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Anduin 86

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P R O S A , �L Y R I K �+ �C O M I C S<br />

P R O S A , �L Y R I K �+ �C O M I C S<br />

P R O S A , �L Y R I K �+ �C O M I C S<br />

Der Schlag der Kirchturmuhr ließ ihn aufhorchen.<br />

Eins. Panik! Zwei. Würde er es durchhalten?<br />

Drei. Spannung. Stille. Also war es noch zu<br />

früh. Noch eine kurze Frist, eine Henkersfrist.<br />

Er sah sich um: Sträucher, Grabsteine, Gestecke<br />

auf den frischen Gräbern, der Geruch nach<br />

Moder und Erde. Und er inmitten alle dem, für<br />

was eigentlich? Was hatte ihn hier hergetrieben,<br />

war er von allen guten Geistern verlassen?<br />

Einmal hatte er sie gesehen und es hatte gereicht:<br />

Er musste ihr jetzt helfen. Oder zugrunde<br />

gehen. Oder auch beides.<br />

Er wollte überleben, liebte das Leben, aber<br />

eben auch sie. Was sie getan hatte war ihm egal,<br />

es war ja auch schon so lange her. Er wusste,<br />

nur er könnte ihr helfen. Nur schwer lösten<br />

sich seine Gedanken von ihrem Bild, ihrem<br />

lieblichen Bild, das sich hinter seiner Stirn bis an<br />

sein Lebensende eingebrannt hatte.<br />

Dort vorne, hinter dem schmiedeeisernen<br />

Zaun war der Brunnen, direkt vor der Leichenhalle.<br />

Mörderische Spaten, schwere Särge dort.<br />

Sonst keine Gefahr. Den Weg nach rechts, einmal<br />

links, dort war ein offenes Grab. Tief genug,<br />

um sich den Hals zu brechen. Der Zaun! Spitze<br />

Zacken, scharf für den, der über ihn fliehen<br />

wollte. Aber das Tor stand offen, stand offen,<br />

konnte geschlossen werden. Nicht daran denken.<br />

Vielleicht würde er gar nicht mehr fliehen<br />

wollen, sondern vielmehr freiwillig in sein Verderben<br />

rennen.<br />

Seine Linke an den Hals, die Rechte in die Tasche:<br />

Beide Kruzifixe noch da, Kleines an der<br />

Kette, Großes in der Rechten.<br />

Der Schlag der Turmuhr traf ihn bis ins Mark:<br />

viermal kurz. Dann: Eins! Links: Nichts! Zwei!<br />

Rascheln rechts? Drei! Nur ein Baum, der sich<br />

biegt Vier! Hinten: Glitzern. Fünf! Der Mond<br />

spiegelt sich. Sechs! Das Kreuz erhoben nähern.<br />

Sieben! Glänzendes Messing Acht! am Weihwasserbecken.<br />

Neun! Zehn! Elf!<br />

„Komm!“ rief sie, und den letzten Schlag der<br />

Kirchturmuhr hört er bereits nicht mehr.<br />

Ihr mächtiger Körper schimmerte seltsam bleich<br />

und wie aus flüssigem Silber im Mondenschein,<br />

ihre goldenen bodenlangen Haare umflossen ihren Körper weich,<br />

sie lehnte nackt am weißen Stein.<br />

Wer liebend ihr verfiel, ward hoffnungslos verloren,<br />

seit Jahrhunderten schon dauerte der schreckliche Fluch.<br />

Keiner der sie je sah, blieb davon ungeschoren:<br />

Nach kurzem Leid erwartet ihn sein Leichentuch.<br />

www.anduin.de - das kostenlose und unabhängige e.Zine für phantastische Spiele - © 2003 Tommy Heinig<br />

