Viel älter als die Papyri sind die Tonscherben (Ostraka) aus Lachisch. Zwischen 1935 und 1940 wurden hier 21 Tonscherben gefunden, die einen militärischen Briefwechsel aus dem Jahre 588 v. Chr. enthalten. Sie zeigen die verzweifelte Situation <strong>der</strong> letzten Tage dieser Stadt in Judäa, während <strong>der</strong> Invasion vor <strong>der</strong> babylonischen Gefangenschaft. Ende des 1. Jahrhun<strong>der</strong>ts bereits aus 14 von 27 neutestamentlichen Büchern zitiert wurde (von Pseudo-Barnabas und Klemens von Rom), und dass ca. <strong>15</strong>0 n. Chr. sogar schon Verse aus 24 Büchern Anwendung fanden (u.a. von Ignatius, Polykarp und Hermas). Ferner zitierten die Kirchenväter nicht nur aus allen Büchern, son<strong>der</strong>n auch praktisch alle Verse des Neuen Testaments! Allein bei Irenäus, Justinus Martyrus, Klemens von Alexandrien, Cyprian, Tertullian, Hippolyt und Origenes (alle vor dem 4. Jh.) finden wir zwischen 30’000 und 40’000 solcher Zitate. Aus späteren Jahrhun<strong>der</strong>ten können wir u.a. noch Athanasius, Cyrill von Jerusalem, Eusebius, Hieronymus und Augustinus hinzufügen, von denen je<strong>der</strong> fast alle neutestamentlichen Bücher zitiert. 6. An<strong>der</strong>e Textzeugen, die lange Zeit viel zu wenig beachtet wurden, sind die zahllosen Lektionarien; das sind Lesebücher, die beson<strong>der</strong>s ausgewählte Bibelteile enthielten und für Gottesdienste gebraucht wurden. Die meisten dieser Lektionarien entstanden zwischen dem 7. und 12. Jh., während einzelne Fragmente aus dem 4. bis 6. Jh. erhalten sind. Sie haben sich vor allem zur Klärung einiger beson<strong>der</strong>s umstrittener Stel len des Neuen Testaments (Markus 16,9-20 und Johannes 7,53-8,11) als bedeutungsvoll erwiesen. 7. Schliesslich nennen wir noch die Ostraka (Tonscherben). Sie waren das Schreibmaterial <strong>der</strong> Armen (z. B. fand man eine Kopie <strong>der</strong> vier Evangelien auf zwanzig Ostraka aus dem 7. Jahrhun<strong>der</strong>t – im ganzen sind etwa 1700 bekannt), und zu letzt die zahllosen alten Inschriften auf Wänden, Pfeilern, Münzen und Denkmälern. Wenn wir jetzt die wichtigsten Handschriften (Textzeugen) in die vier Gruppen, die wir nannten, einteilen (wobei man den mit Vorurteilen beladenen Ausdruck «neutral» schon längst durch «alexandrinisch» ersetzt hat), können wir sie zu einem Diagramm zusammenfassen. Dabei zählen wir die Textstrukturen in <strong>der</strong> Reihenfolge ihrer Bedeutung auf und nennen immer zuerst die Papyri, dann die Unzialen, dann die Minuskeln, danach die Versionen und zum Schluss die Kirchenväter. Prinzipien <strong>der</strong> Textkritik Der Leser wird inzwischen einigermassen Einblick bekommen haben in die Ar beit <strong>der</strong> Textkritik und hat damit die Glaubwürdigkeit des Textes des Neuen Testaments erkannt. Es gibt Menschen, die sich darüber herablassend äussern und etwa behaupten: «Es gibt mindestens 200’000 verschiedene Varianten des griechischen Textes, wie kann man da jemals ernsthaft behaupten, <strong>der</strong> Text unseres heutigen Neuen Testaments sei glaubwürdig! «In Wirklichkeit verhält es sich aber so dass 95% dieser 200’000 Varianten sofort zur Seite gelegt werden können, weil sie <strong>der</strong>artig indiskutabel sind o<strong>der</strong> von so wenig an<strong>der</strong>en Textzeugen unterstützt werden, dass kein einziger Kritiker ernsthaft ihre Authentizität in Betracht ziehen würde. Von den übrigen 10’000 Varianten aber stellt sich heraus, dass es bei ihnen zu 95% nicht um die Bedeutung des Textes geht, son<strong>der</strong>n nur um Fragen wie Buchstabierung, Grammatik und Reihenfolge <strong>der</strong> Worte. Wenn zum Beispiel ein einziges Wort in 1000 