Wıssenschaftsrecht
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<strong>Wıssenschaftsrecht</strong><br />
Wissenschaftsverwaltung · Wissenschaftsförderung<br />
Inhalt dieses Heftes<br />
Abhandlungen<br />
Dr. Margrit Seckelmann, Speyer<br />
Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
Zur rechtlichen Bewertung von Ethikkommissionen ................. 187<br />
Dr. Alexander Reetz, LL.M., Lübeck<br />
Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG auf dem „verfassungsrechtlichen<br />
Prüfstand“ ...................................................... 206<br />
PD Dr. Mario Martini, Speyer<br />
Akkreditierung im Hochschulrecht – Institutionelle Akkreditierung,<br />
Programmakkreditierung, Prozessakkreditierung .................... 232<br />
Rechtsprechung<br />
Entscheidungen<br />
(bearbeitet von Anne-Kathrin Lange, Bonn) ........................ 253<br />
Rechtsprechung in Leitsätzen<br />
(bearbeitet von Anne-Kathrin Lange, Bonn) ........................ 260<br />
Literatur<br />
Übersicht über die Neuerscheinungen<br />
(bearbeitet von Anne-Kathrin Lange, Bonn) ........................ 266<br />
Klaus Ebling / Marcel Schulze [Hrsg.]: Kunstrecht – Verlag C. H. Beck –<br />
München 2007 – 536 Seiten – 98,00 €.<br />
(Referent: Christian Flämig, Rottach-Egern) ........................ 267<br />
Antonius Assheuer: TV-L, Kommentar für Verwaltung, Hochschulen und<br />
Forschung – Verlag Luchterhand/Wolters Kluwer – Köln 2008 –<br />
460 Seiten – 69,00 €.<br />
(Referent: Eckard Wesemann, Bonn) ............................... 271
188 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
Margrit Seckelmann<br />
Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft<br />
und Medizin?<br />
Zur rechtlichen Bewertung von Ethikkommissionen<br />
I. Einleitung<br />
1. Zur Generierung staatlichen Wissens durch Experten<br />
Lassen sich Wissenschaft, Ethik und Recht in der klinischen medizinischen<br />
Forschung vereinbaren? Lassen sich deren unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe<br />
in Konkordanz bringen? Und wenn es möglich wäre, wie<br />
sollte dies vonstatten gehen und wie wäre eine solche Prüfung rechtlicher<br />
wie außerrechtlicher Kriterien mit den Mitteln des Rechts darstellbar?<br />
Eine legislative Antwort auf diese Fragen gibt das Arzneimittelrecht: Mit<br />
der klinischen Prüfung eines Arzneimittels darf nach den §§ 40 ff. des Gesetzes<br />
über den Verkehr mit Arzneimitteln (im Folgenden: AMG) 1 nur begonnen<br />
werden, wenn der Proband oder sein gesetzlicher Vertreter eingewilligt,<br />
die zuständige Ethikkommission diese zustimmend bewertet und<br />
das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte diese genehmigt<br />
hat. Nach der auf der Grundlage des AMG ergangenen Verordnung zur<br />
Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von<br />
klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen<br />
1 So die gesetzliche Konstruktion des der behördlichen Entscheidung vorgeschalteten<br />
Votums der Ethikkommission nach § 41 des Arzneimittelgesetzes in der Fassung<br />
der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I, S. 3394), zuletzt geändert<br />
durch Artikel 9 Abs. 1 des Gesetzes vom 23. November 2007 (BGBl. I, 2631). Hinsichtlich<br />
klinischer Prüfungen von Medikamenten an Minderjährigen vgl. insbesondere<br />
§ 40 Abs. 4 AMG. Das Medizinproduktegesetz bleibt in diesem Artikel außer Betracht.<br />
Wissenschaftsrecht Bd. 41 (2008) S. 188–205<br />
© Mohr Siebeck – ISSN 09480218<br />
Abhandlungen
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
189<br />
(GCPV) 2 werden den Ethikkommissionen unter europarechtlichem Einfluss<br />
3 verfahrensgestaltende Kompetenzen zuerkannt. 4<br />
Ethikkommissionen sind heutzutage aus der medizinischen Forschung<br />
in Deutschland wie in den anderen Industrienationen nicht mehr<br />
wegzudenken. 5 Diese Selbstbewertungsgremien haben sich aus der Deklaration<br />
des Weltärztebundes von Helsinki von 1967 heraus entwickelt.<br />
In dieser verpflichtete sich die organisierte Ärzteschaft vor dem Hintergrund<br />
der Erfahrungen des Dritten Reichs dazu, vor jeglicher Form der<br />
Versuche am Menschen eine ethische Kontrolle durchzuführen. Diese<br />
Überprüfung sollte durch standesrechtlich gebildete Kommissionen vorgenommen<br />
werden. 6 Von einer Selbstbewertungseinrichtung der Wissenschaft<br />
haben sich die Ethikkommissionen seitdem immer mehr zu in<br />
2 Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung<br />
von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen<br />
(GCPVerordnung – GCPV) vom 9. August 2004 (BGBl. I, 2081).<br />
3 Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 4. April<br />
2001 zur Angleichung der Rechte und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten<br />
über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen<br />
Prüfungen mit Humanarzneimitteln.<br />
4 Bei klinischen Studien in verschiedenen Körperschaften, Krankenhäusern<br />
oder Ländern (sogenannten „multizentrischen Studien“) sind sämtliche durch die Landesgesetze<br />
bestimmten Ethikkommissionen zu beteiligen, in der Regel sind dies bei<br />
Universitätskrankenhäusern die Ethikkommissionen der Universitäten und bei sonstigen<br />
Krankenhäusern die Landesärztekammern. Dieses recht langwierige Verfahren<br />
wurde nach Erlass der GCPV gestrafft. Nunmehr übernimmt eine der Ethikkommissionen<br />
die Verfahrensleitung, und zwar diejenige, bei der der Sponsor der Studie zunächst<br />
eine befürwortende Stellungnahme beantragt hat.<br />
5 Dazu exemplarisch: M. Albers, Die Institutionalisierung von EthikKommissionen<br />
– Zur Renaissance der Ethik im Recht, KritV 86 (2003), 419; K.-P. Sommermann,<br />
Ethisierung des öffentlichen Diskurses und Verstaatlichung der Ethik, ARSP 89 (2003),<br />
75; K. Sobota, Die EthikKommission – Ein neues Instrument des Verwaltungsrechts?,<br />
AöR 121 (1996), 229; C. Gramm, Ethikkommissionen: Sicherung oder Begrenzung der<br />
Wissenschaftsfreiheit?, Wissenschaftsrecht 32 (1999), 209; Derselbe, Verrechtlichung<br />
von Ethik und Ethisierung des Rechts, in: J. Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie<br />
– Kirche, FS für A. Hollerbach, 2001, 611; J. Cwalinna, EthikKommissionen:<br />
Forschungslegitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1987; J. Lege, Das Recht<br />
der Bio und Gentechnik, in: M. Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003,<br />
669 (766 ff.); J. Taupitz, Ethikkommissionen in der Politik: Bleibt die Ethik auf der<br />
Strecke?, JZ 2003, 815; K.-P. Rippe, Ethikkommissionen in der deliberativen Demokratie,<br />
in: M. Kettner (Hrsg.), Angewandte Ethik als Politikum, 2000, 140; W. van den<br />
Daele/H. Müller-Salomon, Die Kontrolle der Forschung am Menschen durch Ethikkommissionen,<br />
1990.<br />
6 Zur Deklaration von Helsinki vgl. M. Weschka, Internationale Standards zur<br />
Bioethik: Handlungsbedarf für die Bundesrepublik Deutschland?, 2001; A. Laufs, Informed<br />
consent und ärztlicher Heilauftrag, in: T. Hillenkamp (Hrsg.), Medizinrechtliche<br />
Probleme der Humangenetik, Heidelberg 2002, 118; C. Alber-Malchow, Die arzneimittelrechtliche<br />
Regelung der Mitwirkung von EthikKommissionen im Licht der
190 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
stitutionalisierten Kooperationsarenen zwischen der Wissenschaft und<br />
der öffentlichen Verwaltung entwickelt. 7 Den bisherigen Höhepunkt<br />
dieses Bürokratisierungs pro zesses bildete die 12. AMGNovelle, seit der<br />
sogar von einer „behördenähnlichen Stellung“ der Ethikkommissionen<br />
gesprochen werden kann. 8<br />
Aufgrund der europarechtlichen Überformung der deutschen Gesetze<br />
im Medizinrecht bekamen die Ethikkommissionen nach dem Arzneimittelgesetz<br />
und der GCPVerordnung kompetenziell eine deutlich<br />
aktivere Rolle zugeschrieben als die klassischen Konsultationsformen<br />
gemischter Kommissionen und Gremien, zu denen etwa die Bundesprüfstelle<br />
für jugendgefährdende Medien nach § 1 ff. des Jugendschutzgesetzes<br />
zu rechnen ist. 9<br />
Diese neue Rolle der Ethikkommissionen ist rechts und demokratietheoretisch<br />
nicht unproblematisch. Je stärker die verfahrensgestaltenden<br />
und leitenden Kompetenzen dieser Kommissionen werden, desto mehr<br />
droht die Grenze zwischen Beratung und Entscheidung bei diesen Kommissionen<br />
10 zu verschwimmen. Zugleich sind die Gesetze im Gesundheitsrecht,<br />
was namentlich für das AMG und die auf dessen Grundlage<br />
ergangene GCPVerordnung gilt, immer undeutlicher formuliert, zumal<br />
sich die vielen aus dem Englischen übersetzten Begriffe nicht systemrein<br />
in die deutsche verwaltungsrechtliche Rechtssprache einfügen. Daher lässt<br />
sich durchaus vertreten, dass im „Gesundheitsrecht […] das Wesentliche“<br />
gerade „nicht im Gesetz“ steht, sondern sich in einem – demokratietheoretisch<br />
bedenklichen – „Halbdunkel“ vollzieht. 11<br />
Berufsfreiheit der freien EthikKommissionen und der Forschungsfreiheit des Arztes,<br />
Frankfurt am Main 2005, 3.<br />
7 Zum Thema der Legitimation ihrer Voten forscht jetzt auch eine selbständige<br />
Nachwuchsgruppe „Demokratische Legitimation ethischer Entscheidungen“ am MPI<br />
für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.<br />
8 So die Gesetzesbegründung, mit dem diese Regelung eingeführt wurde (im Gesetz<br />
selbst findet sich kein derartiger Hinweis), vgl. das Zwölfte Gesetz zur Änderung<br />
des Arzneimittelgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl. I, 2031. Hinsichtlich der Folgen für<br />
die rechtliche Einstufung des Verwaltungshandelns und die daraus resultierenden<br />
Rechtsschutzmöglichkeiten vgl. u.a. M. Seckelmann, Governance durch Kommissionen<br />
im Arzneimittel und im Gentechnikrecht, in: Elisabeth Duijmovits et al., Recht<br />
und Medizin, BadenBaden 2006, 207 (226 f.).<br />
9 Zur Frage der Besetzung der (vorherigen) Bundesprüfstelle zur Beurteilung jugendgefährdender<br />
Schriften vgl.: BVerfGE 83, 130.<br />
10 W. Brohm, Sachverständige und Politik, Rechtsfragen der Beratung der Wirtschafts<br />
und Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für E.<br />
Forsthoff, 1972, 37; P. Loviscach, Beiräte bei Verwaltungsbehörden. Eine Untersuchung<br />
über die in Beiräten institutionalisierten Beziehungen zwischen Verwaltungsbehörden<br />
und Interessenten und Sachverständigen, 1998.<br />
11 So hinsichtlich der Kompetenzen des Gemeinsamen Bundesausschusses: T. Kin-
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
191<br />
Die demokratische Legitimation kann „abgedunkelt“ sein, wenn es zu<br />
einer faktischen Entscheidungsvorwegnahme durch Sachverständige<br />
kommt, die sich zwar nicht einem Parlament gegenüber für ihr Handeln<br />
verantworten müssen, aber die Handlungen der demokratisch legitimierten<br />
Amtsträger kraft ihres überlegenen Wissens (und bei publizierten Gutachten<br />
bestimmter Räte: oft auch ihres gesellschaftlichen Ansehens) präjudizieren<br />
können. 12 Denn dann drohen sich die Gewichte von der Legislative<br />
hin zur Exekutive und deutlicher noch zu den Expertenkorps hin zu<br />
verschieben. Von derartigen Gutachten abzuweichen, würde nämlich eine<br />
enorme Entschlusskraft von Regierung und Verwaltung voraussetzen und<br />
es würden zugleich in einer durch die Medien kontrollierten parlamentarischen<br />
Demokratie die Anforderungen an die Begründung ihrer Maßnahmen<br />
deutlich ansteigen.<br />
Zumindest dann, wenn keine institutionellen Gegengewichte geschaffen<br />
würden, könnte ein demokratietheoretisch bedenkliches „Auseinanderfallen<br />
von akademischem und öffentlichem Diskurs“ 13 zu befürchten sein.<br />
Wenn – wie es derzeit auch normiert ist – in den Kommissionen im Arzneimittelrecht<br />
nicht nur Experten, sondern auch sogenannte „Vertreter der<br />
Öffentlichkeit“ 14 vertreten sind, könnten sich jene zu einer neuen „Form<br />
neokorporatistischer Interessenwahrnehmung“ 15 entwickeln, deren Anbin<br />
green, Verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis des Gemeinsamen<br />
Bundesausschusses im Gesundheitsrecht, NJW 2006, 877 (880).<br />
12 Kingreen (Fn. 11), 880; Sommermann (Fn. 5), Sobota (Fn. 5), 229.<br />
13 G. Grözinger, Sachverstand und Politikvernunft. Zur möglichen Rolle einer Gelehrtenrepublik<br />
in der Bürgerdemokratie, in: T. Ellwein u.a., Jahrbuch zur Staats und<br />
Verwaltungswissenschaft 9/1996, 273 ff., 273; H.-P. Vierhaus, Sachverstand als vierte<br />
Gewalt?, NVwZ 1993, 36; dazu grundlegend: F. Scharpf, Demokratietheorie zwischen<br />
Utopie und Anpassung, 1975; M. G. Schmidt, Demokratietheorien, 1995.<br />
14 J. H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, 1956; Derselbe, Verbände,<br />
in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Band II, Heidelberg 1987, 149, und die Beiträge bei: R. Steinberg (Hrsg.),<br />
Staat und Verbände. Zur Theorie der Interessenverbände in der Industriegesellschaft,<br />
1985. Mit deutlich skeptischem Unterton: H.-H. von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen.<br />
Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen<br />
Demokratie, 1977; G. T. W. Dietzel, Ein zweiter Sachverständigenrat? Zum voraussehbaren<br />
Defizit an Öffentlichkeit und politischem Gewicht beim Sachverständigenrat<br />
für Umweltfragen, ZRP 1973, 98.<br />
15 Kingreen (Fn.11); E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsfragen der Gesundheitsreform,<br />
NJW 2004, 1689; zu dieser Thematik grundlegend J. H. Kaiser, Die Repräsentation<br />
organisierter Interessen, 1956; Derselbe, Verbände, in: J. Isensee/P. Kirchhof,<br />
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II, Heidelberg<br />
1987, 149, und die Beiträge bei: R. Steinberg (Hrsg.), Staat und Verbände. Zur Theorie<br />
der Interessenverbände in der Industriegesellschaft, 1985. Mit deutlich skeptischem<br />
Unterton: H.-H. von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die Durchsetzungsschwäche<br />
allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, 1977; G. T.
