STUDIUMDas Opfer im StrafrechtWelche Stellung hat das Opfer im Strafrecht, im Strafprozessrecht, in der Kriminologieund in der Kriminalpolitik? Wird das Schweizer Strafrecht den jeweiligen Opfergruppengerecht? Mit dem Buch «Das Opfer im Strafrecht» ist das erste Schweizer Werk erhältlich,das sich in umfassender Weise mit diesen Fragen auseinandersetzt.Prof. Dr. Marianne SchwanderRessortleiterin Qualifikation/Prüfungenmarianne.schwander@bfh.chDas Buch «Das Opfer im Strafrecht» befasstsich im ersten Teil mit Fragen zurStellung der aktuellen und potenziellenOpfer (vgl. Glossar) im Straf- und Strafprozessrecht,in der Kriminologie sowie in derKriminalpolitik. Diese Fragen werden auseinem rechtlichen, psychologischen undgesellschaftspolitischen Blickwinkel beantwortet.Der Fokus liegt dabei auch auf denunterschiedlichen Interessen von aktuellenund potenziellen Opfern.In einem zweiten Teil werden spezifischeStraftatbestände untersucht. InsbesondereOpfer von Häuslicher Gewalt, Prostitution,Menschenhandel und Pornografie, Tätigein der Prostitution oder Pornografie, aberauch Mädchen und Frauen, die von Genitalverstümmelungbetroffen sind, sinderheblichen physischen, sexuellen undpsychischen Gefährdungen ausgesetzt,wie empirische Befunde belegen. Aus(grund-)rechtlicher, psychologischer sowiepolitischer Sicht muss man diesen problematischenImplikationen entgegentreten.Kann das schweizerische Strafrecht derspezifischen Opfergruppe gerecht werden?Und ist das Strafrecht überhauptdie richtige Antwort auf diese spezifischenOpferkonstellationen?Aktuelle Opfer wollen Hilfe,Entschädigung und SchutzAktuelle und potenzielle Opfer unterscheidensich in ihren Interessen und kriminalpolitischenForderungen. Bei aktuellenOpfern steht der Bestrafungswunsch niean erster oder allein an erster Stelle, wieempirische Untersuchungen zeigen. AktuelleOpfer fordern nicht ein repressiveresStrafrecht. Sie fordern von der Polizei inerster Linie tatsächliche Hilfe und Schutzvor weiterer Viktimisierung. Von der Justizerwarten sie insbesondere eine Unrechtsfeststellung,auch Informations-, SchutzundMitwirkungsrechte sowie möglichstkeine Konfrontation mit der beschuldigten18<strong>impuls</strong> März 2011
Person. Wichtig ist für die Betroffenenzudem ein Ersatz des erlittenen Schadens.Auch wenn es in der Opferforschung immermehr Befragungen gibt, aus denensich die genannten Interessen herauskristallisierenlassen, sind diese doch immernoch rar. Im Mittelpunkt der meistenOpferbefragungen steht einerseits immernoch das Interesse an den Verbrechensraten,das exakte Zählen von Opfern. Andererseitshaben sich die Untersuchungenzur Verbrechensfurcht schon fast zu einemeigenen Forschungszweig entwickelt,nämlich in Form von Befragungen vonpotenziellen Opfern.Potenzielle Opfer fordernmehr RepressionPotenzielle Opfer befinden sich in einerganz anderen Rolle als tatsächlich Betroffene:Potenzielle Opfer haben Angst, Opfereiner Straftat zu werden. Die Furcht voreinem Verbrechen und die reale Gefährdungdurch ein Verbrechen decken sichhäufig nicht. Potenzielle Opfer haben in derRegel keine Opfererfahrungen, sondernOpferfantasien. Sie fordern daher nichtetwa bestimmte Rechte in einem Strafverfahren,sondern eine bestimmte Art vonKriminalpolitik, die ihren Interessen alsmögliche Opfer genügen soll. So werdenkriminalpolitische Forderungen nach einemrepressiven Strafrecht gestellt, das nichtden tatsächlichen Interessen von aktuellenOpfern entspricht und ihnen in ihrem Leidin der Regel nicht weiterhilft.Beispiel ProstitutionRichten wir den Blick auf eine spezifischeStraftat: Ist das Strafrecht aus der Perspektivevon Opfern der Prostitution einerseitsund von sich freiwillig prostituierendenPersonen andererseits die richtigeAntwort? Und wie steht es um den Schutzdieser