Handschriften falsch buchstabiert wurde, betrachtet man diese als 1000 Varianten. Von den verbleibenden 5 % (ca. 500 Varianten) sind nur etwa 50 von grösserer Bedeutung, und auch hier kann man in den meisten Fällen dank ausreichendem Vorhandensein an<strong>der</strong>er Textzeugen mit grösster Wahrscheinlichkeit den richtigen Text rekonstruieren. Es besteht nicht <strong>der</strong> geringste Zweifel darüber, dass 99% <strong>der</strong> Wörter des Neuen Testaments, wie wir es heute kennen, rich tig überliefert sind, während wirklich wichtige Varianten nur 0,1% <strong>der</strong> Wörter ausmachen. Keine einzige fundamentale christliche Lehre basiert auf einer zweifelhaften Variante, und keine einzige neue Variante hat jemals zur Revision eines bestimmten Lehrinhalts geführt. Wir können also völlig sicher sein, dass wir, abgesehen von einigen vollkommen unwichtigen Kleinigkeiten, praktisch denselben Text in Händen haben, den die Bibelautoren nie<strong>der</strong>schrieben. Die Menge griechischer Handschriften (ca. 5000) und Handschriften antiker Übersetzungen (ca. 9000) ist ausserdem so gross, dass es nahezu sicher ist, dass die richtige Lesart eines jeden umstrittenen Bibelteils in mindestens einem dieser alten Zeugen enthalten ist. Dies kann von keinem an<strong>der</strong>en literarischen Werk <strong>der</strong> Antike gesagt werden! In allen an<strong>der</strong>en Werken <strong>der</strong> Literatur finden wir Stellen, in denen <strong>der</strong> Text deutlich erkennbar angetastet ist, bei denen man aber nicht über an<strong>der</strong>e Lesarten verfügt. In solch einem Fall kann <strong>der</strong> Textkritiker die richtige Schreibweise des ursprünglichen Textes oft nur erraten und versuchen zu erklären, wie <strong>der</strong> Schreibfehler <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Lesarten entstanden sein könnte. Das Erstaunliche ist aber jetzt, dass es wahrscheinlich im ganzen Neuen Testament keine einzige Stelle gibt, wo solch ein «Erraten» angewandt werden musste. Wohl hat man früher manchmal eine an<strong>der</strong>e Lesart erst als «Glückssache» vorgestellt, aber im Laufe <strong>der</strong> Zeit wurde diese dann in einer <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Handschriften entdeckt. Die Fehler, die beim Kopieren <strong>der</strong> Manuskripte entstanden sind, waren Varianten, die meistens aus Versehen, aber manchmal auch mit Absicht angebracht wurden. Die versehentlichen Fehler waren neben normalen Schreibfehlern unter an<strong>der</strong>em Fehler des Auges (Fehlen, Verdoppelung o<strong>der</strong> Vertauschen von Buchstaben o<strong>der</strong> Worten usw.), des Ohres (falsches Verstehen, wenn diktiert wurde), des Gedächtnisses (z.B. Ersetzen durch Synonyme o<strong>der</strong> Beeinflussung durch parallele Schriftstellen) und des Beurteilens: manchmal wurden aus Versehen Randbemerkungen in den Text aufgenommen, weil man annahm, sie gehörten dahin. Vielleicht gehören Johannes 5,3 b und 4, Apostelgeschichte 8,37 und 1. Jo- 12 <strong>Wendezeit</strong> 1/<strong>15</strong>
hannes 5,7 zu dieser Kategorie; es kann aber auch sein, dass diese Verse absichtlich als lehrhaft hinzugefügt worden sind. Das bringt uns zur Gruppe <strong>der</strong> absichtlichen Verän<strong>der</strong>ungen. Dazu gehören Verän<strong>der</strong>ungen in Buchstabierung und grammatischer Form sowie liturgische Anpassungen, die man überall in den Lektionarien antrifft und die sich manchmal in den Bibeltext einschlichen, wie zum Beispiel die Lobpreisungen am Ende des «Vater unser» (vgl. dazu Matthäus 6,13). Darüber hinaus sind hier Harmonisierungen paralleler Schriftstellen in den Evangelien zu nen- <strong>Wendezeit</strong> 1/<strong>15</strong> 13