192 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
dung an den Souverän dann Fragen aufwirft, wenn diese nur noch durch<br />
sehr „lange und dünne Legitimationsketten“ oder ein sehr „weitmaschiges<br />
Normprogramm“ 16 erfolgt. Denn es handelt sich bei diesen Fragen um zentrale<br />
Fragen für das Gemeinwesen, die verfassungsrechtlichen Anforderungen<br />
wie der Wesentlichkeitstheorie genügen müssen. 17<br />
Hinsichtlich der Einsetzung des Deutschen Ethikrats als Nachfolgegremium<br />
des Nationalen Ethikrats wurde auf diese Kritik bereits teilweise<br />
reagiert und die Einsetzung dieses Gremiums per Gesetz vorgenommen<br />
sowie die Bestellung seiner Mitglieder durch den Bundestagspräsidenten<br />
vorgesehen. 18 Im Folgenden sollen jedoch derartige gesetzesvorbereitende<br />
(oder politikberatende) Ethikkommissionen nicht weiter betrachtet werden.<br />
Stattdessen soll hier die Rolle der Kommissionen bei der Vorbereitung<br />
von Verwaltungsentscheidungen, der sogenannten gesetzesausführenden<br />
Ethikkommissionen und vergleichbaren Körperschaften, analysiert<br />
werden. 19<br />
2. Input- oder Outputsteuerung?<br />
Die Einbindung standesrechtlicher Selbstbewertungsmechanismen in die<br />
staatliche Willensbildung wirft Probleme auf. Diese betreffen primär die<br />
Rückführbarkeit der Handlungen dieser Gremien auf den Volkswillen. In<br />
der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland stellt sich insbesondere<br />
die Frage nach der demokratischen Legitimation privater Expertenkorps,<br />
wie sie nach Art. 20 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes erforderlich ist. 20 Es<br />
W. Dietzel, Ein zweiter Sachverständigenrat? Zum voraussehbaren Defizit an Öffentlichkeit<br />
und politischem Gewicht beim Sachverständigenrat für Umweltfragen, ZRP<br />
1973, 98.<br />
16 So für den gemeinsamen Bundesausschuss: Kingreen (Fn.11), 880.<br />
17 Kingreen (Fn.11), 880, im Anschluss an H.-J. Papier, Der Wesentlichkeitsgrundsatz<br />
– am Beispiel des Gesundheitsreformgesetzes, VSSR 1990, 123 (137).<br />
18 Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats (Ethikratgesetz – EthRG) vom<br />
16. Juli 2007, BGBl. I/2007 (19. Juli 2007), 1385.<br />
19 Zum Gemeinsamen Bundesausschuss vgl. Kingreen (Fn.11).<br />
20 Dazu insbesondere die Kommentierung von K.-P. Sommermann, in: H. von<br />
Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. Auflage,<br />
Band 2 (Artikel 20 bis 82), 2005, 1; A. Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates,<br />
in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Band III, 3. Auflage 2006, 425 – 475; W. Brohm, Sachverständige Beratung<br />
des Staates, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Band II, 1987, 207; P. Dagtoglou, Der Private in der Verwaltung<br />
als Fachmann und Interessenvertreter, 1964; G. T. W. Dietzel, Wissenschaft und<br />
staatliche Entscheidungsplanung. Rechts und Organisationsprobleme der Wissen
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
193<br />
stellt sich die Frage, inwieweit der Staat im biotechnologischen Zeitalter 21<br />
an dieser klassischen Form der „Inputsteuerung“ festhalten möchte, oder<br />
ob neue Richtigkeitsdimensionen neben der rechtsnormativen Legitimation<br />
zu erwägen sind. 22 In der rechtstheoretischen Diskussion wird derzeit<br />
die Frage aufgeworfen, ob es neben der „klassischen Form der Verwaltungsorganisation,<br />
die sich am Idealtypus der hierarchischen Ministerialverwaltung<br />
orientiert, noch andere Modelle der Verwaltungslegitimation<br />
geben kann“. 23 Diese werden entweder „klassisch“ unter dem Gesichtspunkt<br />
der funktionalen Selbstverwaltung (auf den im Weiteren noch zu<br />
sprechen zu kommen sein wird) begründet 24 oder durch weitere hergebrachte<br />
Formen der Staatsferne plural zusammengesetzter Gremien, insbesondere<br />
in den Bereichen, in denen grundrechtlich garantierte Spielräume<br />
bestehen. 25 Darüber hinausgehend werden in jüngerer Zeit neue<br />
Legitimationsmöglichkeiten vertreten und die Frage nach einer „Dynami<br />
schaftlichen Politikberatung, 1978; H.-G. Dederer, Korporative Staatsgewalt. Integration<br />
privat organisierter Interessen in die Ausübung von Staatsfunktionen; zugleich<br />
eine Rekonstruktion der Legitimationsdogmatik, 2004; aus älterer Zeit: R.<br />
Breuer, Direkte und indirekte Rezeption technischer Regeln durch die Rechtsordnung,<br />
AöR 101 (1976), 46 (50 f).<br />
21 M. Seckelmann, Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im<br />
Deutschen Reich, 1871 – 1914, Frankfurt am Main 2006, 399; zu den Staatsaufgaben<br />
grundlegend: H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Auflage, Kronberg<br />
1977.<br />
22 W. Hoffmann-Riem, Governance im Gewährleistungsstaat – Vom Nutzen der<br />
GovernancePerspektive für die Rechtswissenschaft –, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), GovernanceForschung.<br />
Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2005, 195<br />
(210). Zum GovernanceBegriff vgl. u.a.: M. Seckelmann, Keine Alternative zur Staatlichkeit<br />
– Zum Konzept der „Global Governance“, Verwaltungsarchiv 2007, 30.<br />
23 C. Möllers, Braucht das öffentliche Recht einen neuen Methoden und Richtungsstreit?,<br />
Verwaltungsarchiv 90 (1999), 187 (189).<br />
24 E. T. Emde, Die demokratische Legitimation funktionaler Selbstverwaltung.<br />
Eine verfassungsrechtliche Studie anhand der Kammern, der Sozialversicherungsträger<br />
und der Bundesanstalt für Arbeit, 1991, unter Bezug auf W. Brohm, Strukturen der<br />
Wirtschaftsverwaltung, 1969, 243 ff.; W. Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997,<br />
369 ff.; Derselbe, Funktionale Selbstverwaltung, Die Verwaltung 35 (2002), 349; P.<br />
Axer, Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Die Verwaltung 35<br />
(2002), 349; E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechtsbegriff, AöR 116<br />
(1991), 329 (376 ff.). Zum Komplex der funktionalen Selbstverwaltungskörperschaften<br />
vgl. auch die Entscheidung des BVerfG zum Lippeverbandsgesetz, BVerfGE 107, 59.<br />
25 H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher<br />
Institutionalisierung. Das Wissenschaftsrecht als Recht kooperativer Verwaltungsvorgänge,<br />
1994; Möllers (Fn. 22), 189.
194 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
sierung des Rechtsstaatsprinzips“ 26 wie einem Wandel des Gesetzesvorbehalts<br />
27 gestellt.<br />
Damit ist die Frage nach dem Selbstverständnis des Staates und nach<br />
den Formen und Foren seiner Willensbildung aufgeworfen. Können im<br />
Zeichen der in jüngerer Zeit häufig diskutierten „Gewährleistungsverantwortung<br />
des Staates“ 28 neue Steuerungsformen erwogen werden? 29 Oder<br />
sind gar neue normative Maßstäbe für die „Richtigkeit“ von Verwaltungsentscheidungen<br />
denkbar?<br />
26 Möllers (Fn. 22), 190; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, Tübingen<br />
1994, 210 f.; neben anderen insbesondere: K.-H. Ladeur/T. Gostomzyk, Der Gesetzesvorbehalt<br />
im Gewährleistungsstaat, Die Verwaltung 36 (2003), 141; E.-H. Ritter, Organisationswandel<br />
durch Expertifizierung und Privatisierung im Ordnungs und Planungsrecht,<br />
in: W. HoffmannRiem/E. SchmidtAßmann (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht<br />
als Steuerungsressource, 1997, 5 (40 f.); H. Schultze-Fielitz, Zeitoffene<br />
Gesetzgebung, in: W. HoffmannRiem/E. SchmidtAßmann (Hrsg.), Innovation und<br />
Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, 139 (149 f.).<br />
27 W. Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch. Zur QualitätsGewährleistung<br />
durch Normen, Archiv des öffentlichen Rechts 130 (2005), 7.<br />
28 E.-H. Ritter, Das Recht als Steuerungsmedium im kooperativen Staat, in: D.<br />
Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben, sinkende Steuerungsfähigkeit, 1990, 69;<br />
Ladeur/Gostomzyk (Fn. 25), 141; neben den bereits Erwähnten insbesondere: J.<br />
Masing, Grundstrukturen eines Regulierungsverwaltungsrechts. Regulierung netzbezogener<br />
Märkte am Beispiel Bahn, Post, Telekommunikation und Strom, Die Verwaltung<br />
36 (2003), 1; G. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998; U. Di<br />
Fa b i o, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung<br />
und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), 237; M. Burgi, Funktionale<br />
Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999; C. Engel, Selbstregulierung im Bereich<br />
der Produktverantwortung, Staatswissenschaften und Staatspraxis 9 (1998), 535; sowie<br />
die Beiträge in: W. Berg u.a., Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept<br />
des Gewährleistungsstaats, 2001. Zum in diesem Zusammenhang diskutierten Begriff<br />
der „Regelungsstrukturen“ vgl. H.-H. Trute/W. Denkhaus/D. Kühlers, Regelungsstrukturen<br />
der Kreislaufwirtschaft zwischen kooperativem Umweltrecht und<br />
Wettbewerbsrecht, 2004; zur Möglichkeit „gubernativen Rechts“ vgl. A. von Bogdandy,<br />
Guber native Rechtsetzung. Eine Neubestimmung der Rechtsetzung und des<br />
Regierungs systems unter dem Grundgesetz in der Perspektive gemeineuropäischer<br />
Dogmatik, 2000.<br />
29 Zu dieser Problematik vgl. aus der Vielzahl der Beiträge: Hoffmann-Riem,<br />
Fn. 21, 210; C. Franzius, Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung<br />
im Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2000; R. Steinberg/D.<br />
Schütze, Umweltverträgliche Technikgestaltung durch Recht, in: KritV 81 (1998), 255;<br />
M. Kloepfer, Recht ermöglicht Technik. Zu einer wenig beachteten Funktion des Umwelt<br />
und Technikrechts, Natur und Recht 19 (1999), 417.
