Kulturwissenschaftliches Symposium Wald : Museum : Mensch ...
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nal] diese furchtbaren Industriedörfer, diese Kolchosen, alles<br />
verrostet. Wir krieg’n da Depressionen. Da mog i gar ned umme<br />
fahr’n... grauslig.“ Eine etwa 45-jährige Verkäuferin in Freyung<br />
antwortet: „[sofortige Antwort, lachend] Also die Frage...da hab<br />
i mir überhaupt no koane Gedanken g’macht. Des kann i hiatzt<br />
ehrlich verneinen! Weil der Gedanke war mir goa ned kemma.<br />
I hob mei Haus hier, hier wohn ich, mehr brauch i ned.“ Die<br />
Antworten fallen nicht nur sehr deutlich aus, auch die spontane,<br />
emotionale Reaktion der Befragten zeigt sofort, dass die Heimat<br />
auch über zehn Jahre nach der politischen Wende an der<br />
Grenze endet. Die Ablehnung ist offensichtlich noch immer von<br />
Vorurteilen geprägt, welche den positiven wirtschaftlichen und<br />
landschaftlichen Entwicklungsprozess der letzten Jahre vergessen<br />
lassen. Ein Umzug nach Tschechien hätte Depressionen zur<br />
Folge, allein die Idee, die Gegend diesseits der Grenze dauerhaft<br />
zu verlassen, scheint so absurd, dass die Befragte ein Lachen<br />
nicht unterdrücken kann. Es ist einzuräumen, dass ein Umzug<br />
in ein fremdes Land nicht nur mit einem erheblichen logistischen<br />
Aufwand, sondern auch mit diversen anderen Barrieren<br />
wie Sprache oder bürokratischen Hürden verbunden ist.<br />
Doch dies allein kann nicht der Grund für die starke Ablehnung<br />
des Grenzübertritts sein. Seine Heimat zu vergrößern muss<br />
nicht unbedingt mit einem Umzug verbunden sein, sondern<br />
kann auch lediglich mit einer Erweiterung des gewohnten<br />
individuellen Aktionsradius sein, der vorher, durch die Grenze<br />
bedingt, auf den Westen beschränkt war. Doch auch hier fielen<br />
die Antworten ähnlich unmissverständlich aus. Ein 17-jähriger<br />
Schüler aus Freyung antwortet auf die Frage, ob er Kontakt<br />
nach Tschechien habe: „[schnell und sehr überzeugt] Na, überhaupt<br />
nix! [...] Also i kenn aa keine Freunde, die do Kontakte<br />
ham.“ Eine etwa 45-jährige Verkäuferin aus Freyung meint:<br />
„Man könnte rüberfahr’n, aber ich persönlich bin ned oft in<br />
Tschechien, weil wir hier ja alles haben, was wir brauchen.“ Ein<br />
etwa 40-jähriger Gastwirt aus Freyung zeigt sich skeptisch:<br />
„Also wenn Sie hiatzt auf die Grenzöffnung am 1. Mai 2004<br />
anspielen, wenn die Grenze geöffnet wird, des is trotzdem a<br />
anderer Abschnitt. Also i empfind die Tschechen dann ned glei<br />
als Europäer. I moan uns han’s willkommen, weil i muass a sog’n,<br />
ich hab ja a G’schäft, des sehn’s eh. Wir haben viele Besucher,<br />
HEIMAT HINTER(M)WALD? | 83<br />
viele Gäste und wir haben a viele Arbeitnehmer. Ich selber ned,<br />
aber Kollegen haben Tschechen beschäftigt, aber so zur Heimat<br />
g’hört die Grenze ned dazu. Also die Heimat endet für mich auf<br />
Landkreisebene.“<br />
Eine etwa 40-jährige Metzgereiverkäuferin aus Grafenau: „Aber<br />
ich seh auch kei Veranlassung [nach Tschechien zu fahren].<br />
Warum? Mir hamma soviel schöne Fleckerl da, warum soll i<br />
weit wegfahren?“<br />
Es kristallisiert sich heraus, dass das Interesse der Freyung-<br />
Grafenauer an der benachbarten Region noch sehr gering ist.<br />
Der gewohnte Aktionsradius der Bevölkerung beschränkt sich<br />
nach wie vor auf die Gegend diesseits der Grenze, die zwar vom<br />
<strong>Wald</strong> überwunden wird, aber dennoch das räumliche Ende der<br />
Heimat konstituiert. Sollte überhaupt Interesse an einer Grenzüberschreitung<br />
bestehen, werden wirtschaftliche oder finanzielle<br />
Gründe angeführt, doch auch der Freizeit- und Vergnügungssektor<br />
biete einige Anreize, wie in Interviews oft angedeutet<br />
wurde. Insgesamt herrscht in der Bevölkerung des Landkreises<br />
jedoch ein Bewusstsein vor, welches die geöffneten Grenzen<br />
zwar anerkennt, allerdings keine Veranlassung sieht, diese Grenzen<br />
zu überschreiten. Eine Kontaktaufnahme mit dem östlichen<br />
Nachbarn und die Schaffung einer gemeinsamen Identität und<br />
Heimat wird (noch) als unnötig erachtet. Aussagen wie „Was soll<br />
ich da drüben? Wir haben doch hier alles!“ bringen dies überdeutlich<br />
zum Ausdruck. Das Empfinden, diesseits der Grenze<br />
alles zum Leben notwendige zu haben, steht im Widerspruch<br />
zum eingangs erwähnten Mangelempfinden des Landkreises gegenüber<br />
benachbarten strukturell höher entwickelten Regionen.<br />
Die Abgrenzung zum östlichen Nachbarn Tschechien, der in<br />
den Augen der Bevölkerung weder wirtschaftlich noch kulturell<br />
von Bedeutung für den Landkreis ist, führt zu einer Aufwertung<br />
der eigenen Heimat. Durch die von den <strong>Wald</strong>lern so zum<br />
Ausdruck gebrachte ,Unabhängigkeit‘ von Tschechien findet die<br />
Heimat zwar hinterm <strong>Wald</strong> keine Fortsetzung, doch wird sie<br />
auch dem Status des „hintersten Lochs in Bayern“, zumindest in<br />
den Köpfen seiner Einwohner, enthoben. Der <strong>Wald</strong> hingegen<br />
erfährt eine weitere kulturelle Aufladung und wird nicht nur zu<br />
einer topographischen, sondern vor allem zu einer sozial instruierten<br />
Grenze.