Hausen statt Wohnen – Von der Hart - KOBRA - Universität Kassel
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nachfolgenden Leitbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Stadt- und Verkehrsplanung enthalten die<br />
grundsätzliche Illusion, dass Architekten eine harmonische Welt herstellen können, da<br />
"gutes <strong>Wohnen</strong> direkt zu gutem Betragen führt". H. Niebuhr nannte diese Selbstüberschätzung<br />
<strong>der</strong> Architektur "Die Doktrin vom Heil durch Ziegelsteine" (zitiert in Jacobs, J.<br />
1963: 78).<br />
Die "gute Absicht" führt in allen Stadtmodellen zu fremdbestimmten Lebensverhältnissen,<br />
denn mit <strong>der</strong> rationellen Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Stadt wurden zugleich klare Verhaltensvorgaben<br />
eingeführt. So war die propagierte "neue Stadt" z. B. grundsätzlich von schnellem<br />
Fahrverkehr abhängig, weil durch die Funktionstrennung Distanzen und weite Wege entstehen.<br />
Alternativen o<strong>der</strong> Abkürzungen werden durch die rigorose Vorgabe von bestimmten<br />
Wegeverbindungen ausgeschlossen. FußgängerInnen, die beim Erledigen des Alltags<br />
ganz nebenbei auch einmal ein Gespräch auf <strong>der</strong> Straße führen, tauchen in diesem Leitbild<br />
gar nicht auf. Die Idee, durch eine parallele Anordnung <strong>der</strong> Funktionsbereiche kurze<br />
Wege herzustellen, ging von einer Fortbewegung <strong>der</strong> Menschen nur zwischen den bedachten<br />
Funktionsbereichen aus: Wege vom Wohngebiet zu den Geschäften o<strong>der</strong> zum<br />
Arbeitsplatz und zurück, Querwege, Wegeverknüpfungen, Abkürzungen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Abweichungen<br />
vom Ziel-Punkt-Verkehr und damit auch Gelegenheiten zum Gespräch waren<br />
schlichtweg nicht vorgesehen. Hierdurch waren Umwege, weite Wege und letztendlich<br />
die Benutzung des Autos vorprogrammiert (vgl. Holz-Rau, C. 1997).<br />
Die "neue Stadt" in ihrer stringenten Ordnung lässt den Bewohnern also nur geringe<br />
Spielräume. Im Grunde wird <strong>der</strong> gesamte Alltag durchgestaltet und im Voraus entworfen.<br />
Die Rolle <strong>der</strong> Menschen besteht in <strong>der</strong> Einhaltung <strong>der</strong> Vorgaben, falls sie den moralischen<br />
Ansprüchen entsprechen wollen, die bis in die individuelle Lebensorganisation<br />
reichen.<br />
Diese Art <strong>der</strong> Stadtglie<strong>der</strong>ung bedeutet aber nicht nur eine starke Einschränkung <strong>der</strong> individuellen<br />
Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Die neue Stadtglie<strong>der</strong>ung ist<br />
durch eine äußerst geringe Anpassungsfähigkeit ausgezeichnet. Durch die funktionale<br />
Glie<strong>der</strong>ung bleibt kein Spielraum für Verän<strong>der</strong>ungen Die "gute Absicht", eine vollkommene<br />
Welt herzustellen, hatte also Entwürfe zur Folge, die zu starr waren, um an modifizierte<br />
soziale und ökonomische Verhältnisse angepasst werden zu können.<br />
"Der Zeilenbau will möglichst alles von <strong>der</strong> Wohnung her lösen und heilen, sicherlich in ernstem<br />
Bemühen um den Menschen. Aber faktisch wird <strong>der</strong> Mensch gerade hier zum Begriff, zur<br />
Figur. Der Mensch hat zu wohnen und durch das <strong>Wohnen</strong> gesund zu werden, und die genaue<br />
Wohndiät wird ihm bis ins einzelne vorgeschrieben. Er hat, wenigstens bei den konsequentesten<br />
Architekten, gegen Osten zu Bett zu gehen, gegen Westen zu essen und Mutters Brief<br />
zu beantworten, und die Wohnung wird so organisiert, dass er es faktisch gar nicht an<strong>der</strong>s<br />
machen kann. Indem er Leben zum <strong>Wohnen</strong> spezialistisch verengt" - so fasst Behne diese<br />
prinzipielle Kritik zusammen - "verfehlt dieser Siedlungsbau auch das <strong>Wohnen</strong>". (ag arch<br />
ruhrgebiet 1990: 110)<br />
Gleichzeitig wirkte die Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Stadt in ihrer Übersichtlichkeit und Einfachheit<br />
aber wohl bestechend auf Architekten, und später auch auf Stadt- und Verkehrsplaner.<br />
Das führte dazu, dass die beschriebenen Leitbil<strong>der</strong> und Stadtmodelle <strong>der</strong><br />
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