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BRAK-Mitt. 3/2003 Aufsätze 101<br />
Kirchhof, Anwalt ohne Recht – Schicksale jüdischer Anwälte in Deutschland nach 1933<br />
stehens und die stets erfor<strong>de</strong>rliche Vergewisserung über unsere<br />
Gegenwart.<br />
1. Erinnern<br />
Wenn wir uns heute aller damals ausgegrenzten jüdischen Anwälte<br />
erinnern und ihr weiteres Schicksal – das Bedrohen, das<br />
Verächtlichmachen, das Vertreiben und die Ermordung – vor Augen<br />
führen, so ist dieses Erinnern zunächst Ausdruck einer Verbun<strong>de</strong>nheit.<br />
Wir alle haben kaum noch einen <strong>de</strong>r vor fast sechzig<br />
und siebzig Jahren Betroffenen persönlich gekannt, können<br />
uns aber gera<strong>de</strong> als Juristen lebhaft in die Lage <strong>de</strong>rer versetzen,<br />
die ihren Beruf <strong>de</strong>r Pflege <strong>de</strong>s Rechts in Deutschland gewidmet<br />
haben, nun aber erfahren müssen, dass <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Staat o<strong>de</strong>r<br />
diejenigen, die sich dieses Staates bemächtigt haben, Recht und<br />
Hoheitsgewalt einsetzen, um extremes Unrecht zuzufügen.<br />
Wenn wir sehen, wie ein Anwalt, <strong>de</strong>r lediglich von einem Rechtsbehelf<br />
Gebrauch gemacht hat, <strong>de</strong>swegen öffentlich entblößt und<br />
bloßgestellt wird; wie ein Strafverteidiger, <strong>de</strong>r einem Angeklagten<br />
sein Recht auf Verteidigung gibt, <strong>de</strong>shalb die Zulassung verliert;<br />
wie ein Mensch, allein weil er eine persönlichkeitsbestimmen<strong>de</strong><br />
Eigenart hat, vernichtet wird; wie ein von <strong>de</strong>r Weimarer<br />
Verfassung auf Menschenwür<strong>de</strong> und rechtstaatliche Demokratie<br />
ausgerichteter Staat seine Gewalt zu einem Instrument <strong>de</strong>r Vernichtung<br />
wer<strong>de</strong>n lässt, so erlebt <strong>de</strong>r Jurist von heute noch mehr<br />
ein Stück Mitbetroffenheit, weil er in einer vergleichbaren – Menschenwür<strong>de</strong>,<br />
freiheitliche Demokratie, Rechts- und Gerichtsschutz<br />
– verheißen<strong>de</strong>n Rechtsordnung arbeitet und dieses in <strong>de</strong>r<br />
Gewissheit zu tun glaubt, dass die verfassungsrechtliche Unabän<strong>de</strong>rlichkeitsgarantie<br />
diese Offenheit <strong>de</strong>r Rechtsordnung für<br />
die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s einzelnen Menschen wie für das Humanum unserer<br />
Rechtskultur auf Dauer verlässlich sichert.<br />
Kernanliegen dieser Ausstellung ist es aber, die Mitbetroffenheit<br />
mit je<strong>de</strong>m Schicksal <strong>de</strong>s einzelnen Menschen zu vermitteln. Wir<br />
wissen nicht, ob und wie dieses rückschauen<strong>de</strong> Miterleben persönlicher<br />
Schicksale die damals Betroffenen erreicht und ihren<br />
Verwandten und Nachkommen noch Trost zu spen<strong>de</strong>n vermag.<br />
Es gehört aber zu unserer Rechtskultur, dass wir <strong>de</strong>n Betroffenen<br />
im Gedächtnis nahe, in <strong>de</strong>r Erinnerung verbun<strong>de</strong>n und in <strong>de</strong>n<br />
Rechtsi<strong>de</strong>alen zugehörig bleiben.<br />
2. Verlust<br />
Sodann erfahren wir in <strong>de</strong>r Ausstellung, welch großen Verlust<br />
das Recht und seine Entwicklung durch die damalige Verfolgung<br />
