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P R O S A , �L Y R I K �+ �C O M I C S<br />
P R O S A , �L Y R I K �+ �C O M I C S<br />
P R O S A , �L Y R I K �+ �C O M I C S<br />
Der Schlag der Kirchturmuhr ließ ihn aufhorchen.<br />
Eins. Panik! Zwei. Würde er es durchhalten?<br />
Drei. Spannung. Stille. Also war es noch zu<br />
früh. Noch eine kurze Frist, eine Henkersfrist.<br />
Er sah sich um: Sträucher, Grabsteine, Gestecke<br />
auf den frischen Gräbern, der Geruch nach<br />
Moder und Erde. Und er inmitten alle dem, für<br />
was eigentlich? Was hatte ihn hier hergetrieben,<br />
war er von allen guten Geistern verlassen?<br />
Einmal hatte er sie gesehen und es hatte gereicht:<br />
Er musste ihr jetzt helfen. Oder zugrunde<br />
gehen. Oder auch beides.<br />
Er wollte überleben, liebte das Leben, aber<br />
eben auch sie. Was sie getan hatte war ihm egal,<br />
es war ja auch schon so lange her. Er wusste,<br />
nur er könnte ihr helfen. Nur schwer lösten<br />
sich seine Gedanken von ihrem Bild, ihrem<br />
lieblichen Bild, das sich hinter seiner Stirn bis an<br />
sein Lebensende eingebrannt hatte.<br />
Dort vorne, hinter dem schmiedeeisernen<br />
Zaun war der Brunnen, direkt vor der Leichenhalle.<br />
Mörderische Spaten, schwere Särge dort.<br />
Sonst keine Gefahr. Den Weg nach rechts, einmal<br />
links, dort war ein offenes Grab. Tief genug,<br />
um sich den Hals zu brechen. Der Zaun! Spitze<br />
Zacken, scharf für den, der über ihn fliehen<br />
wollte. Aber das Tor stand offen, stand offen,<br />
konnte geschlossen werden. Nicht daran denken.<br />
Vielleicht würde er gar nicht mehr fliehen<br />
wollen, sondern vielmehr freiwillig in sein Verderben<br />
rennen.<br />
Seine Linke an den Hals, die Rechte in die Tasche:<br />
Beide Kruzifixe noch da, Kleines an der<br />
Kette, Großes in der Rechten.<br />
Der Schlag der Turmuhr traf ihn bis ins Mark:<br />
viermal kurz. Dann: Eins! Links: Nichts! Zwei!<br />
Rascheln rechts? Drei! Nur ein Baum, der sich<br />
biegt Vier! Hinten: Glitzern. Fünf! Der Mond<br />
spiegelt sich. Sechs! Das Kreuz erhoben nähern.<br />
Sieben! Glänzendes Messing Acht! am Weihwasserbecken.<br />
Neun! Zehn! Elf!<br />
„Komm!“ rief sie, und den letzten Schlag der<br />
Kirchturmuhr hört er bereits nicht mehr.<br />
Ihr mächtiger Körper schimmerte seltsam bleich<br />
und wie aus flüssigem Silber im Mondenschein,<br />
ihre goldenen bodenlangen Haare umflossen ihren Körper weich,<br />
sie lehnte nackt am weißen Stein.<br />
Wer liebend ihr verfiel, ward hoffnungslos verloren,<br />
seit Jahrhunderten schon dauerte der schreckliche Fluch.<br />
Keiner der sie je sah, blieb davon ungeschoren:<br />
Nach kurzem Leid erwartet ihn sein Leichentuch.<br />
www.anduin.de - das kostenlose und unabhängige e.Zine für phantastische Spiele - © 2003 Tommy Heinig<br />
Er konnte sich noch sehr gut an den sternenklaren<br />
Sommerabend vor zwei Jahren erinnern.<br />
Er wäre mit dem Auto an dem verfallenen und<br />
verlassenen Anwesen beinahe vorbeigefahren,<br />
hätte er nicht plötzlich Lust bekommen,<br />
sich das Haus, das er schon ewig kannte und<br />
noch nie betreten hatte, anzusehen. Es stand<br />
seit etlicher Zeit leer, er wusste nicht einmal,<br />
wem es gehörte. Den Weg nahmen die Bauern<br />
nur wenn sie auf dem Feld zu tun hatten, sonst<br />
wurde er gemieden. Wieso eigentlich, fragte er<br />
sich und hielt. Er hatte zwar keine Lampe dabei,<br />
aber es war Vollmond. Er trat durch den Torbogen<br />
in den Hof, vom Tor selbst hingen nur noch<br />
die Angeln an ihrem Platz, das Holz war längst<br />
zerfallen. Im Hof gab es nicht viel zu sehen, alles<br />
war zerfallen und verwildert. Die Tür zum<br />
Haus selbst war auch nicht mehr vorhanden,<br />
hinter dem Eingang ein sternenbeschienener<br />
Geröllhaufen: Das Dach war eines Tages mitsamt<br />
dem ersten Stock eingefallen. Ihm sollte es<br />
recht sein, so konnte er etwas sehen. Er schritt<br />
durch den Eingang und kletterte ein wenig über<br />
das Geröll.<br />
Das Tor zum Hof quietschte in den Angeln, einmal,<br />
