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Newsletter Menschenrechte - Jan Sramek Verlag

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NLMR 1/2011-EGMR<br />

prinzip und den generellen Zielen der Konvention entspricht.<br />

Das dem Bf. auferlegte Verbot ist Folge seiner<br />

Amtsenthebung und somit ein Teil eines Schutzmechanismus<br />

der Demokratie durch eine öffentliche und<br />

demokratische Überprüfung jener, die ein öffentliches<br />

Amt bekleiden. Die Maßnahme verfolgte das legitime<br />

Ziel, die demokratische Ordnung aufrecht zu erhalten.<br />

In Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme<br />

ist zu sagen, dass Art. 3 1. Prot. EMRK die Möglichkeit<br />

nicht ausschließt, das Wahlrecht von Personen zu<br />

beschränken, die eine amtliche Funktion schwer missbraucht<br />

haben oder durch ihr Verhalten die Rechtsstaatlichkeit<br />

oder demokratische Grundlagen gefährdet<br />

haben, wie es vorliegend der Fall ist.<br />

Die Voraussetzungen für die Maßnahme sind gesetzlich<br />

klar geregelt. Sie steht in eindeutiger Verbindung<br />

mit dem Verhalten des Bf. und seiner Situation. Der<br />

Umstand, dass der Ausschluss von der Kandidatur auf<br />

keine spezifische gerichtliche Entscheidung gestützt<br />

wurde, spielt daher keine Rolle. Das litauische Recht<br />

sieht außerdem im Rahmen des Amtsenthebungsverfahrens<br />

einige Sicherheitsmechanismen vor, um den<br />

Betroffenen vor Willkür zu schützen. Zum einen sind<br />

die Regeln des Strafprozesses und die Prinzipien eines<br />

fairen Verfahrens anzuwenden. Zum anderen liegt die<br />

Entscheidung, ein Amtsenthebungsverfahren – wie<br />

das vorliegende – einzuleiten, bei einem politischen<br />

Organ, dem Seimas, während ein gerichtliches Organ,<br />

das Verfassungsgericht, darüber entscheidet, ob eine<br />

Verletzung der Verfassung vorliegt. Der Seimas kann<br />

die Amtsenthebung nicht vornehmen, wenn das Verfassungsgericht<br />

keine Verletzung feststellt. Ferner hat<br />

bei Sitzungen des Seimas, in denen über die Amtsenthebung<br />

entschieden wird, nicht eines seiner Mitglieder<br />

den Vorsitz, sondern ein Richter des Obersten Gerichts.<br />

Für die Enthebung ist eine Dreifünftelmehrheit nötig.<br />

Letztlich konnte der Bf. im vorliegenden Fall bei öffentlichen<br />

Verhandlungen vor dem Seimas und dem Verfassungsgericht<br />

aussagen.<br />

Ohne die Ernsthaftigkeit des dem Bf. vorgeworfenen<br />

Verhaltens herabspielen zu wollen, bemerkt der GH<br />

das Ausmaß der Konsequenzen seiner Amtsenthebung:<br />

Der Bf. ist ständig und unabänderlich von der Kandidatur<br />

bei Parlamentswahlen ausgeschlossen. Dies wird<br />

erschwert durch den Umstand, dass er auch von jedem<br />

anderen Amt, für das die Ablegung eines Eides auf die<br />

Verfassung nötig ist, ausgeschlossen ist.<br />

Der GH widerspricht zwar dem Argument der Regierung<br />

nicht, dass bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit<br />

der politische Kontext des Landes mitzubeachten<br />

ist, und nimmt Kenntnis von ihrem Argument, dass es in<br />

einer erst kürzlich entstandenen Demokratie sinnvoll<br />

sei, die Überprüfung durch die Wählerschaft durch strikte<br />

gesetzliche Regelungen zu stärken. Die Entscheidung,<br />

einen hohen Beamten von der Parlamentsmitgliedschaft<br />

Paksas gg. Litauen<br />