erlitten hat. Recht lebt in seinen Werten und Normen, erzielt<br />
aber seine konkreten Wirkungen durch die Menschen, die diesem<br />
Recht dienen.<br />
Wir lesen die Namen <strong>de</strong>r Anwälte, die damals getötet und vertrieben<br />
wor<strong>de</strong>n sind, und treffen auf herausragen<strong>de</strong> Kapazitäten<br />
<strong>de</strong>r Rechtspolitik, <strong>de</strong>r Rechtswissenschaft und <strong>de</strong>r anwaltschaftlichen<br />
Rechtspflege, aber auch auf die Schicksale jener Anwälte,<br />
die mit ihrer Aufmerksamkeit für <strong>de</strong>n alltäglichen Fall – <strong>de</strong>n kleinen<br />
Diebstahl, das Mietrechtsverhältnis o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Familienstreit –<br />
<strong>de</strong>n Humus <strong>de</strong>s Rechts immer wie<strong>de</strong>r gelockert, gepflegt und erneuert<br />
haben. Zu <strong>de</strong>n hochangesehenen Juristen darf ich zwei<br />
Beispiele nennen: Ich habe über das Leben und das Werk von Albert<br />
Hensel, <strong>de</strong>m großen Steuerjuristen, publiziert und dabei intensiv<br />
erfahren, dass wir in diesem großen Gelehrten und nach<strong>de</strong>nklichen<br />
Menschen eine be<strong>de</strong>utsame Stimme verloren haben,<br />
die für die Entwicklung dieses Rechtes weiterhin von richtunggeben<strong>de</strong>r<br />
Be<strong>de</strong>utung hätte sein können. Die Deutsche Steuerjuristische<br />
Gesellschaft benennt ihren wissenschaftlichen Nachwuchspreis<br />
noch heute nach Albert Hensel. Vor wenigen Jahren<br />
habe ich ein Buch von Siegfried Moses, 1944 in Tel Aviv erstmals<br />
publiziert, in <strong>de</strong>utscher und in englischer Sprache erneut mitherausgegeben<br />
und dabei erfahren, dass dieser weitsichtige Beobachter<br />
<strong>de</strong>s Zeitgeschehens die zukünftige Entwicklung<br />
Deutschlands <strong>de</strong>utlich vorausgesehen, daraus rechtliche Folgerungen<br />
gezogen und so schon damals – 1944 – in <strong>de</strong>r extremen<br />
Krise Überlegungen zur nachherigen Erneuerung angestellt hat.<br />
Wenn eine Rechtsgemeinschaft gera<strong>de</strong> im Unrecht auf diese<br />
Kulturträger angewiesen ist und sie diese <strong>de</strong>nnoch abrupt verliert,<br />
dieser Verlust dann auch bei <strong>de</strong>m letztlich gelungenen<br />
Neuaufbau <strong>de</strong>s Rechtsstaates wirksam bleibt, so bedrängt uns<br />
beklommen die Frage nach <strong>de</strong>r Vermeidbarkeit dieses Verlustes,<br />
damit nach <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nsfunktion <strong>de</strong>s Rechts, ein Begriff, in <strong>de</strong>m<br />
einerseits die Umfriedung <strong>de</strong>r Rechte <strong>de</strong>s Einzelnen, <strong>de</strong>r Sicherung<br />
seiner Wür<strong>de</strong> und Freiheit mitklingt, an<strong>de</strong>rerseits aber auch<br />
die Freu<strong>de</strong> angesprochen ist, in <strong>de</strong>r sich die Rechtsgemeinschaft<br />
im Selbstbewusstsein ihrer rechtlichen I<strong>de</strong>ale zusammenfin<strong>de</strong>t<br />
und als <strong>de</strong>mokratische Gemeinschaft vertieft. Das Verlorene ist<br />
unwie<strong>de</strong>rbringlich, enthält aber <strong>de</strong>n Auftrag, <strong>de</strong>n Beitrag für<br />
das Recht, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Verfolgten zu erwarten gewesen wäre,<br />