zweimal. Zielstrebig kam eine altertümlich<br />
gekleidete Gestalt auf das Haus zu, öffnete die<br />
Haustüre und trat herein, herein zu ihm.<br />
Was hatte er da eben zu sehen geglaubt? Das<br />
war doch lächerlich! Das Tor das da gequietscht<br />
hatte gab es nicht, solche Kleidung trug man seit<br />
Jahrhunderten nicht mehr. Er hatte sich das eingebildet.<br />
Vielleicht ging er jetzt besser wieder.<br />
Die Schritte des Mannes kamen nun von oben,<br />
eine Tür öffnete sich. Er schrie rasend vor Wut!<br />
Eine Frauenstimme antwortete „Nein, bitte!“ Es<br />
ging schnell, schreien, stöhnen, dann zwei kurze<br />
dumpfe Schläge und es herrschte Ruhe.<br />
Er kletterte die Treppe hinauf. Widerwillig.<br />
Das Schluchzen einer Frau, sonst nichts. Dann<br />
sah er das Zimmer.<br />
Blut auf dem Teppich, auf dem Bett, Blut, das<br />
aus der Brust des Mannes drang, sein Gesicht von<br />
Wut verzerrt und im Moment seines Todes festgehalten.<br />
Ein toter, nackter Mann daneben. Und<br />
in mitten alledem stand sie. Sein Herz schlug bis<br />
zum Hals. Hüllenlos stand sie da, weinend, er<br />
wollte zu ihr, sie trösten, umarmen und beschützen.<br />
Das Messer in ihrer besudelten Hand hielt<br />
ihn davon ab. Flucht?<br />
Sie sah ihn an. Schmerzen, Trauer, Hoffnungslosigkeit,<br />
Resignation, Abschluss mit der Welt.<br />
Und Mordlust, eindeutig Mordlust. Er schrie,<br />
erwachte aus seiner Starre. Und fiel.<br />
78<br />
WIE AUS FLÜSSIGEM<br />
SILBER<br />
TEXT: SEBASTIAN MAYER<br />
Als er auf dem Geröll aufschlug setzten seine<br />
Sinne kurz aus. Als er wieder erwachte küsste<br />
sie ihn innig und senkte ihr Messer in seinen Rücken.<br />
Er schrie, wollte sie wegdrücken, sprang<br />
aber durch sie hindurch. Taumelte, fing sich.<br />
Panische Flucht über das Geröll zum Eingang<br />
hinaus. Er glaubte sie immer noch hinter sich,<br />
floh aus dem Hof, in sein Auto und gab Gas.<br />
Als die Polizei sein Auto fand, war es fast<br />
schon zu spät, soviel Blut hatte er verloren.<br />
Doch schlimmer noch als sein Körper war sein<br />
Seele verletzt, Verlangen nach ihrem tödlichen<br />
Kuss und ihrem verführerischen Anblick hatten<br />
sich tief in sie gegraben. Eines Tages würde er<br />
sie wiedersehen.<br />
Im Leben betrog sie ihren Gatten in seiner Väter Haus.<br />
Er kam hinzu, dem Gericht wollt‘ beide übergeben.<br />
Sie stach, Geliebter schrie, sie löschte beider Leben aus,<br />
mit Blut besudelt, alles verloren, nahm sich ihr Leben.<br />
Ihr mächtiger Körper schimmert seltsam bleich,<br />
und wie aus flüssigem Silber im Mondenschein,<br />
ihre goldenen bodenlangen Haare umfließen ihren Körper weich,<br />
wenn sie ihr Messer wetzt am Opferstein.<br />
„Komm!“, ruft sie, und den letzten Schlag<br />
der Kirchturmuhr hört er bereits nicht mehr.<br />
„Komm, Liebster!“, lockt sie, er folgt mit klopfendem<br />
Herzen. Von rechts kommt der Ruf.<br />
Endlich sie wiedersehen - oder? Ein paar Schritt<br />
auf dem Weg, dann links. Aus der frischen Grube<br />
tönt ihr Locken: „Komm!“ Sein Kreuz fällt<br />
ihm aus der Hand, er achtet nicht mehr darauf.<br />
Im Grab liegt ein Sarg, glanzlos, geschlossen.<br />
Unter dem Sarg ruft sie ihn mit halb erstickter<br />
Stimme: „Komm herein zu mir, komm in<br />
meine Arme.“ Am Rand der Grube bleibt er<br />
stehen. Sein Mondschatten fällt auf den Sarg.<br />
Widerstand regt sich in ihm. „Komm!“ lautet<br />
ihr Flehen, schwächer nun. Er will ein Gebet<br />
sprechen, seine Kehle versagt ihm den Dienst.<br />
Still schickt er es himmelwärts. Dann hinab in<br />
die Grube. Mit zittrigen Händen ergreift er<br />
den Sargdeckel, hebt an und erstarrt, als sie<br />
ihre kalten Hände auf Seine legt. Blutig sind sie,<br />
aber kein Blut pulsiert in ihnen. Der Sargdeckel<br />
rutscht und sie liegt in weißes Leinen gebettet<br />
vor ihm. Makellos, bleich, schöner als er sie in<br />
Erinnerung hatte. „Komm, sei für immer mein.“<br />
und sie zieht ihn zu sich.<br />
Langsam, bestimmt, und die Kälte sackt über<br />
ihm zusammen, vergessen. Er lässt sich führen,<br />
legt sich in den Sarg, beobachtet sie, wie sie den