dauerhaft auszuschließen, liegt dennoch bei den Wählern,<br />

die bei den Wahlen entscheiden können, ob sie ihr<br />

Vertrauen in die betroffene Person erneuern. Dies ist aus<br />

dem Wortlaut von Art. 3 1. Prot. EMRK ersichtlich, der<br />

sich auf »die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei<br />

der Wahl der gesetzgebenden Organe« bezieht.<br />

Auch wenn die besondere Verantwortung des Bf. als<br />

Präsident Litauens und seine Kompetenzen im Bereich<br />

der Gesetzgebung zu beachten sind, so ist dies nicht ausreichend,<br />

den GH zu überzeugen, dass der dauerhafte<br />

und unabänderliche Ausschluss von der Kandidatur bei<br />

Parlamentswahlen als Ergebnis genereller Normen eine<br />

verhältnismäßige Reaktion auf das Erfordernis war, die<br />

demokratische Ordnung zu erhalten.<br />

Der GH merkt an, dass die litauische Regelung eine<br />

Ausnahme in Europa darstellt. In vergleichbaren Staaten<br />

hat das Amtsenthebungsverfahren entweder keine Auswirkung<br />

auf das passive Wahlrecht des Betroffenen oder<br />

aber die Einschränkung erfordert eine spezielle gerichtliche<br />

Entscheidung oder sie unterliegt einer Frist.<br />

Der vorliegende Fall unterscheidet sich weiters substantiell<br />

vom Fall Ždanoka/LV, auf den sich die Regierung<br />

bezieht und in dem der GH keine Verletzung des Rechts<br />

auf freie Wahlen feststellte. Der Bf. in diesem Fall beteiligte<br />

sich an der Organisation und Durchführung von versuchten<br />

Staatsstreichen gegen ein neu geformtes demokratisches<br />

Regime. Die Relevanz des Ausschlusses des Bf.<br />

für den Erhalt der demokratischen Ordnung in Litauen<br />

im vorliegenden Fall ist damit nicht vergleichbar. Dazu<br />

kommt, dass der GH im Fall Ždanoka dem Umstand<br />

Gewicht beimaß, dass das lettische Parlament die strittige<br />

Regelung regelmäßig überprüfte und das Verfassungsgericht<br />

eine Frist für die Einschränkung vorsah.<br />

Diese Faktoren sind auch vorliegend relevant, insbesondere<br />

da sich der politische und historische Kontext eines<br />

Staates weiter entwickelt und die ursprüngliche Rechtfertigung<br />

der auferlegten Einschränkung mit der Zeit<br />

abklingen kann.<br />

Vorliegend unterliegt die Einschränkung nicht nur<br />

keiner Frist, sondern sie ist zusätzlich in verfassungsrechtlichen<br />

Stein gemeißelt. Der Ausschluss von der<br />

Kandidatur bei Parlamentswahlen hat hier eine Konnotation<br />

der Unabänderlichkeit, die kaum mit Art. 3<br />

1. Prot. EMRK in Einklang zu bringen ist.<br />

Schließlich ist anzumerken, dass die fraglichen Gesetzesbestimmungen<br />

aus einem Gesetzgebungsprozess<br />

herrühren, der stark von den Umständen dieses Falles<br />

beeinflusst war. Diesen Eindruck erweckt vor allem<br />

die Geschwindigkeit, mit der die Gesetzesänderungen<br />

durchgeführt wurden, nachdem der Bf. versucht hatte,<br />

bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Dies ist<br />

zwar unter Art. 3 1. Prot. EMRK nicht ausschlaggebend,<br />

der GH sieht darin jedoch einen weiteren Hinweis auf<br />

die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht auf<br />

freie Wahlen.<br />

11<br />

Österreichisches Institut für <strong>Menschenrechte</strong><br />

© <strong>Jan</strong> <strong>Sramek</strong> <strong>Verlag</strong>

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