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
195<br />
Während zuvor, nach dem klassischen legalistischen Modell, die Anforderungen<br />
an das Zustandekommen von Verwaltungsentscheidungen<br />
einer genauen Überprüfung unterzogen werden konnten, bei denen die<br />
Bindung an die rechtsnormativen Erfordernisse für die Rechtmäßigkeit<br />
der Ergebnisse bürgte (sogenannte InputSteuerung), stehen nunmehr die<br />
Ergebnisse von Verwaltungsprozessen im Mittelpunkt der Betrachtung,<br />
deren Zielerreichung auch anhand quantitativer oder anderer Vorgaben<br />
(wie etwa der Effizienz des Ressourceneinsatzes) gemessen 30 werden<br />
kann. 31<br />
Eine besondere Vorreiterstellung innerhalb dieser Diskussion kommt<br />
– neben dem Umweltrecht 32 – in diesem Zusammenhang dem Wissenschaftsrecht<br />
zu, das in Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes von<br />
einer gewissen Staatsferne gekennzeichnet ist 33 und dessen anwendungsbezogene<br />
Elemente in jüngerer Zeit stark europarechtlich überformt werden.<br />
34 Hinzukommen die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe, etwa der<br />
Verweis auf die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft in § 41<br />
AMG. Diese sogenannten „Technikklauseln“ wie auch andere Elemente<br />
30 Zur Komplexität der Verfahren zur Abschätzung des sogenannten impacts von<br />
Gesetzen vgl. beispielhaft: C. Böhret/G. Konzendorf im Auftrag des Bundesministeriums<br />
des Innern und des badenwürttembergischen Ministeriums des Innern, Handbuch<br />
Gesetzesfolgenabschätzung (GFA) – Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften,<br />
2001; Dieselben, Guidelines on Regulatory Impact Assessment (RAI)/Leitfaden<br />
zur Gesetzesfolgenabschätzung, 2004; Dieselben (im Auftrag der Deutschen<br />
Bundesregierung), Leitfaden Gesetzesfolgenabschätzung, 2000.<br />
31 Hoffmann-Riem, Fn. 21, 210.<br />
32 Hierzu beispielhaft: M. Kloepfer, Die europäische Herausforderung – Spannungslagen<br />
zwischen deutschem und europäischem Umweltrecht, in: Umweltrecht im<br />
Wandel – Bilanz und Perspektiven, 2002, 87 (109 f.).<br />
33 M. Fehling, Neue Herausforderungen an die Selbstverwaltung in Hochschule<br />
und Wissenschaft, Die Verwaltung 35 (2002), 399; H. C. Röhl, Staatliche Verwaltung in<br />
Kooperationsstrukturen. Organisationsrechtsfragen am Beispiel des Wissenschaftsrates<br />
und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Die Verwaltung 29 (1996), 487 (489);<br />
T. Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999; Derselbe, Die<br />
Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992; J.-P. Schneider,<br />
Kooperative Verwaltungsverfahren, Verwaltungsarchiv 87 (1996), 38; grundlegend:<br />
Trute (Fn. 24); A. Benz, Kooperative Verwaltung. Funktionen, Voraussetzungen und<br />
Folgen, 1994; und die Beiträge bei: N. Dose/R. Voigt (Hrsg.), Kooperatives Recht, 1995;<br />
sowie die Beiträge in: D. Jansen (Hrsg.), New Forms of Governance in Research organizations,<br />
2007.<br />
34 Di Fabio (Fn. 26); G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen<br />
Union. Zur horizontalen und vertikalen Zusammenarbeit der europäischen Verwaltungen<br />
am Beispiel des Produktzulassungsrechts, 2004.
196 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
einer dynamischen Risikosteuerung 35 setzen die Rechtsdogmatik unter<br />
Veränderungsdruck. 36<br />
II. Einzelfragen<br />
Unterzieht man das Handeln von Ethikkommissionen einer ökonomischsoziologischen<br />
Effizienzanalyse, so wird man diesen Gremien bescheinigen<br />
können, unter den gegebenen Umständen das bestmögliche Wissen über<br />
die technischen Risiken generieren zu können. Über diese Funktion der<br />
Wissensbeschaffung hinaus kommt diesen Kommissionen nicht nur eine<br />
Informations, sondern auch eine Legitimations und Befriedungsfunktion<br />
zu, gerade wenn sie – wie im Arzneimittelrecht – die gesellschaftlichen<br />
Akteure oder deren Vertreter als Kommunikatoren in die Entscheidungsvorbereitung<br />
einbeziehen. 37 Demgegenüber kann aus juristischrechtsstaatlicher<br />
Perspektive durchaus hinterfragt werden, ob in Fragen,<br />
35 O. Lepsius, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung<br />
von Innovationen?, VVDStRL 63 (2004), 264; A. Scherzberg, Risikosteuerung<br />
durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?,<br />
VVDStRL 63 (2004), 214; Derselbe, Risiko als Rechtsproblem, Verwaltungsarchiv 84<br />
(1993), 484 (497 f.); C. Engel, Rechtliche Entscheidungen unter Ungewissheit, in:<br />
Derselbe/J. Halfmann/M. Schulte, Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, 2002,<br />
113 sowie die Beiträge von Scherzberg und Schulte in diesem Band; I. Spiecker gen.<br />
Döhmann, Staatliche Entscheidung unter Unsicherheit: Eine Analyse ökonomischer<br />
Entscheidungsmodule im öffentlichen Recht, in: M. Bungenberg u.a. (Hrsg.), Recht<br />
und Ökonomik, 44. AssÖR, 2004, 61 (77); R. Lukes, Probabilistische Risikoanalysen<br />
und Gentechnikrecht, Natur und Recht 1994, 157; F. Nicklisch, Das Recht im Umgang<br />
mit dem Ungewissen in Wissenschaft und Technik, NJW 1986, 2287; H. Hofmann,<br />
Technik und Umwelt, in: E. Benda/W. Maihofer/J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts,<br />
2. Auflage 1994, § 21 Rz. 24; U. K. Preuß, Risikovorsorge als Staatsaufgabe,<br />
in: D. Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, 301; N. Luhmann, Soziologie des<br />
Risikos, 1991; U. Beck, Risikogesellschaft, München 1986; sowie die Beiträge in A.<br />
Bora, Rechtliches Risikomanagement, 1999; M. Reinhardt, Die Überwachung durch<br />
Private in Umwelt und Technikrecht, AöR 1993, 618; E. Bohne, Staat und Konfliktbewältigung<br />
bei Zukunftstechnologien, NVwZ 1999, 1.<br />
36 Di Fabio (Fn. 26), Vorwort; R. Pitschas, Rechtliche Verfassung der Arzneimittelrisikokommunikation<br />
in der Europäischen Union und Staatshaftungsrecht, in: D.<br />
Hart/W. Kemmnitz/C. Schnieders (Hrsg.), Arzneimittelrisiken: Kommunikation und<br />
Rechtsverfassung, 1998, 202. B. Collatz, Die neuen europäischen Zulassungsverfahren<br />
für Arzneimittel. Insbesondere Verfahren und Rechtsschutz des Antragstellers und<br />
Zulassungsinhabers bei Zulassungsentscheidungen, 1996; G. Sydow, Externalisierung<br />
und institutionelle Ausdifferenzierung. Kritik der Organisationsformen in der EU<br />
Eigenadministration, Verwaltungsarchiv 97 (2006), 1.<br />
37 Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, 428, nach: I. Lamb, Kooperative Gesetzeskonkretisierung.<br />
Verfahren zur Erarbeitung von Umwelt und Technikstandards,<br />
1995, 195.
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
197<br />
welche die Nachhaltigkeit unserer Lebensgrundlagen betreffen, kooperative<br />
Lösungen tatsächlich das Mittel der Wahl sein können oder nicht eher<br />
zur terminologischen Camouflage der Entscheidungs oder zumindest<br />
Durchsetzungsvermeidungsstrategien von Regierung und Verwaltung<br />
dienen. 38<br />
1. Zur demokratischen Legitimation von Kommissionsentscheidungen<br />
Es wird oftmals die These vertreten, dass die Einsetzung von Kommissionen<br />
dazu geeignet ist, die Ergebnisse des so vorbereiteten staatlichen Handelns<br />
in besonderer Weise zu legitimieren. 39 Diese Aussage ist indes interpretationsbedürftig.<br />
In Wirklichkeit ist nämlich zwischen verschiedenen<br />
Formen von Legitimation zu unterscheiden: zwischen einer Herstellung<br />
demokratischer Legitimation, wie sie das Demokratieprinzip fordert,<br />
dann einem Grundrechtsschutz durch Verfahren 40 und schließlich der<br />
Schaffung gesellschaftlicher Akzeptanz 41 . Es ist – im Sinne der Jellinekschen<br />
ZweiSeitenTheorie – durchaus möglich, Staaten und ihr Handeln<br />
unter verschiedenen disziplinären Fragestellungen zu erfassen. 42 Für die<br />
Herstellung gesellschaftlicher Akzeptanz für Verwaltungsentscheidungen<br />
ist die Einsetzung von Ethikkommissionen ein taugliches Instrumentarium.<br />
Das AMG sieht für die Genehmigung von Arzneimitteln eine Kommission<br />
vor, die als eine Kombination eines idealtypischen Expertengremiums<br />
mit einem sogenannten „gesellschaftlichen“ Gremium 43 aufzufassen<br />
ist. Sie soll durch die Art ihrer Zusammensetzung den gesellschaftlichen<br />
Pluralismus abbilden und aufgrund des Sachverstands der in ihr vertretenen<br />
Forscher 44 eine Schadensprognose bei der Subsumtion neuer Vorha<br />
38 G. Lübbe-Wolff, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht – Rechtsgrundsatz<br />
oder Deckmantel des Vollzugsdefizits?, Natur und Recht 1989, 295; Dieselbe, Das Kooperationsprinzip<br />
im Umweltrecht, in: A. Benz/W. Seibel (Hrsg.), Zwischen Kooperation<br />
und Korruption. Abweichendes Verhalten in der Verwaltung, 1992, 209.<br />
39 J. Ipsen, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen<br />
durch das Verwaltungsrecht, VVDStRL 48 (1990), 178 (202).<br />
40 BVerfGE 49, 89 (113); BVerfGE 53, 30 (65 f.); BVerfGE 84, 59 (66); BVerfGE 90,<br />
60 (196).<br />
41 Zur Akzeptanzschaffung: Ipsen (Fn. 39), 202.<br />
42 G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882, 158; Zu Jellineks<br />
Selbstverpflichtungslehre: M. Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: The Rise<br />
and Fall of International Law 1870 – 1960, 2001, 198 ff.; Seckelmann (Fn. 20), 50 f.<br />
43<br />
K.-P. Sommermann, Gremienwesen und staatliche Gemeinwohlverantwortung<br />
– Eine Einführung, in: Derselbe, Gremienwesen und staatliche Gemeinwohlverantwortung,<br />
2001, 9.<br />
44<br />
C. Hérault-Hegge, Das Gebot staatlicher Nichtidentifikation und seine Auswirkungen<br />
auf das Arzneimittelversorgungsrecht – Ein Beitrag zur staatlichen Neutralität<br />
gemäß Art. 5 Abs. 3 GG, 2002.
198 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
ben unter den „Stand der Wissenschaft“ und den „Nutzen“ der klinischen<br />
Studien als unbestimmte Rechtsbegriffe 45 vornehmen. 46<br />
Akzeptanzschaffung ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Herstellung<br />
demokratischer Legitimation, welche nur durch eine Rückführung<br />
des Handelns der Kommissionen auf ein Gesetz stattfinden kann. 47 Das ist<br />
jedenfalls dann der Fall, wenn die Handlungen dieser Kommissionen zu<br />
Grundrechtseingriffen führen können. Diese Möglichkeit ist durchaus gegeben.<br />
Es gehört zu den genuinen Aufgaben der Ethikkommission nach<br />
AMG, die Grundrechte dessen, der eine klinische Studie beantragt, des<br />
sogenannten Sponsors auf Berufsausübungsfreiheit und auf Wettbewerbsfreiheit<br />
(Art. 12 Abs. 1 S. 1, 14 Abs. 1 S. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1<br />
GG) sowie die Forschungsfreiheit der auf seiner Seite beteiligten Ärzte<br />
(Art. 5 Abs. 3 GG) mit widerstreitenden Grundrechten und anderen Werten<br />
von Verfassungsrang abzuwägen. Zu diesen gehören die Grundrechte<br />
der Patienten, Probanden und Bürger auf körperliche Unversehrtheit<br />
(Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und die Verpflichtung des Staates zur Wahrung<br />
ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). In Bezug auf Tierversuche ist<br />
die Staatszielbestimmung auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen<br />
und der Tiere (Art. 20a GG) zu beachten. 48<br />
a) Zur Rechtsnatur der Kommissionsvoten<br />
Die Rolle von Ethikkommissionen bei der Zulassung klinischer Prüfungen<br />
von Arzneimitteln am Menschen hat sich nach den unterschiedlichen<br />
Novellen des AMG gewaltig verändert. Die Rechtsnatur dieser Stellungnahmen<br />
der Ethikkommission war lange Zeit umstritten, da diese zwar<br />
nicht rechtlich, wohl aber oft faktisch die Entscheidung der Bundesoberbehörde<br />
vorwegnahmen, da ein Abweichen von den Voten der Ethikkom<br />
45 Di Fabio (Fn. 26); zur Qualifikation dieser Klauseln siehe: R. Breuer, Gerichtliche<br />
Kontrolle der Technik, NVwZ 1988, 104; F. Nicklisch, Rechtsfragen der modernen<br />
Bio und Gentechnologie, Betriebsberater 1989, 1; R. Pitschas, Die Bewältigung<br />
der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht,<br />
DÖV 1989, 785.<br />
46 A. Unkelbach, Vorbereitung und Übernahme staatlicher Entscheidungen durch<br />
plural zusammengesetzte Gremien – Empirische und rechtliche Eckdaten des deutschen<br />
Gremienwesens auf Bundesebene –, 2001; W. Graf Vitzthum/T. Geddert-Steinacher,<br />
Der Zweck im Gentechnikrecht. Zur Schutz und Förderfunktion von Umwelt<br />
und Technikgesetzen, 1990, 73; W. Richter, Gentechnologie als Regelungsgegenstand<br />
des technischen Sicherheitsrechts. Rechtliche Steuerung unter Bedingungen der Ungewissheit,<br />
1989.<br />
47 BVerfGE 49, 89 (131).<br />
48 W. Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch. Zur QualitätsGewährleistung<br />
durch Normen, AöR 130 (2005), 7.
