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Wendezeit 1/15 - Herr der Ringe

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Unheimliche Wirklichkeiten<br />

George Langelaan<br />

Zwischen zwei Welten<br />

Niemals wurde <strong>der</strong> seltsame Fall <strong>der</strong><br />

Molly Fancher auf geklärt, die sechsundvierzig<br />

Jahre lang in einem Trance zustand<br />

lebte und in dieser Zeit eine aussergewöhnliche<br />

Hellsehergabe besass.<br />

Nach <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung· ihres Hausarztes<br />

war Molly Fancher ein normales, fröhliches<br />

und gesundes Mädchen; sie lebte<br />

bei ihren Eltern in Brooklyn, New York.<br />

Plötz lich, am 3. Februar 1866, beklagte sie<br />

sich morgens gegen 10 Uhr über Schwindel<br />

und sank vor den Augen ihrer Mutter<br />

bewusstlos zu Boden. Der sogleich<br />

herbeigerufene Doktor Spier konnte nur<br />

feststellen, dass Molly Fancher sich in<br />

einem Koma befand. Sie bewegte sich<br />

nicht. Mit geschlossenen Augen antwortete<br />

sie ganz langsam, wie in einem<br />

Traum auf die ihr gestellten Fragen. Am<br />

nächsten Morgen entdeckte Doktor Spier,<br />

dass sie kaum noch atmete. Das Herz<br />

klopfte nur sehr schwach und sehr langsam,<br />

ihre Temperatur war ganz niedrig,<br />

und ihr ganzer Körper war kalt und<br />

feucht wie bei einer Sterbenden. Vierundzwanzig<br />

Stunden wartete er auf ihr Ende,<br />

als dann aber nichts geschah, entschloss<br />

er sich, Kollegen zu Rate zu ziehen.<br />

Auch sie konnten nur den Kopf<br />

schütteln und einen baldigen Tod voraussagen.<br />

Neun Jahre vergingen, und <strong>der</strong> Zustand<br />

Molly Fan chers blieb <strong>der</strong> gleiche. Ihr<br />

Körper schien zwischen Leben und Tod<br />

zu schweben. Sie war entsetzlich abgemagert<br />

'und nahm praktisch keine Nahrung<br />

zu sich. Dr. Spier schätzt, sie habe<br />

in neun Jahren so viel gegessen wie ein<br />

normaler Mensch in zwei o<strong>der</strong> drei Tagen.<br />

Zahlreiche Mediziner und Fachärzte haben<br />

sich mit dem seltsamen Fall <strong>der</strong><br />

Molly Francher befasst, ohne zu einem<br />

Resultat zu kommen. Im Jahre 1875 berichtete<br />

Dr. Spier seinen bekanntesten<br />

Kollegen, seine Patientin, <strong>der</strong>en Zustand<br />

unverän<strong>der</strong>t sei, scheine übernatürliche<br />

Gaben zu besitzen. Zwei damals<br />

bedeutende Neurologen, Dr. Willard<br />

Parker aus New York und Dr. Robert<br />

Ormiston aus Boston, waren bei aller<br />

Skepsis bereit, ans Bett <strong>der</strong> Kranken<br />

zu kommen. Dr. Spier liess sie zunächst<br />

das junge Mädchen eingehend untersuchen<br />

und führte ihnen dann vor, wie sie<br />

auf gewis se Fragen ganz langsam Antworten<br />

hervorbrachte. Danach geleitete<br />

er seine Kol legen in ein an<strong>der</strong>es Zimmer<br />

und berichtete ihnen, Molly könne<br />

je<strong>der</strong> zeit Hand lungen und Kleidung bestimmter<br />

entfernter Per sonen beschreiben.<br />

Sie könne sogar geschlossene Bücher<br />

und Briefe in geschlossenen Umschlägen<br />

lesen.<br />

Richard Parkhurst, <strong>der</strong> sich in Begleitung<br />

<strong>der</strong> bei den Neurologen befand (er war<br />

mehr als Astronom denn als Mediziner berühmt),<br />

schlug folgendes Experiment vor:<br />

Sie sollten einen Passanten bitten, einige<br />

Worte auf ein Stück Papier zu schreiben<br />

und dieses in einen Umschlag zu<br />

stecken, ohne dass irgend jemand die<br />

Mitteilung gelesen habe. Ein Zeuge solle<br />

dann diesen Umschlag Dr. Spier überbringen,<br />

und in <strong>der</strong> Zwischenzeit würden<br />

sie Molly Fancher nach dem genauen<br />

Wortlaut des Textes fragen. Ein Passant<br />

schrieb also eine Mitteilung auf ein<br />

Blatt Papier, dieses wurde in drei Umschläge<br />

gesteckt und Dr. Spier gebracht,<br />

<strong>der</strong> sieben Kilometer von dort ent fernt<br />

wohnte.<br />

Als Dr. Parker ans Bett <strong>der</strong> Kranken zurückgekehrt<br />

war, beugte er sich über sie<br />

und fragte sie, ob sie die Worte in dem<br />

Umschlag lesen könne, <strong>der</strong> gerade Dr.<br />

Spier gebracht würde. Mit leisem Flüstern<br />

erklärte Molly, es handle sich um einen<br />

Brief in drei Umschlägen, er trüge keine<br />

Anschrift und keine Anrede, son <strong>der</strong>n nur<br />

die Worte: «Lincoln wurde von einem<br />

verrückten Schauspieler er mor det.»<br />

Der Zeuge, Peter Graham aus New York,<br />

war ein Freund von Dr. Parker und hatte<br />

die Kranke noch nie gesehen. Er kam<br />

zu Dr. Spier und wartete wie verabredet.<br />

Etwa eine Stunde später erschienen die<br />

an<strong>der</strong>en Ärzte. Der Brief wurde geöffnet,<br />

und alle konnten die von Molly<br />

Francher ausgesprochenen Worte lesen.<br />

Die vier Ärzte kehrten zu Molly zurück<br />

und fragten sie nun, ob sie den Bru<strong>der</strong><br />

von Peter Graham, <strong>der</strong> sich in New York<br />

aufhalte, beschreiben könne. .<br />

Molly Fancher beschrieb ihnen im Flüsterton,<br />

aber ohne nur im geringsten zu<br />

zögern, Kleidung und Aussehen eines<br />

ihr unbekannten Menschen. Es gab sogar<br />

noch ein Detail: An diesem Morgen<br />

hätte <strong>der</strong> Mann in New York einen Knopf<br />

von seiner Jacke verloren. Ferner: Er habe<br />

seine Arbeit früher verlassen, da er<br />

unter heftigen Kopfschmerzen leide.<br />

Schon nach drei Stunden waren alle Aussagen<br />

Molly Fanchers bestätigt.<br />

Molly Fancher lebte bis 1912 in diesem<br />

Zustand, dann kam sie eines Morgens<br />

wie<strong>der</strong> zu sich, befand sich in einer für<br />

sie neuen Welt, umgeben von Menschen,<br />

die sie überhaupt nicht kannte. Ihre Eltern<br />

waren seit langem verstorben. Sie<br />

erinnerte sich an nichts und hatte ihre<br />

Hellsehergabe verloren. Sie starb 19<strong>15</strong><br />

im Alter von 73 Jahren ganz friedlich im<br />

Schlaf.<br />

Mit den Augen eines Malers<br />

Der amerikanische Maler Gilbert Stuart<br />

– heute hauptsächlich wegen seines Porträts<br />

von George Washington bekannt –<br />

<strong>Wendezeit</strong> 1/<strong>15</strong><br />

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