<br />
nicht wieder allein vom Wege ab in den <strong>Wald</strong> laufen, wenn dir’s<br />
die Mutter verboten hat.‘ “ 25 Es mag seltsam anmuten, dass die<br />
alte Großmutter außerhalb des Dorfes allein in einem Haus im<br />
<strong>Wald</strong> wohnt, aber immerhin führt ein Weg dorthin, von dem<br />
das Mädchen aber nicht abweichen und in den <strong>Wald</strong> laufen soll.<br />
Im <strong>Wald</strong> kommt jedoch prompt der böse Wolf und lenkt den<br />
Blick Rotkäppchens auf die Schönheit des <strong>Wald</strong>es, woraufhin<br />
das Mädchen die Reize der Natur entdeckt und sich verführen<br />
lässt, tiefer in den <strong>Wald</strong> vorzudringen. Hier soll keine psychologische<br />
Interpretation ansetzen 26 , sondern nur angedeutet<br />
werden, dass es sich beim <strong>Wald</strong> um einen gefährlichen Raum<br />
handelt, in dem der böse Wolf lebt.<br />
Es ist kein anmutiges Bild des <strong>Wald</strong>es, das sich in den grimmschen<br />
Märchen präsentiert. Im <strong>Wald</strong> droht das lebensbedrohliche<br />
Verirren und es leben dort reißerische Tiere, die böse Hexe,<br />
die wilden Räuber und der böse Wolf. Von den Reizen des<br />
<strong>Wald</strong>es war überraschender Weise nur aus dem Mund des bösen<br />
Wolfes zu vernehmen. Es war aber auch kaum etwas von der<br />
ökonomischen, sozialen oder alltäglichen Bedeutung des <strong>Wald</strong>es<br />
für die <strong>Mensch</strong>en zu hören. Lediglich bei „Hänsel und Gretel“<br />
deutet sich die höchst problematische wirtschaftliche Situation<br />
19 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (wie Anm. 9), S. 157.<br />
20 Ebd., S. 157.<br />
21 Ebd., S. 157.<br />
22 Ebd., S. 157 – 158.<br />
23 Ebd., S. 158.<br />
24 Ebd., S. 159.<br />
25 Ebd., S. 159.<br />
26 Vgl. Christine Shojaei Kawan: Rotkäppchen. In: Enzyklopädie des Märchens (wie Anm. 18),<br />
Sp. 854 – 868.<br />
„ WIE WÄR’S DENN MIT EINEM WOLF?“ | 9