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
199<br />
missionen schriftlich zu begründen war und gegebenenfalls einen Haftungsfall<br />
auslösen konnte. 49 Nach der 12. AMGNovelle von 2004 und der<br />
auf ihrer Grundlage ergangenen GCPVerordnung wurde der Gesetzeswortlaut<br />
deutlich verändert. Gemäß § 42 Abs. 1 des AMG und nach § 7<br />
Abs. 1 Satz 1 GCPV hat der Sponsor einer klinischen Prüfung nunmehr<br />
einen „Antrag“ auf „zustimmende Bewertung“ an die Ethikkommission<br />
zu richten. Der Wortlaut spricht nunmehr dafür, dass die befürwortenden<br />
Stellungnahmen der Ethikkommissionen Verwaltungsakte sind. Die Behördeneigenschaft<br />
der Landesärztekammern wie der Universitäten ist gegeben,<br />
bei denen aufgrund der Landesgesetze die zur Ausführung des<br />
AMG zuständigen Ethikkommissionen eingerichtet wurden. Nach § 8<br />
GCPV ergehen die Stellungnahmen nunmehr auch dem Sponsor und<br />
nicht nur der Behörde gegenüber, so dass sie Außenwirkung entfalten.<br />
Nach anderer Meinung ist indes nur ein negatives Votum einer Ethikkommission<br />
ein Verwaltungsakt, da dieses einen verfahrensabschließenden<br />
Schritt darstelle, der auch Außenwirkung entfalte, während ein befürwortendes<br />
Votum ein reines Verwaltungsinternum gegenüber der zuständigen<br />
Bundesoberbehörde darstelle. 50<br />
Dieser Ansicht ist jedoch nicht zuzustimmen. Die – durch eine systematische<br />
Gesamtschau der §§ 40 und 42 AMG mit den §§ 7 und 8 der<br />
GCPVerordnung zu rechtfertigende – Einstufung des befürwortenden<br />
wie negativen Kommissionsvotums zum Verwaltungsakt erhöhte die<br />
Rechtsschutzmöglichkeiten der Beteiligten und sorgte zugleich (nach der<br />
hier vertretenen Auffassung) für Rechtsklarheit. 51<br />
49 Vgl. dazu: H.-H. Rupp, Sind EthikKommissionen Rechtsausschüsse und ihre<br />
Voten Verwaltungsakte?, in: K.H. Kästner/K. W. Nörr/K. Schlaich, FS für Martin<br />
Heckel, 1999, 839; K. Grupp, Rechtsschutz gegen Gremienentscheidungen, in: K.P.<br />
Sommermann, Gremienwesen und staatliche Gemeinwohlverantwortung, Berlin<br />
2001, 133; Gramm (Fn. 64); Sommermann (Fn. 5); Sobota (Fn.5).<br />
50 Vgl. dazu: H.-G. Koch, Aufgaben und Verpflichtung der EthikKommissionen<br />
– aus der Sicht des Rechts, in: Selbstkontrolle der Wissenschaft in der medizinischen<br />
Forschung. Erfahrungen und Perspektiven aus 25 Jahren EthikKommission, 2006, 43<br />
so die frühere h.M. m.w.N.<br />
51 Wie hier: Rehmann/Greve, Arzneimittelgesetz, Kommentar, 3. Aufl., München<br />
2008, Vor §§ 40–42a, Rdnr. 7, ebenso Sander, Arzneimittelrecht, Kommentar, 45. Lfg.<br />
(Nov. 2007), Band 1, zu § 40 AMG, Rdnr. 10, E. Deutsch/A. Spickhoff, Medizinrecht,<br />
5. Aufl., Heidelberg 2003, Rdnr. 760; Seckelmann (Fn. 8), 224; zu diesem Komplex auch<br />
S. Meuser/J. Platter, Die Bewertung der klinischen Prüfung von Arzneimitteln durch<br />
die Ethikkommission – eine Verwaltungsentscheidung besonderer Art?, PharmR 2005,<br />
395 m.w.N.
200 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
b) Zulässigkeit eines „weisungsfreien Raums“?<br />
Üben die Ethikkommissionen mithin als „Behörden“ Staatsgewalt aus, so<br />
ist nach der Herleitung ihrer demokratischen Legitimation, konkret also<br />
nach dem Beleihungsakt, zu fragen. Diese erfolgte im Arzneimittelgesetz<br />
unmittelbar durch Gesetz. Im AMG sind Zusammensetzung und Befugnisse<br />
der Ethikkommissionen umrissen und in den entsprechenden Landesgesetzen<br />
ausgestaltet worden, so dass hier grundsätzlich von einer personellen<br />
Legitimation auszugehen ist. 52<br />
Wenn man die Stellungnahmen der Ethikkommissionen nach AMG als<br />
Verwaltungsakte, also als eine Form staatlicher Machtausübung ansieht, so<br />
fragt sich, ob diese Gremien nicht als „weisungs oder ministerialfreie<br />
Räume“ 53 zu qualifizieren sind, die nur unter äußerst eingeschränkten Bedingungen<br />
zulässig sind. Denn sie stellen letztlich die Exekutivspitze wegen<br />
fehlender Ingerenzmöglichkeiten gegenüber dem Parlament verantwortungsfrei.<br />
Aus diesem Grunde ist die sachlichinhaltliche Legitimation der<br />
Ethikkommissionen von besonderer Bedeutung, also ihre Weisungsabhängigkeit.<br />
Ausnahmen von diesem Erfordernis hat das Bundesverfassungsgericht<br />
nur in den Fällen zugelassen, in denen eine besondere funktionelle<br />
Rechtfertigung dafür gegeben und die Maßgeblichkeit des demokratischen<br />
Willens in diesen Verfahren sichergestellt ist. Von einer derartigen Rechtfertigung<br />
kann im Einzelfall dann ausgegangen werden, wenn eine effektive<br />
Aufgabenwahrnehmung eine gewisse Distanz zum Staat erfordert. In diesen<br />
Fällen muss jedoch der schwächer gewordene Strang sachlichinhaltlicher<br />
Legitimation durch besondere Vorkehrungen zur personellen Legitimation<br />
kompensiert werden. 54<br />
Die Ethikkommissionen nach AMG sind aufgrund ihrer pluralen Abbildung<br />
der Gesellschaft und der in ihnen verkörperten Expertise ähnlich<br />
wie die Bundesprüfstelle als ein zulässiger Fall eines weisungsfreien Gremiums<br />
anzusehen. Ähnlich wie diese benötigen sie zur Beurteilung der<br />
ethischen Fragen des „Nutzens“ eines Arzneimittels eine gewisse Staatsferne,<br />
welche in Hinblick auf die betroffenen Grundrechte, insbesondere<br />
die ihrem Wortlaut nach vorbehaltlos gewährte Forschungsfreiheit zu<br />
rechtfertigen ist.<br />
52 Sommermann (Fn. 5).<br />
53 J. Oebbecke, Weisungs und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, 1986,<br />
7; E. Klein, Die verfassungsrechtliche Dogmatik des ministerialfreien Raumes, Berlin<br />
1974; P. Füsslein, Ministerialfreie Verwaltung. Begriff, Erscheinungsformen und Vereinbarkeit<br />
mit dem Grundgesetz, Diss. Bonn 1972; Emde (Fn. 24).<br />
54 Sommermann, (Fn. 1); Oebbecke (Fn. 53).
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
2. Zum Rechtsschutz gegen Kommissionsentscheidungen<br />
201<br />
Neben ihren also auch nach „klassischer“ Grundrechtsdogmatik zu rechtfertigenden<br />
Kompetenzen haben die Ethikkommissionen nach dem AMG<br />
relativ weitgehende verfahrensgestaltende Kompetenzen, die die Frage<br />
nach den institutionellen Korrektiven für ihre erweiterten Handlungsspielräume<br />
aufwerfen. Zu denken ist insbesondere an die Klagemöglichkeiten<br />
und an die weiteren institutionellen Vorkehrungen zur Schaffung<br />
von Transparenz, namentlich von Anhörungs und Beteiligungsrechten.<br />
Zunächst zum Rechtsschutz. Dieser stellt bei Kommissionsentscheidungen<br />
grundsätzlich ein Problem dar. Aus den unter 1 a) dargestellten<br />
Gründen wird hier allerdings davon ausgegangen, dass es sich bei den Entscheidungen<br />
der Ethikkommissionen nach AMG um Verwaltungsakte<br />
handelt. Der Wortlaut des § 42 Abs. 1 S. 1 AMG, dass die zustimmende Bewertung<br />
vom Sponsor bei der Ethikkommission zu beantragen ist und die<br />
Regelung in § 42 Abs. 1 S. 7 AMG, dass die zustimmende Bewertung nur<br />
aus bestimmten, enumerativ aufgeführten Gründen „versagt“ werden<br />
kann, spricht für eine Verpflichtungsklage. Im AMG finden sich allerdings<br />
keine Bestimmungen hinsichtlich eines Vorverfahrens gegen eine negative<br />
Stellungnahme der Ethikkommission. Letztlich wird hier auf § 68 Abs. 1<br />
S. 1 VwGO zurückzugreifen sein, da ein gesetzgeberischer Wille zu einem<br />
Auschluss des Vorverfahrens nach § 68 Abs. 1 S. 2 1. Alt. VwGO nicht zu<br />
erkennen ist.<br />
Ethik und Beurteilungsspielraum<br />
Hinsichtlich des Prüfungsumfangs ist zu erwägen, inwieweit die Ethikkommissionen<br />
über einen Beurteilungsspielraum gegenüber den Gerichten<br />
verfügen sollen. Für einen solchen spricht der Verweis auf die unbestimmten<br />
Rechtsbegriffe „der Erkenntnisse der Wissenschaft“ und des „Nutzens“<br />
nach § 41 Abs. 1 AMG. Ein Beurteilungsspielraum kann nach „klassischer“<br />
juristischer Dogmatik dann von den Gerichten anerkannt werden,<br />
wenn es sich um Prognoseentscheidungen oder um wertende Betrachtungen<br />
pluralistisch zusammengesetzter Gremien handelt. 55 Eine vergleichende<br />
Betrachtung mit dem Gentechnikgesetz ergibt etwa, dass der Zentralen<br />
Kommission für die biologische Sicherheit (ZKBS) bei der Bewertung<br />
von Freilandversuchen von den Gerichten aufgrund der in ihr<br />
vertretenen technischen Expertise ein Beurteilungsspielraum zuerkannt<br />
55 Hierzu insbesondere: R. Wahl, Risikobewertung der Exekutive und richterliche<br />
Kontrolldichte – Auswirkungen auf das Verwaltungs und das gerichtliche Verfahren,<br />
NVwZ 1991, 409.
202 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
wird. 56 Dieser wird indes im Schrifttum jedoch zunehmend in Frage gestellt:<br />
Diese Stimmen warnen davor, dass die Kommissionen bei ihrer Bewertung<br />
von Risiken Rechtsschutzinteressen Drittbetroffener unter anderen<br />
Aspekten würdigen würden als ein Gericht, nämlich gerade aufgrund<br />
ihrer technischen Expertise, die sie mehr an den Fortschritten ihres Fachs<br />
als an den Gemeinwohlbelangen interessiert sein lassen könnte. Darüber<br />
hinaus bestehe in pluralistisch zusammengesetzten Gremien auch die Gefahr,<br />
dass Partikularinteressen ein überproportionales Gewicht erlangen<br />
können. 57<br />
Nebenbei bemerkt: Von „Ethik“ wird im AMG nicht gesprochen. Daran<br />
anschließend lässt sich die Frage stellen, inwieweit die Ethikkommissionen<br />
als eine Form neuer Kooperationsarenen wirklich noch „ethische“<br />
Fragestellungen bei der Prüfung der Erkenntnisse der Wissenschaft und<br />
des Nutzens beurteilen?<br />
3. Mögliche Korrektive<br />
Trotz dieser Bedenken wird hier in Hinblick auf die gewisse Staatsferne<br />
bei der Beurteilung klinischer Medizinstudien, die zumindest in Universitätskrankenhäusern<br />
nach Art. 5 Abs. 3 GG geboten erscheint, vom Vorliegen<br />
eines Beurteilungsspielraums ausgegangen. Das enthebt aber nicht der<br />
Frage, ob gegebenenfalls institutionelle Korrektive denkbar sind, um diese<br />
erweiterten Handlungsspielräume in demokratietheoretischer Hinsicht<br />
mit einem Gegengewicht 58 zu versehen. Nimmt man diese Frage ernst, so<br />
lässt sich an neue Formen der Öffentlichkeitsbeteiligung denken oder an<br />
eine Ausweitung der Aktivlegitimation zum Vorgehen gegen Kommissionsentscheidungen.<br />
De lege lata steht diese dem „Sponsor“ des klinischen<br />
Versuchs, also einem Pharmaunternehmen, zu.<br />
Es ließe sich daran denken, in der Systemlogik der immer stärkeren<br />
Überformung des nationalen deutschen Rechts durch die Rechtsetzung<br />
56 OVG Hamburg, ZUR 1995, 93; OVG Berlin NVwZ 1995, 1023; VG Berlin<br />
NVwZRR 1994, 150; differenzierend: G. Hirsch/A. Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz<br />
(GenTG), Kommentar, München 1991, § 16, Rz. 57.<br />
57 S. Schmieder, Risikoentscheidungen im Gentechnikrecht. Beurteilungsspielräume<br />
der Verwaltung gegenüber den Gerichten?, 2004; differenzierend: R. A. Kroh,<br />
Risikobeurteilung im Gentechnikrecht – Einschätzungsspielraum der Behörde und<br />
gerichtliche Kontrolle, DVBl. 2000, 103 f.; zu dieser Gefahr grundsätzlich: Sommermann<br />
(Fn. 5), Rz. 79.<br />
58 Überlegungen zu einem „Austarieren“ finden sich bei: A. Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip.<br />
Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für die Folgen<br />
privater Freiheitsbetätigung – Zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel<br />
des Umwelt und Planungsrechts, 1999.