durch Doppelanstrengung <strong>de</strong>r jetzt Rechtsverantwortlichen annähernd<br />
zu ersetzen und die Vorkehrungen für eine nunmehr<br />
verlässliche Bewährungskraft <strong>de</strong>s Rechts für Gegenwart und Zukunft<br />
zu verstärken.<br />
3. Versuch <strong>de</strong>s Verstehens<br />
Die Ausstellung dokumentiert die Schicksale <strong>de</strong>r Betroffenen, und<br />
dieses in <strong>de</strong>r Sachlichkeit <strong>de</strong>r Namen, <strong>de</strong>r Porträts, <strong>de</strong>r Daten,<br />
auch in zeithistorischen Dokumenten und Bil<strong>de</strong>rn, die uns jeweils<br />
die Biographie eines Menschen und seine Tragik an<strong>de</strong>uten.<br />
Wir belassen es bei dieser Form <strong>de</strong>r Darstellung, machen nicht<br />
<strong>de</strong>n Versuch, das Unsägliche zu sagen, das Nichtbegreifbare in<br />
Begriffe zu fassen. All das wären Wege, die ein Verstehen verhin<strong>de</strong>rn.<br />
Die gesamte Ausstellung aber bedrängt uns in <strong>de</strong>r Frage<br />
nach <strong>de</strong>m Warum.<br />
Der Historiker Thomas Nipper<strong>de</strong>y lehrt uns, die Ju<strong>de</strong>nverfolgung<br />
nicht vom Ergebnis – von Auschwitz her – zu verstehen,<br />
sie vielmehr in ihren Anfängen 1932/1933 zu würdigen, als eine<br />
Massenvernichtung – wie er sagt – noch un<strong>de</strong>nkbar schien. Deswegen<br />
richten wir unseren Blick auf die damalige Armut, die politische<br />
Enttäuschung, die persönliche Bitterkeit, oft auch Überlebenskampf<br />
und Sinnzweifel. Alles das erklärt aber nicht,<br />
warum eine Kultur mit <strong>de</strong>r Sprache von Goethe und Schiller, mit<br />
<strong>de</strong>r Musik von Bach und Mozart, mit <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>alismus eines Kant<br />
und Schelling so elementar ihre Handlungsmaßstäbe verlieren<br />
konnte.<br />
Die damalige Kunst zeigt oft das Ausweglose, <strong>de</strong>n verzehrten<br />
Menschen, scheint eher in dieser Problemsicht verharren und<br />
weniger Lösungen an<strong>de</strong>uten zu wollen, scheint vielfach auch zu<br />
zögern, sich das Schöne, das Zeitlose, historische I<strong>de</strong>ale zu erschließen.<br />
Eine Unsicherheit in eigenen Werten, eine Ungewissheit<br />
über die eigene Person und <strong>de</strong>n Staat dürften <strong>de</strong>n Schritt für<br />
eine Ausgrenzung <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>s persönlich<br />
nicht so Vertrauten för<strong>de</strong>rn. Wenn wir die Verzweiflungsrufe<br />
über <strong>de</strong>n damaligen Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>s Staates, <strong>de</strong>r Relativierung<br />
<strong>de</strong>r Werte heute lesen, beobachten wir eine geistige Ausgangssituation,<br />
die das Unbegreifliche nicht erklärt, uns aber die Anfälligkeit<br />
auch einer freiheitlichen Grundordnung <strong>de</strong>utlich zeigt.<br />
Unsere Ausstellung bleibt <strong>de</strong>shalb eine Frage, die keinen mit<br />
wohlfeilen Antworten entlässt. Diese Ausstellung ist beunruhigend,<br />
drängt aus ruhiger Gewissheit.<br />
4. Folgerungen für die Gegenwart<br />
Wenn wir nach <strong>de</strong>n historischen Lehren aus <strong>de</strong>r Zeit von 1933<br />
bis 1945 fragen, so sage ich meinen Stu<strong>de</strong>nten zunächst immer