Personen? Sich prostituierendePersonen üben in der Schweiz ihre Tätigkeitlegal als selbstständig Erwerbendeaus. Sie können sich auf das Grundrechtder <strong>Wirtschaft</strong>sfreiheit berufen, zahlenSteuern, können betrieben werden undsich sozialversicherungsrechtlich absichern.Im Gegensatz zu anderen Gewerbetreibendenkönnen sie sich jedoch nichtauf den wichtigen privatrechtlichen Bestandteilder Vertragsfreiheit berufen, dennVerträge zwischen sich prostituierendenPersonen und einem Freier sind sittenwidrigund damit nichtig. Sie können somitden ihnen geschuldeten Lohn nicht einfordernund auch nicht als unselbstständigErwerbende tätig sein, beispielsweise alsAngestellte in einem geschützten Bordell.Aus diesem Grund stellt sich die Frage,was sich prostituierenden Personen ausrechtlicher Sicht am meisten Schutz gäbe.Hier sind insbesondere drei Forderungenaufzuführen:1. Wegfall der Sittenwidrigkeit ihrer Tätigkeitund damit rechtliche Durchsetzbarkeitdes Lohnes,2. Ermöglichung der <strong>Arbeit</strong> auch alsunselbstständig Erwerbende sowie3. vermehrter strafrechtlicher Schutz vorAusnützung, Gewalt und Nötigung.Sich prostituierende Personen sollen sichauf das Grundrecht der <strong>Wirtschaft</strong>sfreiheitin all seinen Teilgehalten berufen können,also auch auf die Vertragsfreiheit.In einem Schweizerischen Prostitutionsgesetzsollen Rechte und Pflichten der sichprostituierenden Personen geregelt werden,dass beispielsweise sexuelle Dienstleistungeneine rechtswirksame Forderungbegründen und dass das Rechtsverhältniszwischen einer sich prostituierendenPerson und ihrem Kunden bzw. ihrer Kundinals einseitig verpflichtender Vertragausgestaltet ist.Kriminalität mit allenMitteln des RechtsstaatesbekämpfenIm Strafgesetz soll die für den Berufsstandder Prostitution geschaffene spezifischeSchutzbestimmung aufgehoben werden:Sich prostituierende Personen sind, ohneUnterschied zu allen anderen, vor Ausbeutungund Gewalt zu schützen, insbesondereüber die Straftatbestände der Drohung,Nötigung, Freiheitsberaubung und Entführung,sexuellen Nötigung, Vergewaltigungoder Ausnützung einer Notlage. Mit anderenWorten: Kriminalität im Umfeld vonProstitution sowie sozialschädliche undmenschenrechtswidrige Formen von Prostitutionsind mit allen Mitteln des Rechtsstaateszu bekämpfen.Kennzeichen eines Rechtsstaates istjedoch auch die Respektierung der autonomenEntscheidungen der einzelnenPersonen für die Ausübung einer bestimmtenTätigkeit. Aufgabe des Staatesist es nicht, Menschen vor Folgen ihrerfreien Lebensentscheidungen zu bewahren.Bezogen auf das sexuelle Selbstbestimmungsrechtheisst Freiwilligkeit, dassIndividuen frei über das «Ob», das «Wann»und das «Wie» einer sexuellen Begegnungentscheiden können sollen.Literatur:Schwander, M. (2010): Das Opfer im Strafrecht. Aktuellesund potenzielles Opfer zwischen Recht, Psychologie undPolitik. Bern: Haupt Verlag.Ist das Strafrechtdie richtige Antwort?Das neue Buch von Prof. Dr. MarianneSchwander, «Das Opfer im Strafrecht»,setzt sich aus einem rechtlichen, psychologischenund gesellschaftspolitischenBlickwinkel mit Fragen zum Opferauseinander und zwar zur Stellung imStrafrecht und Strafprozessrecht, in derKriminologie und Viktimologie sowie derKriminalpolitik. Zudem werden spezifischeStraftatbestände untersucht. DieAutorin widmet sich der Frage, ob dasschweizerische Täter-, Täterinnenstrafrechtder jeweilig spezifischen Opfergruppegerecht werden kann, und obdas Strafrecht überhaupt die richtigeAntwort ist.Im Buchhandel erhältlich:GlossarAktuelle OpferDamit werden Personen bezeichnet,die von einem strafrechtlich relevantenKonflikt direkt betroffen sind.Potenzielle OpferDamit werden Personen bezeichnet,die befürchten, Opfer einer Straftat zuwerden.<strong>impuls</strong> März 201119