LRB 1'2000 - BdP Landesverband Schleswig-Holstein / Hamburg

LRB 01/2000
Du musst sie alle haben!
Warum Meutenarbeit gerade jetzt Sinn macht
Eigentlich könnte ich an dieser
Stelle etwas Nettes schreiben
über mein Traumato
(Pokèmon Nummer 96) und
warum ich so Hypno-
(Pokèmon Nummer 97) -tisiert
bin. Statt dessen schreibe ich
lieber etwas Ernstes. Owei
(Nummer 102).
Es fing alles in der Schule
an, wo viele Kinder von der
sechsten bis zur neunten Klasse
seit einiger Zeit mit ihren
Gameboys lethargisch in dunklen
Ecken liegen und eine Art
weiterentwickeltes Tamagotchi
namens Pokèmon aufpäppeln,
um es schließlich
gegen ihre Artgenossen,
die von Freunden
gezüchtet wurden,
antreten zu
lassen. Nun gut,
interessieren mich
diese Leute doch
eigentlich gar nicht
und das Spiel noch weniger.
Am nächsten Tag zur
Meutenstunde habe ich
dann von einem meiner
Steppkes vorläufig einen lila
Koffer konfisziert. In ihm waren
Pokèmonkarten, die die
Aufmerksamkeit der Wölflinge
magisch an sich zogen. Mit
der Verwahrung sollte ich das
Problem vorerst unter Kontrolle
haben, dachte ich. Weit gefehlt.
Sofort fing eine Diskussion
über die neueste
Pokèmon-Episode im Fernsehen
an. Was, im Fernsehen
auch? Im Fernsehen auch! Auf
RTL 2. Genau wie Big Brother.
Alles klar.
Es gibt 149 offizielle
Pokèmons, zum Beispiel den
32 kg schweren Flugkäfer
Smettbo. Im Kampf schlägt er
sehr schnell mit den Flügeln
um giftigen Staub freizuset-
zen. Nicht alle sind so aggressiv,
andere heißen dann
Myrapla und verbringen den
Tag unter der Erde um nachts
ihre Samen zu säen. Meine
Wölflinge können die Namen
alle auswendig. Und das sind
nicht nur die Jungs, denen man
diesen merkwürdigen Trend
vielleicht am ehesten zutrauen
würde. Da sind auch die
Mädchen voll mit dabei. Es
gibt auch Pokèmon
Kuscheltiere.
Gegen Ende
der Stunde
musste der lila
Koffer natürlich
wieder
sein
e m
Besitzer
ausgehändigt
werden.
Sofort wurde
er geöffnet und ein in der Stunde
ausgehandelter Tausch
wurde vollzogen. Tausch?
Pokèmon gibt es auch als
Sammelkartenspiel.
Nun ist der Auslöser meines
Artikels nicht einfach nur
ein Trend, der wie so viele vor
ihm kommt und geht. Dieser
Trend ist ein von der Spielzeugindustrie
perfekt geplanter
Feldzug mitten in die Kinderzimmer.
Pokèmons überall, jederzeit
und noch besser als
gestern. Jeder, Mädchen wie
Jungen, ob sechs oder zwölf
Jahre, hat sie immer mit dabei.
Zur Strategie gehört auch
www.pokemon.com, eine der
erfolgreichsten Seiten für Kinder
im Internet. Und längst hat
die TV-Serie auch den Sprung
auf die große Leinwand geschafft.
Pokèmon auch im
Kino.
Ganz subjektiv sowie naiv
drängt sich mir folgender Verdacht
auf: Kinder schlagen
sich, weil irgend jemand möglichst
schnell und möglichst
clever möglichst viel Geld verdienen
will, und dazu an unsere
niederen Instinkte apelliert.
Die Marktwirtschaft erfindet
Sachen und redet den Kindern
ein, ohne die ginge es nicht.
Du musst sie alle haben. Zum
Glück können wir als Meutenführer
oder Pfadfinder allgemein
versuchen, eine Welt jenseits
vom reinen Konsum- und
Erfolgsdenken zu schaffen.
Zurück zu unserer Meutenstunde,
die eigentlich schon
zu Ende ist. Wir räumen noch
ein wenig auf, als wir draußen
das Weinen eines Wölflings
hören. Da wurde eine
Pokèmon-Karte getauscht und
danach hat es sich einer wieder
anderes überlegt. Und dann
wurde getreten. Auf den anderen.
Einfach in den Rücken.
Verstört berichtet uns der Attentäter,
er wolle seine Karte
zurück. Moment, die beiden
sind doch seit Jahren dicke
Freunde, kann man das nicht
friedlich regeln? Die Antwort
des Neunjährigen kommt
prompt: Freunde waren wir
mal, jetzt führen wir eine
Handelsbeziehung.
Ole Reißmann,
Stamm Waldreiter
Stufenweise
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