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
203<br />
auf europäischer Ebene an eine Ausweitung der Beteiligungs und Klagerechte,<br />
etwa auch auf Betroffenenverbände, zu denken. 59 Demgegenüber<br />
stehen natürlich praktische Bedenken, vor allem die stetige Drohung der<br />
Pharmakonzerne mit einer „Abwanderung“ der Forschung in weniger<br />
stark reglementierte, aber nicht unbedingt dadurch „bessere“ Standorte<br />
(man denke an die englischen Probanden vor einigen Jahren). Auch werden<br />
in Deutschland Beteiligungs und Klagerechte derzeit unter dem Stichwort<br />
des „Bürokratieabbaus“ tendenziell „abgebaut“. 60 Dennoch erscheint<br />
eine solche Überlegung in Hinblick auf einen wünschenswerten Abbau<br />
von Informationsasymmetrien unter dem Gesichtspunkt der europarechtlich<br />
überformten Informationsfreiheitsrechte durchaus in dem Rahmen<br />
erwägenswert, in dem sich dieser mit den Grundrechten der an den arzneimittelrechtlichen<br />
Studien Beteiligten sachangemessen vereinbaren lässt. 61<br />
Derartige Änderungen würden aber de lege ferenda gegebenenfalls Umgestaltungen<br />
der jeweiligen Fachgesetze wie auch der Verwaltungsgerichtsordnung<br />
nach sich ziehen.<br />
III. Folgerungen für eine Rolle der Staatlichkeit<br />
im biotechnologischen Zeitalter<br />
Die Frage nach der Rolle von Ethikkommissionen im Arzneimittelrecht<br />
wirft letztlich die zentrale Frage nach dem Selbstverständnis des Staates in<br />
der biotechnologischen Informationsgesellschaft auf: Dieser hat – so die<br />
hier vertretene Ansicht – den Rahmen abzustecken und zu sichern, welcher<br />
durch die staatliche Verpflichtung auf die Wahrung der Menschen<br />
59 Kloepfer (Fn. 37), 109 f.<br />
60 Hierzu kritisch: A. Guckelberger, Bürokratieabbau durch Abschaffung des Erörterungstermins?,<br />
DÖV 2006, 97.<br />
61 Nicht jede Verzögerung des Verfahrens durch Bürgerbeteiligung muss unbedingt<br />
zu einer „Verschlechterung“ des Verwaltungsverfahrens führen. So fällt die Durchführung<br />
von Beteiligungsverfahren anteilig gegenüber anderen Verfahrensschritten nicht<br />
deutlich ins Gewicht, dazu: J. Ziekow/M.-P. Oertel/A. Windoffer, Dauer von Zulassungsverfahren.<br />
Eine empirische Untersuchung zu Implementation und Wirkungsgrad<br />
von Regelungen zur Verfahrensbeschleunigung, 2005. Zu den positiven Seiten einer<br />
Verzögerung der Einführung neuer Techniken durch die „katechontische“ Funktion<br />
des Verwaltungsrechts: B. Schlink, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen<br />
Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, VVDStRL 48 (1990), 233 (259 ff.); in<br />
diese Richtung argumentiert auch: Breuer (Fn. 43), 106, der in der gericht lichen Überprüfbarkeit<br />
der Beurteilungen technischer Sachverhalte durch Private ein notwendiges<br />
Korrektiv sieht, welches im Einzelnen „situationsadäquat“ (115) austariert werden<br />
muss.
204 Margrit Seckelmann<br />
WissR<br />
würde und den nachfolgenden Grundrechtekatalog sowie die weiteren<br />
Verfassungsprinzipien festgelegt wird. 62<br />
Es gehört mithin zu den Staatsaufgaben, dafür Sorge zu tragen, wie Wissen<br />
über technische Risiken bestmöglich generiert und wie zugleich erreicht<br />
werden kann, dass diese Expertise in die staatliche Willensbildung eingebunden<br />
wird. Zu den weiteren Aufgaben des Staates gehört auch die derzeit<br />
konkretisierungsbedürftige Verteilung der Haftungsrisiken zwischen den<br />
Ethikkommissionen und den Körperschaften, die diese einrichten, den<br />
Kommissionsmitgliedern sowie dem Staat. Der Staat ist nicht auf eine Risikovorsorge<br />
beschränkt. Er hat vielmehr immer auch eine Förderfunktion<br />
zu erfüllen. Diese ist im parlamentarischen Konsensbildungsprozess zu ermitteln,<br />
etwa durch Regelungen des Verwaltungsverfahrens, die für eine<br />
größtmögliche Transparenz und Kontrolle der Entscheidungen sorgen sollen.<br />
63 Hierzu gehören alle Maßnahmen, die dem Abbau von Informationsasymmetrien<br />
dienen können. Und als solche können auch die hier vorgestellten<br />
gesetzesausführenden Ethikkommissionen, trotz aller im Einzelnen<br />
äußerbarer Kritik, sich immer noch als die beste aller bislang erwogenen<br />
Modelle zur Risikoabschätzung im Arzneimittelrecht erweisen.<br />
Summary<br />
In Germany, as well as in other industrialised countries, ethics commissions play a central<br />
role for medical research. These panels have developed out of the Declaration of<br />
Helsinki which was adopted in 1967 by the World Medical Association. It provided for<br />
an inspection of experiments on human beings based on selfassessments enacted by a<br />
professional code of conduct. Since then, ethics commissions have increasingly developed<br />
from means of scientific selfassessment into institutionalised arenas of cooperation<br />
between science and public administration. As to the clinical assessment of<br />
drug tests on adult human beings, this outcome has been given a legal foundation by the<br />
Law on the Dealings with Medicaments (Arzneimittelgesetz) or the Medical Pro ducts<br />
Act (Medizinproduktegesetz). On the grounds of the Ordinance on Good Clinical<br />
Practice in the Performance of Clinical Tests Involving Drugs for the Treatment of<br />
Human Beings (GCPVerordnung) which, in turn, is based on the amended Medical<br />
62 Seckelmann (Fn. 8); R. Pitschas, Allgemeines Verwaltungsrecht als Teil der öffentlichen<br />
Informationsordnung, in: W. HoffmannRiem/E. SchmidtAßmann/G. F.<br />
Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, 1993,<br />
219; zur „Technikbewältigung als Staatsaufgabe“ vgl. Ipsen (Fn. 39), 178.<br />
63 Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher (Fn. 46) , 26; W. Graf Vitzthum, Das Verfassungsrecht<br />
vor der Herausforderung von Gentechnologie und Reproduktionsmedizin,<br />
in: V. Braun/D. Mieth/K. Steigleder (Hrsg.), Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie<br />
und der Reproduktionsmedizin, 1987, 236 (289 ff.); Würtenberger, Wandlungen<br />
in den privaten und öffentlichen Verantwortungssphären, in: JbRSoz. XIX<br />
(1989), 308 (319).
41 (2008) Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?<br />
205<br />
Products Act, and under the influence of European law, ethics commissions are adjucated<br />
increasingly farreaching competencies as to the shaping of procedures.<br />
Seen from the viewpoints of legal theory and of democracy theory, the role of ethics<br />
commissions is somewhat problematic. The higher the extent to which these commissions<br />
can affect the design of procedures, the more the boundary between counsel and<br />
decisionmaking is blurred. The legal qualification of the votes made by ethics commissions,<br />
as well as their implications for the possibility of legal action, are therefore<br />
issues of high importance. These concerns, along with general questions on the role of<br />
governments in the ethical assessment of scientific research in the age of biotechnology,<br />
are dealt with in this paper.
206 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
Alexander Reetz<br />
Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
auf dem „verfassungsrechtlichen Prüfstand“<br />
Mit Urteil vom 18.09.2007, X ZR 167/05 – „Selbststabilisierendes Kniegelenk“<br />
bestätigte der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Verfassungsmäßigkeit<br />
des § 42 Nr. 1 ArbEG. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass<br />
die Regelung im Hinblick auf neuheitsschädliche wissenschaftliche Spontanäußerungen<br />
und neuheitschädliche Offenbarungen, die der Wissenschaftler<br />
nachvollziehbar damit begründet, dass er die Folgen einer wirtschaftlichen<br />
Verwertung nicht verantworten kann, keine Anwendung finden<br />
kann. Er ist entgegen der Einschätzung des Bundesgerichtshofs zudem<br />
der Ansicht, dass die Mittelaufbringung der Hochschule aus dem Fundus<br />
der an ihr getätigten schutzfähigen Erfindungen nicht deren mit Verfassungsrang<br />
ausgestattete Funktionsfähigkeit betrifft und daher auch nicht<br />
dem institutionellen Garantiebereich des Art. 5 III 1 GG unterfällt.<br />
I. Einführung<br />
Der für Erfinderrechtsfragen zuständige X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs<br />
entschied mit Urteil vom 18.09.2007 1 , dass sich die Neuregelung<br />
des § 42 Nr. 1 ArbEG 2 im Rahmen der formellen Gesetzgebungskompetenz<br />
des Bundes nach Art. 73 I Nr. 9 GG halte und zudem nicht<br />
gegen Art. 5 III GG verstoße. Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt<br />
zugrunde: Der Kläger, habilitierter beamteter Direktor einer Abteilung<br />
für Kieferchirurgie mit einem Forschungsschwerpunkt in Biomechanik,<br />
beantragte festzustellen, dass er nicht dazu verpflichtet sei,<br />
die Offenbarung seiner Erfindung, eines „selbststabilisierenden Kniegelenks“,<br />
der beklagten Hochschule anzuzeigen oder zu melden. Er beabsichtigte,<br />
die Erfindung im Rahmen seiner Lehrtätigkeit bereits vor Ablauf<br />
der durch die Anzeige regel mäßig in Lauf gesetzten Zweimonatsfrist<br />
1 BGH, Urt. v. 18.09.2007 – X ZR 167/05, GRUR 2008, 140 – „Selbststabilisierendes<br />
Kniegelenk“; zuvor OLG Braunschweig, Urt. v. 10.11.2005 – 2 U 19/05, GRUR-RR<br />
2006, 178; LG Braunschweig, Urt. v. 02.02.2005 – 9 O 1060/03, MittdtPatAnw 2004,<br />
74. 2 Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Arbeitnehmererfindungen vom 18.01.<br />
2002, BGBl. I S. 414.<br />
Wissenschaftsrecht Bd. 41 (2008) S. 206–231<br />
© Mohr Siebeck – ISSN 0948-0218
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
207<br />
den Studierenden zugänglich zu machen. Der Kläger vertrat die Ansicht,<br />
hierdurch in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Die beklagte Hochschule<br />
kündigte dienstrechtliche Konsequenzen und die Prüfung von<br />
Schadensersatzansprüchen an.<br />
Auf den Antrag des Klägers bejahte der Bundesgerichtshof ein konkretes<br />
Feststellungsinteresse gemäß § 256 I ZPO und legte dezidiert Wert darauf,<br />
nicht über ein „abstrahierendes Feststellungsinteresse“ entschieden<br />
zu haben; 3 denn der Antrag des Klägers, konkret festzustellen zu lassen,<br />
dass er nicht verpflichtet sei, die Offenbarung seiner Erfindung „selbststabilisierendes<br />
Kniegelenk“ der Beklagten anzuzeigen oder zu melden, 4<br />
hing alleine von der abstrakten Gültigkeitsfeststellung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
ab. 5 Diese Regelung belasse dem Rechtsanwender genügend Spielraum,<br />
den Konflikt zwischen Publikationsinteressen des Hochschulwissenschaftlers<br />
und den Verwertungsinteressen der Hochschulen sachgerecht<br />
zu lösen. Eine Beeinträchtigung des Art. 5 III 1 GG sei durch die<br />
verfassungsrechtliche Garantie der Institution Hochschule und ihrer<br />
Funktionsfähigkeit gerechtfertigt, da sie die Mittelaufbringung der Hochschule<br />
auch aus dem Fundus der an ihr getätigten schutzfähigen Erfindungen<br />
betreffe. 6 Den Bedenken der Wissenschaftler, sie könnten durch die<br />
Neuregelung des § 42 Nr. 1 ArbEG in ihrer positiven Publikationsfreiheit<br />
beeinträchtigt sein, könne – wie es bereits das Bundesverfassungsgericht in<br />
seinem Kammerbeschluss aus dem Jahre 2004 andeutete 7 – jedenfalls dadurch<br />
Rechnung getragen werden, dass sich die zweimonatige Regelfrist<br />
bis auf wenige Stunden verkürzen kann.<br />
3 BGH GRUR 2008, 150 (Rdn. 4).<br />
4 Vgl. insoweit den Tatbestand des Berufungsurteils, auf den der BGH GRUR<br />
2008, 150 (Rdn. 4), Bezug nimmt, OLG Braunschweig, Urt. v. 10.11.2005, 2 U 19/05,<br />
GRUR-RR 2006, 178.<br />
5 Diese Gültigkeitsfeststellung ist hingegen nicht mit der Nichtigkeitsfeststellung<br />
des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 I GG, §§ 81, 31 II BVerfGG zu verwechseln.<br />
Nur jene Entscheidung hat Gesetzeskraft, eine Bindung der unteren Gerichte<br />
an das Urteil des Bundesgerichtshofs schließt Art. 20 III, 97 I GG aus, wenngleich<br />