Er konnte sich noch sehr gut an den sternenklaren<br />

Sommerabend vor zwei Jahren erinnern.<br />

Er wäre mit dem Auto an dem verfallenen und<br />

verlassenen Anwesen beinahe vorbeigefahren,<br />

hätte er nicht plötzlich Lust bekommen,<br />

sich das Haus, das er schon ewig kannte und<br />

noch nie betreten hatte, anzusehen. Es stand<br />

seit etlicher Zeit leer, er wusste nicht einmal,<br />

wem es gehörte. Den Weg nahmen die Bauern<br />

nur wenn sie auf dem Feld zu tun hatten, sonst<br />

wurde er gemieden. Wieso eigentlich, fragte er<br />

sich und hielt. Er hatte zwar keine Lampe dabei,<br />

aber es war Vollmond. Er trat durch den Torbogen<br />

in den Hof, vom Tor selbst hingen nur noch<br />

die Angeln an ihrem Platz, das Holz war längst<br />

zerfallen. Im Hof gab es nicht viel zu sehen, alles<br />

war zerfallen und verwildert. Die Tür zum<br />

Haus selbst war auch nicht mehr vorhanden,<br />

hinter dem Eingang ein sternenbeschienener<br />

Geröllhaufen: Das Dach war eines Tages mitsamt<br />

dem ersten Stock eingefallen. Ihm sollte es<br />

recht sein, so konnte er etwas sehen. Er schritt<br />

durch den Eingang und kletterte ein wenig über<br />

das Geröll.<br />

Das Tor zum Hof quietschte in den Angeln, einmal,<br />

zweimal. Zielstrebig kam eine altertümlich<br />

gekleidete Gestalt auf das Haus zu, öffnete die<br />

Haustüre und trat herein, herein zu ihm.<br />

Was hatte er da eben zu sehen geglaubt? Das<br />

war doch lächerlich! Das Tor das da gequietscht<br />

hatte gab es nicht, solche Kleidung trug man seit<br />

Jahrhunderten nicht mehr. Er hatte sich das eingebildet.<br />

Vielleicht ging er jetzt besser wieder.<br />

Die Schritte des Mannes kamen nun von oben,<br />

eine Tür öffnete sich. Er schrie rasend vor Wut!<br />

Eine Frauenstimme antwortete „Nein, bitte!“ Es<br />

ging schnell, schreien, stöhnen, dann zwei kurze<br />

dumpfe Schläge und es herrschte Ruhe.<br />

Er kletterte die Treppe hinauf. Widerwillig.<br />

Das Schluchzen einer Frau, sonst nichts. Dann<br />

sah er das Zimmer.<br />

Blut auf dem Teppich, auf dem Bett, Blut, das<br />

aus der Brust des Mannes drang, sein Gesicht von<br />

Wut verzerrt und im Moment seines Todes festgehalten.<br />

Ein toter, nackter Mann daneben. Und<br />

in mitten alledem stand sie. Sein Herz schlug bis<br />

zum Hals. Hüllenlos stand sie da, weinend, er<br />

wollte zu ihr, sie trösten, umarmen und beschützen.<br />

Das Messer in ihrer besudelten Hand hielt<br />

ihn davon ab. Flucht?<br />

Sie sah ihn an. Schmerzen, Trauer, Hoffnungslosigkeit,<br />

Resignation, Abschluss mit der Welt.<br />

Und Mordlust, eindeutig Mordlust. Er schrie,<br />

erwachte aus seiner Starre. Und fiel.<br />

78<br />

WIE AUS FLÜSSIGEM<br />

SILBER<br />

TEXT: SEBASTIAN MAYER<br />

Als er auf dem Geröll aufschlug setzten seine<br />

Sinne kurz aus. Als er wieder erwachte küsste<br />

sie ihn innig und senkte ihr Messer in seinen Rücken.<br />

Er schrie, wollte sie wegdrücken, sprang<br />

aber durch sie hindurch. Taumelte, fing sich.<br />

Panische Flucht über das Geröll zum Eingang<br />

hinaus. Er glaubte sie immer noch hinter sich,<br />

floh aus dem Hof, in sein Auto und gab Gas.<br />

Als die Polizei sein Auto fand, war es fast<br />

schon zu spät, soviel Blut hatte er verloren.<br />

Doch schlimmer noch als sein Körper war sein<br />

Seele verletzt, Verlangen nach ihrem tödlichen<br />

Kuss und ihrem verführerischen Anblick hatten<br />

sich tief in sie gegraben. Eines Tages würde er<br />

sie wiedersehen.<br />

Im Leben betrog sie ihren Gatten in seiner Väter Haus.<br />

Er kam hinzu, dem Gericht wollt‘ beide übergeben.<br />

Sie stach, Geliebter schrie, sie löschte beider Leben aus,<br />

mit Blut besudelt, alles verloren, nahm sich ihr Leben.<br />

Ihr mächtiger Körper schimmert seltsam bleich,<br />

und wie aus flüssigem Silber im Mondenschein,<br />

ihre goldenen bodenlangen Haare umfließen ihren Körper weich,<br />

wenn sie ihr Messer wetzt am Opferstein.<br />

„Komm!“, ruft sie, und den letzten Schlag<br />

der Kirchturmuhr hört er bereits nicht mehr.<br />

„Komm, Liebster!“, lockt sie, er folgt mit klopfendem<br />

Herzen. Von rechts kommt der Ruf.<br />

Endlich sie wiedersehen - oder? Ein paar Schritt<br />

auf dem Weg, dann links. Aus der frischen Grube<br />

tönt ihr Locken: „Komm!“ Sein Kreuz fällt<br />

ihm aus der Hand, er achtet nicht mehr darauf.<br />

Im Grab liegt ein Sarg, glanzlos, geschlossen.<br />

Unter dem Sarg ruft sie ihn mit halb erstickter<br />

Stimme: „Komm herein zu mir, komm in<br />

meine Arme.“ Am Rand der Grube bleibt er<br />

stehen. Sein Mondschatten fällt auf den Sarg.<br />

Widerstand regt sich in ihm. „Komm!“ lautet<br />

ihr Flehen, schwächer nun. Er will ein Gebet<br />

sprechen, seine Kehle versagt ihm den Dienst.<br />

Still schickt er es himmelwärts. Dann hinab in<br />

die Grube. Mit zittrigen Händen ergreift er<br />

den Sargdeckel, hebt an und erstarrt, als sie<br />

ihre kalten Hände auf Seine legt. Blutig sind sie,<br />

aber kein Blut pulsiert in ihnen. Der Sargdeckel<br />

rutscht und sie liegt in weißes Leinen gebettet<br />

vor ihm. Makellos, bleich, schöner als er sie in<br />

Erinnerung hatte. „Komm, sei für immer mein.“<br />

und sie zieht ihn zu sich.<br />

Langsam, bestimmt, und die Kälte sackt über<br />

ihm zusammen, vergessen. Er lässt sich führen,<br />

legt sich in den Sarg, beobachtet sie, wie sie den

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