keine Zweifel an der faktischen Präjudizwirkung bestehen.<br />
6 BGH GRUR 2008, 150, 152 (Rdn. 21).<br />
7 Vgl. BVerfG (K), 1 BvL 7/03 vom 12.03.2004, NVwZ 2004, 974.
208 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
II. Verfassungsrechtliche Überprüfung des § 42 Nr. 1<br />
i.V.m. § 24 II ArbEG<br />
Es soll im Folgenden überprüft werden, ob die Feststellungen zur Verfassungsmäßigkeit<br />
der Neuregelung mit der bisherigen Rechtsprechung des<br />
Bundesverfassungsgerichts übereinstimmen und aus der Sicht des Verfassers<br />
überzeugen können.<br />
1. Schutzbereich der positiven Publikationsfreiheit<br />
a. Sachlicher Schutzbereich<br />
Bei der Neuregelung des Hochschulerfinderrechts verortete der Gesetzgeber<br />
die positive Publikationsfreiheit in der Forschungsfreiheit (nicht: der<br />
Lehrfreiheit) des Art. 5 III 1 GG und befindet sich damit in Übereinstimmung<br />
mit der wohl herrschenden Auffassung. 8 Die Gegenauffassung zählt<br />
die Publikationsfreiheit zur Lehrfreiheit, 9 eine differenzierte Auffassung<br />
sieht die erstmalige Veröffentlichung als Bestandteil der Forschungsfreiheit,<br />
die lehrmäßige Wiedergabe hingegen als Lehre. 10 Jedenfalls stellt sie<br />
sich aber als ein eigenständiges und anerkanntes Element der Wissenschaftsfreiheit<br />
dar. 11<br />
Rückblickend betrachtet wurde schon während der Weimarer Reichsverfassung<br />
[WRV] die akademische Lehrfreiheit des Art. 142 WRV als<br />
Sonderrecht der Hochschullehrer (sog. gesteigerte Freiheit) angesehen, die<br />
sich im Rahmen ihres Beamtenverhältnisses nicht auf die Meinungsfreiheit<br />
des Art. 118 I WRV hätten berufen können. Hierin wurde ihre eigentliche<br />
Bedeutung gesehen. Häufig wurde die dogmatische Parallele gezogen,<br />
dass der Hochschullehrer eine ähnliche sachliche Unabhängigkeit gegenüber<br />
seinem Dienstherrn genieße wie der Richter. 12 Auch heute ist<br />
8<br />
Vgl. RegE, amtl. Begr. zu § 42 Nr. 1, BR-Drs. 583/01, S. 8 f. (entspricht BT-<br />
Drs.14/5975, S. 6).<br />
9 So BVerwGE 29, 77, 80 f.; H. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der<br />
Hochschule(1994), S. 90; R. Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG I (5. Aufl. 2000), Art. 5<br />
Rdn. 102; vgl. nunmehr auch E. Denninger, in: AK-GG, Art. 5 Abs. 3 (GW 2001) Rdn.<br />
29 f., der seine ursprünglich (vgl. die Altkommentierung Rdn. 29 f., 43) differenzierte<br />
Sichtweise offenbar nicht mehr weiterverfolgt.<br />
10<br />
Bei methodischer Erarbeitung und Bewertung ist sie zugleich Forschung und<br />
Lehre, Th. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit (1990), S. 274.<br />
11<br />
Allgemeine Ansicht, BVerfGE 35, 79 (113); zuletzt M. Kamp, Forschungsfreiheit<br />
und Kommerz (2004), S. 71, und Chr. Lux, Hochschulen und Wirtschaft (2002), S. 19 f.<br />
12<br />
So etwa K. Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), S. 6 (37 f.); G. Anschütz, Die Verfassung<br />
des Deutschen Reichs (14. Aufl. 1933), Art. 142 Anm. 4; siehe auch schon für die<br />
Hochschullehrer in Preußen, C. Bornhak, Hochschullehrer in Preußen (1901), S. 41 f.
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
209<br />
Wissenschaft ohne ihre Verbreitung durch die Publikation nicht denkbar.<br />
Die Publikation ist zur Erweiterung des objektiven, überindividuellen Bestandes<br />
an wissenschaftlichen Erkenntnissen 13 und mithin für den wissenschaftlichen<br />
Fortschritt von elementarer Bedeutung. 14 Eine Verwertungspräferenz<br />
des Wissenschaftlers, die zu einer Verzögerung der Publikation<br />
führt, ist nach bestrittener Auffassung für den Grundrechtsschutz unproblematisch;<br />
15 denn zum einen ist die Freiheit der Wissenschaft inhaltlich<br />
nicht auf die gemeinschaftsnützige Ausübung begrenzt. 16 Zum anderen<br />
führt auch die (verzögerte) Veröffentlichung nach Prioritätssicherung<br />
zu einem Meinungsaustausch innerhalb der scientific community. 17<br />
Umgekehrt stellt sich gerade auch die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen<br />
in neuheitsschädlicher Form, ohne auf die Verwertungsinteressen<br />
der Hochschule durch rechzeitige Schutzrechtsanmeldung Rücksicht<br />
zu nehmen, als eine von Art. 5 III 1 GG geschützte Verhaltensweise<br />
dar. Solche „drittschädigenden“ Verhaltensweisen werden in der Grundrechtsdogmatik<br />
zwar als Verstoß gegen das Gebot des „neminem laedere“<br />
in seiner grundrechtstatbestandsverkürzenden Variante diskutiert. 18 Hiergegen<br />
spricht jedoch, dass nicht jeder Übergriff in die Rechtssphäre eines<br />
Dritten dazu führen darf, dass Verhaltensweisen aus dem Tatbestand eines<br />
Freiheitsrechtes ausscheiden müssen, weil damit von vornherein die Entstehung<br />
von Grundrechtskollisionen ausgeschlossen wäre. Es ist system-<br />
13 Dies ist Ziel der Wissenschaft, vgl. dazu M. Blankenagel, Wissenschaft zwischen<br />
Information und Geheimhaltung (2001), S. 104 ff.; K. Hailbronner, Die Freiheit der<br />
Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht (1979), S. 262. Die Wissenschaftsfreiheit<br />
ist „Kommunikationsgrundrecht“, vgl. etwa R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG,<br />
Art. 5 III (1977) Rdn. 10; H. Wagner, NVwZ 1998, 1235, 1239.<br />
14<br />
Vgl. E.-J. Meusel, in: HbdWissTransfers (1990), S. 89 (92).<br />
15 Es handelt sich hierbei im eigentlichen Sinne um ein Problem der negativen<br />
Grundrechtsfreiheit; M. Blankenagel, Wissenschaft zwischen Information und Geheimhaltung<br />
(2001), S. 107; Chr. Lux, Rechtsfragen der Kooperation zwischen Hochschulen<br />
und Wirtschaft (2002), S. 19 ff.; Th. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit<br />
(1991), S. 291 ff; sehen die Veröffentlichung als notwendige Bedingung<br />
für einen Grundrechtsschutz aus Art. 5 III 1 GG an.<br />
16 J. Fenchel, Negative Informationsfreiheit (1997), S. 62 und S. 53 ff.; M. Kamp,<br />
Forschungsfreiheit und Kommerz (2004), S. 72, haben dies für die negative Publikationsfreiheit<br />
bestätigt. Umgekehrt gilt auch für die positive Publikationsfreiheit, dass<br />
eine gleichzeitig bestehende Verwertungsabsicht unschädlich ist und diese gegebenenfalls<br />
als ein separates Interesse an anderen Grundrechten (Art. 12, 14 GG) zu messen<br />
ist.<br />
17<br />
So die vermittelnde Ansicht von I. Pernice, in: Dreier, GG I (2. Aufl.), Art. 5 III<br />
(Wissenschaft) Rdn. 31.<br />
18<br />
Umfassend zur Frage des Begriffs und der Existenz schutzbereichsimmanenter<br />
Grenzen der Freiheitsgrundrechte im Unterschied zu den sog. verfassungsimmanten<br />
Schranken, Th. Stemmler, Das „Neminem-laedere-Gebot“ (2005), S. 88 ff., S. 234.
210 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
und methodengerechter, solche Kollisionen auf der Schrankenebene zu<br />
lö se n . 19<br />
Den inhaltlichen Bezugspunkt der positiven Publikationsfreiheit bildet<br />
das Ergebnis wissenschaftlicher Tätigkeit auf jeder Stufe der Vollendung<br />
wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Voraussetzungen des Wissenschaftsbegriffs,<br />
auf den hier im Einzelnen nicht einzugehen ist, 20 müssen für die<br />
informative Verbreitung daher erfüllt sein. 21 Gegenstand der Wissenschaftsfreiheit<br />
sind „vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit<br />
beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei der<br />
Suche nach Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe“ 22 . Betrachtet<br />
man die Entwicklungsstadien der Veröffentlichung eines Forschungsergebnisses,<br />
so steht der Forscher bei Vorliegen eines Forschungsergebnisses<br />
zunächst vor der Wahl, ob er seine Forschung der Öffentlichkeit durch<br />
Preisgabe bzw. Verbreitung zugänglich machen möchte oder nicht. Hat<br />
der Forscher nach Bewertung seiner Ergebnisse eine Entscheidung zugunsten<br />
der Verbreitung getroffen, muss er entscheiden, zu welchem Zeitpunkt<br />
und in welchem Rahmen (Vortrag, Diskussion, Fachpublikation<br />
etc.) diese erfolgen soll. Schließlich muss er festlegen, in welcher Breite und<br />
Tiefe seine Ergebnisse preisgegeben werden sollen. Die Ausübungsmodalitäten<br />
sind hierbei umfassend geschützt, die Entscheidung über das „Ob“<br />
der Veröffentlichung aber nur insoweit, als die getroffene positive Entscheidung<br />
für die Vornahme der grundrechtlich geschützten Handlung<br />
durch Handlungshindernisse beeinträchtigt wird. 23<br />
19 So vor allem die Vertreter der herrschenden „weiten Tatbestandstheorie“, vgl. R.<br />
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 289 ff.; W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation,<br />
S. 175, und zuletzt Th. Stemmler, Das „Neminem-leadere-Gebot“, S. 88 ff., mit<br />
umfassender Darstellung der Einwände gegen die „enge Tatbestandstheorie“.<br />
20 Zum Inhalt der Wissenschaftsfreiheit, vgl. BVerfGE 90, 1, 11 ff.; 35, 79, 112 f.; 47,<br />
327, 367 f.; lesenswert E. Denninger, in: AK-GG, Art. 5 Abs. 3 I (GW 2001) Rdn. 13 ff.<br />
21 Nach weit überwiegend anerkannter Definition des Wissenschaftsbegriffs handelt<br />
es sich bei Wissenschaft um „alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter, planmäßiger<br />
Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“, so BVerfGE 35, 79, 113;<br />
47, 327, 367; BVerwGE 29, 77, 78 f.; 23, 112, 120, sowie u.a. R. Scholz, in: Maunz/Dürig,<br />
GG, Art. 5 III (1977) Rdn. 91; H. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der<br />
Hochschule (1994), S. 74; R. Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rdn. 100; Th.<br />
Oppermann, in: HStR VI (2. Aufl. 2001), § 145 Rdn. 10; H.-H. Trute, Die Forschung<br />
zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994),<br />
S. 113 f.; Chr. Lux, Rechtsfragen der Kooperation zwischen Hochschulen und Wirtschaft<br />
(2002), S. 16 m.w.N; kritisch zu diesem „heteronomen Wissenschaftsbegriff“,<br />
aber mit beachtlichen Argumenten, E. Denninger, in: AK-GG, Art. 5 Abs. 3 I (GW<br />
2001) Rdn. 13 ff.<br />
22 Bzw. „Gegenstand der Forschungsfreiheit“, so BVerfGE 90, 1, 11 f.; 47, 327, 367 f.;<br />
35, 79, 113 f..<br />
23<br />
J. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte (1993), S. 57; im
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
211<br />
Der positiven Publikationsfreiheit wird nach jüngsten Umfragen in<br />
Thüringen eine die Schutzrechtsinteressen immer noch überragende Bedeutung<br />
beigemessen. 24 An diesem Umstand konnte die Novelle des<br />
Hochschulerfindungsrechts offenbar bislang wenig verändern. Gleichwohl<br />
sollte auch die Schutzrechtsaktivität des Hochschulwissenschaftlers<br />
als möglicher Indikator für wissenschaftliche Leistungsfähigkeit nicht unterschätzt<br />
werden. Er könnte, als Faktor von beachtlicher Ambivalenz, für<br />
das Selbstergänzungsrecht in Berufungsverhandlungen eine zunehmende<br />
Rolle spielen und die wissenschaftsadäquate Bewertung des Bewerbers<br />
vor neue Herausforderungen stellen; denn einerseits kann es der wissenschaftlichen<br />
Reputation des Bewerbers schaden, wenn er auf ein gewisses<br />
„Schutzrecht-Prestige“ verzichtete. Andererseits kann ein beachtliches<br />
Schutzrechtsportfolio darauf hindeuten, dass der Bewerber in der Vergangenheit<br />
insbesondere darauf bedacht war, wirtschaftlich von der staatlich<br />
finanzierten Forschung zu profitieren. Um von vornherein zu vermeiden,<br />
dass künftige Renditeerwartungen der Hochschule oder des Wissenschaftlers<br />
als wissenschaftsferne Erwägungen für eine Einstellungsentscheidung<br />
herangezogen werden, sollten sich die Berufungskommissionen<br />
in Selbstverzicht üben und Schutzrechtsaktivitäten schlicht ignorieren.<br />
b. Grundrechtsberechtigung<br />
Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit ist jeder Einzelne, der<br />
wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will. 25 Damit ist die Grundrechtsberechtigung<br />
an den Tatbestand der wissenschaftlichen Betätigung<br />
„qualifikationsmäßig gebunden“. 26 Keine Schwierigkeiten bereitet es, den<br />
eigenverantwortlich handelnden Hochschullehrern im Rahmen ihrer<br />
hauptamtlichen wissenschaftlichen Aufgaben an der Universität die<br />
Grundrechtsträgerschaft zuzusprechen. Schwieriger ist diese bereits für<br />
das übrige wissenschaftliche Personal festzustellen, dessen hauptamtliche<br />
Betätigung statusmäßig an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Mit-<br />
Anschluss daran J. Fenchel, Negative Informationsfreiheit – zugleich ein Beitrag zur<br />
negativen Grundrechtsfreiheit (1997), S. 24.<br />
24 Haase/Lautenschläger, WissR 39 (2006), S. 137, 153, die insoweit auch auf eine<br />
Analyse von Hausberg u.a., Zur Einführung der Neuheitsschonfrist im Patentrecht –<br />
ein USA-Deutschland-Vergleich bezogen auf den Hochschulbereich (2002), S. 1, rekurrieren.<br />
25 So BVerfGE 15, 256, 263 f.; 35, 79, 112; 90, 1, 12; vgl. die Parallele zur Kunstfreiheit<br />
BVerfGE 30, 173, 188; vgl. auch R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. III<br />
(1977) Rdn. 119 und Chr. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 3<br />
Rdn. 367.<br />
26 Dazu R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. III (1977) Rdn. 119.
212 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
gliedschaftsgruppe innerhalb der Hochschule geknüpft ist. Maßgebliches<br />
Kriterium für die Grundrechtsträgerschaft ist nicht die Zuordnung zu einer<br />
der in § 42 S. 1 HRG 27 genannten Mitgliedergruppen der wissenschaftlich<br />
Beschäftigten, sondern die konkrete Ausgestaltung ihrer Aufgabenstellung,<br />
welche je nach Funktionsausübung ein mehr oder weniger an<br />
wissenschaftlicher Eigenverantwortung aufweist. 28 Hierbei kann es als<br />
ein wichtiger Indikator für die Grundrechtsberechtigung gelten, ob die<br />
Tätigkeit „selbständig“ wahrgenommen wird oder lediglich als „Mitwirkung“.<br />
29<br />
Sowohl die Feststellung der Grundrechtsberechtigung als auch die<br />
Bestimmung des Maßes an Selbständigkeit bei der wissenschaftlichen<br />
Arbeit hat weitreichende Konsequenzen für die positive und negative<br />
Publikationsfreiheit in Hochschulerfindergemeinschaften; denn bei der<br />
Entscheidung über die Publikation von Forschungsergebnissen handelt<br />
es sich um ein unteilbares besonderes Persönlichkeitsrecht, das entgegen<br />
beachtlicher Literaturstimmen 30 nicht dem Recht der Bruchteilsgemeinschaft<br />
gemäß § 741 ff. BGB unterliegt. 31 Es ist eine Funktionsbedingung<br />
der Wissenschaft, dass sich der forschungsverantwortliche Wissenschaftler<br />
hinsichtlich der Publikationsentscheidung gegenüber kollidierenden<br />
Publikations- und Geheimhaltungsinteressen „nachgeordneter“ 32 Wissenschaftler<br />
durchsetzen können muss, auch wenn sich letztere ebenfalls<br />
auf Art. 5 III 1 GG berufen können. Hierbei handelt sich um immanente<br />
Beschränkungen für den einzelnen Grundrechtsträger im Wissenschaftsbetrieb,<br />
die unvermeidbar sind und deshalb hingenommen werden müssen.<br />
33 Die institutionelle Garantie verhindert, dass sich andere Personen<br />
als der verantwortliche Forschungsleiter auch gegenüber der Hochschule<br />
auf ihre positive oder negative Publikationsfreiheit berufen können, so-<br />
27 Die im Wege der Föderalismusreform (Gesetz v. 28.8.2006, BGBl. I S. 2034) erfolgte<br />
Aufhebung des Art. 75 GG führt einstweilen dazu, dass das HRG aufgrund des<br />
Art. 125a I 1 GG als Bundesrecht fortgilt, aber nach S. 2 fortan im Wege der Landesgesetzgebung<br />
ersetzt werden kann.<br />
28 So auch R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. III (1977) Rdn. 121.<br />
29 So E. Denninger, in: AK-GG, Art. 5 Abs. 3 I (GW 2001) Rdn. 30.<br />
30 Falck/Schmaltz, GRUR 2004, 469 ff.<br />
31 Zurecht kritisch auch D. Leuze, in: Reimer/Schade/Schippel/Kaube, ArbEG<br />
(8. Aufl. 2007), § 42 n.F. Rdn. 29a, ebenso für den umgekehrten Fall des Geheimhaltungsinteresses,<br />
Rdn. 33.<br />
32 Die echte Grundrechtskollision „gleichrangiger“ Hochschulwissenschaftler<br />
vermag § 42 Nr. 1 ArbEG nicht aufzulösen, da der Dienstherr gegenüber beiden Hochschulbeschäftigten<br />
gleichermaßen grundrechtsverpflichtet sein würde, vgl. dazu unten<br />
II. 4.<br />
33 Zu diesen Kriterien zuletzt BVerfGE 111, 333 (354); 35, 79 (122, 128); 47, 327<br />
(369 f.); 51, 369 (379); 55, 37 (68 f.).
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
213<br />
weit dies zu einer „Aushöhlung“ der Freiheiten des Forschungsverantwortlichen<br />
führen würde. Insoweit gilt die von Hailbronner aufgestellte<br />
Grundthese, dass der durch Art. 5 III 1 GG gewährleistete Freiheitsraum<br />
bei der Ausübung von Funktionen in Forschung und Lehre variiert, und<br />
zwar je nach der übertragenen Funktion. 34<br />
2. Die Beeinträchtigung der positiven Publikationsfreiheit<br />
durch § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
Als Beeinträchtigung der positiven Publikationsfreiheit des Wissenschaftlers<br />
kommen grundsätzlich zwei gesetzlich auferlegte Pflichten in Betracht:<br />
zum einen die jeden gemäß § 5 ArbEG treffende Mitteilungspflicht,<br />
zum anderen das vorübergehende Offenbarungsverbot des § 24 II ArbEG,<br />
das nur unter den Voraussetzungen des § 42 Nr. 1 S. 1 ArbEG keine Anwendung<br />
findet, vgl. § 42 Nr. 1 S. 2 ArbEG.<br />
a. Mitteilungspflicht gemäß § 5 ArbEG<br />
Bereits die Entstehung der Mitteilungspflicht gemäß § 5 ArbEG könnte<br />
eine zwar nur mittelbare, aber dennoch rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung<br />
der Wissenschaftsfreiheit darstellen; denn nur bis zu ihrem<br />
Entstehungszeitpunkt, namentlich der Fertigstellung der Diensterfindung,<br />
ist der Wissenschaftler völlig frei, seine Forschungsergebnisse ungehemmt<br />
zu veröffentlichen. Insofern wirkt die Mitteilungspflicht bereits<br />
auf die Publikationsfreiheit ein. Dieser könnte der Wissenschaftler nur<br />
durch die frühzeitige Veröffentlichung unfertiger bzw. nicht zur Erfindungsreife<br />
gelangter Forschungsergebnisse oder aber durch die Nicht-<br />
Fertigstellung der Erfindung entgehen. 35 Die frühzeitige Veröffentlichung<br />
vor Entstehung der Mitteilungspflicht des § 5 ArbEG stellt sich im Ergebnis<br />
aber als eine staatlich nicht zurechenbare Selbstbeeinträchtigung dar;<br />
denn dass sich aus der beamtenrechtlichen Stellung keine Beschränkungen<br />
des wissenschaftlichen Veröffentlichungsrechts ergeben können, ist bereits<br />
seit der Zeit der Weimarer Republik im Beamtenrecht anerkannt und<br />
ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums. 36 Die Entstehung<br />
34 K. Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht<br />
(1979), S. 77 f., S. 263 f.: Die Tätigkeit des wissenschaftlichen Mitarbeiters ist „Mitwirkung“<br />
an einem fremden Forschungsprojekt, während dem Hochschullehrer die eigenständige<br />
Forschungstätigkeit als Dienstaufgabe bzw. Funktion „übertragen“ ist.<br />
35 Dieses Vorgehen wird von J. Hübner, WissR 38 (2005), S. 34, 38, als eine Strategie<br />
empfohlen, sich der Geheimhaltungsverpflichtung zu entziehen.<br />
36 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. III (1977) Rdn. 172; auch W.<br />
Thieme, Deutsches Hochschulrecht (2004), Rdn. 107, 117 f; dazu sogleich, unter 3. b.
214 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
der Mitteilungspflicht folgt aus der Fertigstellung der Erfindung und beinhaltet<br />
lediglich eine unselbständige Rechtsfolge, die keinen Anlass für<br />
eine Grundrechtsprüfung gibt.<br />
b. Geheimhaltungsverpflichtung gemäß § 42 Nr. 1 S. 1<br />
i.V.m. § 24 II ArbEG<br />
Hingegen stellt sich die für den grundrechtsberechtigten Hochschulbeschäftigten<br />
angeordnete Rechtsfolge des § 42 Nr. 1 S. 1 ArbEG, mit der<br />
Veröffentlichung einer Erfindung bis zum Ablauf einer regelmäßig zwei<br />
Monate andauernden Frist zu warten, als eine Beeinträchtigung seiner<br />
positiven Publikationsfreiheit dar; denn hierbei handelt es sich lediglich<br />
um eine zeitliche Verkürzung bzw. Modifizierung der in § 24 II ArbEG<br />
angeordneten Geheimhaltungsverpflichtung des Arbeitnehmers. Man<br />
kann darüber streiten, ob diese Beeinträchtigung erheblich genug ist, um<br />
überhaupt Anlass für eine Grundrechtsprüfung geben zu können. 37 Eine<br />
Bagatellisierung unterhalb der Eingriffsschwelle wurde durch den Bundesgerichtshof<br />
zurecht verneint; denn der Forscher trägt das Risiko, ggf.<br />
in Regress genommen zu werden. Diesem wirksam zu begegnen, bedeutet:<br />
In dubio pro silentio. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.<br />
Hiervon zu unterscheiden sind intrinsische Verzögerungen des Wissenschaftsbetriebs,<br />
die in vielfältiger Hinsicht auftreten können: etwa in<br />
der Erkenntnis um die Unvollkommenheit des Forschungsergebnisses, in<br />
einer Gewissensentscheidung, Folgenabschätzungen, Selbstbestätigungszwängen,<br />
und sogar in Abstimmungsprozessen mit Forscherkollegen. Bei<br />
der Wartezeit bis zur Veröffentlichung einer Fachpublikation 38 handelt es<br />
sich ebenso um eine wissenschaftsimmanente Verzögerung.<br />
aa. Anwendung des § 42 Nr. 1 ArbEG bei einem geplanten<br />
Publikationsbedürfnis<br />
Für die Situation eines planbaren Publikationsbedürfnisses ist die Zurückhaltung<br />
gemäß § 42 Nr. 1 i.V.m. § 24 II ArbEG angeordnet, namentlich ein<br />
staatlicher Imperativ. Eine auch nur kurzzeitige Verzögerung durch die<br />
Geheimhaltungspflicht ist daher nicht für die positive Publikationsfreiheit<br />
lediglich prägend, sondern beschränkend. Die schiere Existenz der Regelung<br />
nötigt dem Wissenschaftler eine Risikoabwägung auf, die er am liebs-<br />
37 In diesem Sinne, Th. Beyerlein, NZA 2002, 1020, 1022.<br />
38 J. Hübner, WissR 38 (2005), S. 34, 38 m.w.N.; so auch BVerfG(K), NVwZ 2004,<br />
974, 975, da in der Regel „weder in der Forschung, noch in der Lehre die Offenbarung<br />
neuheitsschädlicher Publikationen ohne jeden Vorlauf erfolgt.“
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
215<br />
ten vermeiden würde. Er ist gezwungen, sich Gedanken darüber zu machen,<br />
inwieweit er der Anordnung zur Geheimhaltung unter Beachtung<br />
ihrer ratio legis, der Hochschule die Schutzrechtssicherung zu ermöglichen,<br />
gerade noch dadurch gerecht werden kann, dass er zwar etwas preisgibt,<br />
dies aber tunlichst, ohne den wesentlichen Grundgedanken seiner<br />
Erfindung in neuheitsschädlicher Form i.S.d. § 3 I PatG zu offenbaren.<br />
Auch muss er von sich aus darauf hinwirken, dass die Regelfrist von zwei<br />
Monaten ggf. zu seinen Gunsten verkürzt wird.<br />
(1) Verkürzung des Geheimhaltungszeitraums<br />
Die gesetzliche Beweislastentscheidung fällt – wie es der Bundesgerichtshof<br />
jüngst festgestellt hat 39 – zugunsten der Hochschulen aus. Er folgt damit<br />
der Ansicht J. Hübners 40 , dass der Hochschulwissenschaftler nach den<br />
allgemeinen Grundsätzen für das Publikationsbedürfnis beweispflichtig<br />
ist, um eine Verkürzung des zweimonatigen Regelgeheimhaltungszeitraumes<br />
zu erwirken. Dieses Risiko werde allerdings, so der Bundesgerichtshof,<br />
jedenfalls dadurch stark relativiert, dass der elektronische Verkehr<br />
Möglichkeiten eröffne, durch geeignete Maßnahmen, auch des Hochschulerfinders<br />
(sic!), Rechnung tragen zu können. Insofern sei zu beachten,<br />
dass eine prioritätswahrende Anmeldung durch den Dienstherrn bzw. den<br />
Arbeitgeber gemäß § 35 II i.V.m. § 34 III Nr. 1, 2 PatG nicht einmal erfordert,<br />
dass sie überhaupt schon die Formulierung von Schutzansprüchen<br />
(vgl. insoweit § 34 III Nr. 3 PatG) enthält, 41 so dass das Interesse des Dienstberechtigten<br />
an der Schutzrechtssicherung – freilich unter Inkaufnahme<br />
wirtschaftlicher Risiken – 42 gewahrt bliebe, auch wenn dies mit einer wesentlichen<br />
Verkürzung des Geheimhaltungszeitraumes einherginge. Überschreitet<br />
der Hochschulwissenschaftler bei seiner anschließenden Offenbarung<br />
jedoch den Rahmen des Mitgeteilten, so trägt er hierfür wiederum<br />
das volle Risiko, 43 nach verbreiteter Ansicht macht er sich gegebenenfalls<br />
schadensersatzpflichtig. 44<br />
39 BGH, GRUR 2008, 150, 153 (Rdn. 26).<br />
40 So J. Hübner, WissR 38 (2005), S. 34 (41 f.).<br />
41 So R. Kraßer, in: Hartmer/Detmer, Hochschulrecht (2004), Kap. IX/II Rdn. 75;<br />
auch A. Keukenschrijver, in: Busse, PatG, § 35 Rdn. 20; besonders treffend, die Ausführungen<br />
des BGH GRUR 2008, 150, 153 (Rdn. 25): es reicht hierfür aus, „die Erfindung,<br />
so wie sie bisher formuliert worden ist (…) mit Angaben einzureichen, die dem Anschein<br />
nach als Beschreibung anzusehen sind“.<br />
42 J. Hübner, Erfindungen von Beschäftigten an Hochschulen (2003), S. 121 f.<br />
43 So dezidiert der BGH GRUR 2008, 150, 153 (Rdn. 25).<br />
44 Bartenbach/Volz, ArbEG, § 42 Rdn. 96; G. Rother, in: Reimer/Schade/Schippel/<br />
Kaube, ArbEG, § 24 Rdn. 13; dies setzt indes voraus, dass der durch § 42 Nr. 1 modifi-
216 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
(2) Verlängerung des Geheimhaltungszeitraums?<br />
Für den Fall einer Verlängerung des Geheimhaltungszeitraums weist<br />
Leuze darauf hin, dass die Zwei-Monats-Frist offenbar recht häufig nicht<br />
unerheblich überschritten werde. Der unbestimmte Rechtsbegriff „rechtzeitig“<br />
im Rahmen des § 42 Nr. 1 ArbEG 45 ist insoweit von der Anzeige der<br />
Offenbarungsabsicht, die den Fristbeginn markiert, abhängig. Die Offenbarungsanzeige<br />
muss nach Auffassung von Bartenbach/Volz den Anforderungen<br />
des § 5 ArbEG genügen; 46 denn nur eine solche sichere dem<br />
Dienstherrn eine zuverlässige Beurteilung der Schutz- und Verwertungsfähigkeit.<br />
Diese Konsequenz ist wegen der aufgezeigten geringen Anforderungen<br />
an eine prioritätswahrende Schutzrechtsanmeldung indes nicht<br />
hinnehmbar. Die Grundrechtsberechtigung des publikationswilligen<br />
Hochschulwissenschaftlers aus Art. 5 III 1 GG führt dazu, dass sich die<br />
Hochschule im Hinblick auf die „rechtzeitige“ Offenbarungsanzeige –<br />
vorläufig – mit den Informationen begnügen muss, die für die Prioritätssicherung<br />
unmittelbar notwendig sind. Hierfür ist eine Erfindungsmeldung,<br />
die den Anforderungen des § 5 I, II ArbEG entspricht, nicht erforderlich<br />
und daher als unverhältnismäßig anzusehen.<br />
bb. Anwendung des § 42 Nr. 1 auch bei nicht planbaren<br />
„wissenschaftlichen Spontanäußerungen“?<br />
Die Option des Wegfalls der Anzeigepflicht lässt der Bundesgerichtshof<br />
ungeprüft, da er sich zu einer Stellungnahme richtigerweise nicht veranlasst<br />
sah. 47<br />
Dort, wo die Möglichkeit einer vorherigen Offenbarungsanzeige nicht<br />
besteht, etwa im Rahmen des Bedürfnisses zu wissenschaftlicher Spontanoffenbarung<br />
auf einem Symposion, müsste in der Konsequenz der Logik<br />
des erkennenden Gerichts der Hochschulwissenschaftler die Darlegungs-<br />
und Beweislast dafür tragen, dass ein dringendes Bedürfnis einer unaufschiebbaren<br />
Offenbarung bestand, damit das eigenmächtige Hinwegsetzen<br />
über die Geheimhaltungsverpflichtung nachträglich gerechtfertigt<br />
werden kann. 48 Hingegen wird in den Gesetzesmaterialien lediglich ein<br />
zierte § 24 II ArbEG eine verfassungsmäßige Schutznorm ist, deren Verletzung eine<br />
Schadensersatzpflicht gemäß § 823 II BGB auslöst.<br />
45 D. Leuze, in: Reimer/Schade/Schippel/Kaube, ArbEG (8. Aufl. 2007), § 42 n.F.<br />
Rdn. 28.<br />
46<br />
Bartenbach/Volz, ArbEG, § 42 Rdn. 86, 91; § 13 Rdn. 7 ff.<br />
47<br />
BGH GRUR 2008, 150, 153 (27).<br />
48<br />
Daher zu recht kritisch, J. Hübner, WissR 38 (2005), S. 34 (42).
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
217<br />
„Interesse an der zügigen Veröffentlichung“ verlangt, nicht auch der Nachweis<br />
für ein dringendes Publikationsbedürfnis. 49<br />
Es stellt sich mithin die Frage nach einer teleologischen Reduktion.<br />
Denn eine einseitige Risikoverteilung zu Lasten des Hochschulerfinders<br />
wäre gerade bei einem unaufschiebbaren Offenbarungsinteresse unangemessen.<br />
Er dürfte seinem Forschungskonkurrenten nicht einmal öffentlich<br />
widersprechen, wenn letzterer gegen dessen entschiedene Überzeugung<br />
redete. Wenn die wissenschaftliche „Ehre“ auf dem Spiel steht, hätte<br />
er sie gegen die Schutzrechtsinteressen seiner Hochschule abzuwägen und<br />
– um ganz sicher zu gehen – gegebenenfalls in der entscheidenden Situation<br />
unterzuordnen. Ihn nötigt man dazu, auf eine Gegenäußerung zu<br />
verzichten und bezeichnet diese Selbstverständlichkeit ganz großmütig als<br />
sein „Recht“, vgl. § 42 Nr. 2 ArbEG. Entschlösse er sich später, darauf zu<br />
erwidern, lebte die Geheimhaltungsverpflichtung gemäß § 42 Nr. 1 i.V.m.<br />
§ 24 II ArbEG wieder auf.<br />
Der Verfasser hält eine Anwendung der Regelung auf ein als dringend<br />
empfundenes Offenbarungsbedürfnis deshalb für unangemessen. Auch<br />
ein Verzicht auf eine jedenfalls neuheitsschädliche Offenbarung wäre wegen<br />
der Risikoverteilung, über die sich der Wissenschaftler ganz kurzfristig<br />
klar werden müsste, nicht sachgerecht. Dem Hochschulwissenschaftler<br />
sollte ein Beurteilungsspielraum belassen werden. Hierfür streitet zumal,<br />
dass er in der Regel gleichermaßen daran interessiert ist, seine Erfindungen<br />
zu seinem eigenen finanziellen Vorteil zu verwerten. Schadet er seiner<br />
Hochschule durch eine neuheitsschädliche Offenbarung, dann schadet er<br />
sich zugleich auch selbst – zumindest finanziell. Prima facie dürften dann<br />
aber auch erhebliche Gründe für seinen Verzicht auf eine wirtschaftliche<br />
Verwertung und seine als notwendig empfundene Entscheidung für eine<br />
Offenbarung sprechen.<br />
cc. Keine Veröffentlichung ohne Verwertungsabsicht<br />
oder Flucht in die Geheimhaltung?<br />
Der Hochschulwissenschaftler muss sich nach der geltenden Rechtslage<br />
für eine Veröffentlichung ohne eigenen Einfluss auf die Verwertung oder<br />
aber für eine Geheimhaltung ohne Verwertung entscheiden. Veröffent-<br />
49 J. Hübner, WissR 38 (2005), S. 34 (42); der Hinweis auf D. Leuze, WissR 35 (2002),<br />
S. 348, 356 geht insoweit fehl; auch die amtliche Begründung zu § 42 Nr. 1 ArbEG verlangt<br />
lediglich (und insofern sicherlich missverständlich), dass ein „Interesse an einer<br />
zügigen Veröffentlichung“ bestehen muss, nicht aber, dass deren Dringlichkeit durch<br />
den Hochschullehrer auch nachgewiesen werden muss, s. den RegE, amtl. Begr. zu § 42<br />
Nr. 1, BR-Drs. 583/01, S. 9 (entspricht BT-Drs.14/5975, S. 6).
218 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
lichung ohne Verwertung setzt die Freigabeerklärung des Dienstherrn voraus.<br />
Im Einzelfall kann sich für den eigenverantwortlichen Hochschulerfinder<br />
indes die sozial-ethische Problematik stellen, ob er es für vertretbar<br />
hält, dass seine Erfindung über die Verwertung ein Zwischenglied in der<br />
Wertschöpfungskette der Industrie bilden oder aber auf anderem Wege<br />
nutzbringend an die Allgemeinheit weitergegeben werden soll. Zwar ist es<br />
richtig, dass es die Wissenschaftsfreiheit des Hochschulerfinders nicht gebietet,<br />
dass der Hochschullehrer auch Inhaber der Verwertungsrechte an<br />
seiner Erfindung bleiben muss. 50 Die Verwertungsentscheidung der Hochschule<br />
ist zunächst jedoch nur die mittelbare Folge einer durch den Wissenschaftler<br />
selbständig zu verantwortenden Offenbarungsentscheidung.<br />
Die wissenschaftliche Folgenverantwortung ist ein ganz wichtiger Bestandteil<br />
der Wissenschaftsfreiheit. Sie ist Ausprägung des Erfinderpersönlichkeitsrechts<br />
aus Art. 5 III 1 GG. Dass – wie der Bundesgerichtshof<br />
ausführt – der Hochschulerfinder seine Nichtnennung in den Patentveröffentlichungen<br />
(§ 63 I 3 PatG; Regel 18 der Ausführungsverordnung zum<br />
EPÜ) herbeiführen könne, wenn er sich ausschließlich durch von ihm<br />
pub lizierte Erfindungen in der Fachwelt einen Namen machen möchte, 51<br />
ändert nichts daran, dass der Wissenschaftler es in der Hand hat, ob die<br />
Erfindung überhaupt der Öffentlichkeit preisgegeben wird .<br />
Dem Erfinder bleibt also im Zweifel nur die Flucht in die Geheimhaltung<br />
(§ 42 Nr. 2 ArbEG). 52 Diese „wissenschaftsautonome“ Entscheidung<br />
ist nicht justitiabel. Die geltende Rechtslage muss vor allem dann als zutiefst<br />
unbefriedigend empfunden werden, wenn eine Veröffentlichung<br />
ohne Verwertung durchaus im Allgemeinwohlinteresse läge. Wer weiss,<br />
wie viele Erfindungen bereits alleine deshalb nicht offenbart worden sind,<br />
weil der Hochschulwissenschaftler die Folgen einer wirtschaftlichen Verwertung<br />
nicht verantworten wollte.<br />
Es ist daher erstrebenswert, de lege ferenda einen Mechanismus zur<br />
Verfügung zu stellen, der es dem Wissenschaftler ermöglicht, auf die Art<br />
50 So zutreffend bereits D. Leuze, in Reimer/Schade/Schippel, Das Recht der Arbeitnehmererfindung<br />
(7. Aufl. 2000), § 42 Rdn. 16.<br />
51 So der BGH, GRUR 2008, 150, 152 (Rdn. 20).<br />
52 Einige Autoren bestreiten, dass geheim gehaltene Forschungsergebnisse überhaupt<br />
in den Schutzbereich des Art. 5 III 1 GG fallen, andere Autoren möchten den<br />
Grundrechtsschutz von der Erfüllung weiterer subjektiver Voraussetzungen abhängig<br />
machen. Die hierzu vorgetragenen Argumente können allesamt nicht überzeugen. Ihre<br />
Darstellung würde jedoch den Rahmen sprengen, vgl. dazu die vorzüglichen Ausführungen<br />
von M. Kamp, Forschungsfreiheit und Kommerz (2004), S. 72 ff. und J. Fenchel,<br />
Negative Informationsfreiheit – Zugleich ein Beitrag zur negativen Informationsfreiheit<br />
(1997), S. 53 ff.
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
219<br />
der Verwertung oder ggf. einen Verzicht der Hochschule auf eine Kommerzialisierung<br />
Einfluss zu nehmen. Ihm sollte angeboten werden, die<br />
Entscheidung einer unabhängigen Ethik-Kommission oder Schlichtungsstelle<br />
einzuholen, und sich dieser unterwerfen. Dies wäre eine Chance für<br />
die Hochschule, die Geheimhaltung zu verhindern und zugleich eine Möglichkeit,<br />
ein wissenschaftsadäquates Verfahren für die Berücksichtigung<br />
sozial-ethischer Gesichtspunkte bei der Erfindungsverwertung zur Verfügung<br />
zu stellen. Zugleich würde der Wissenschaftler mit seiner Folgenverantwortung<br />
nicht alleine gelassen.<br />
Sollte der Hochschulwissenschaftler nach geltender Rechtslage trotz<br />
unterbliebener Anzeige von seiner positiven Publikationsfreiheit Gebrauch<br />
machen und auf diese Weise die Schutzrechtsentstehung verhindern,<br />
so wären Sanktionen gegen diese Entscheidung wohl an Art. 5 III 1<br />
GG zu messen, wenn der Wissenschaftler sich in nachvollziehbarer Weise<br />
auf seine wissenschaftliche Folgenverantwortung beruft. Den Gerichten<br />
bliebe nur eine Willkürkontrolle.<br />
dd. Zwischenergebnis<br />
Die Regelung des § 42 Nr. 1 S. 1 i.V.m. § 24 II ArbEG ist lediglich auf geplante<br />
Offenbarungsentscheidungen des Hochschulwissenschaftlers anzuwenden.<br />
Der Geheimhaltungszeitraum ist lediglich verkürzbar, nicht<br />
aber verlängerbar. Auf ein spontanes Offenbarungsbedürfnis des Wissenschaftlers<br />
sowie eine neuheitsschädliche Offenbarung, die der Hochschulwissenschaftler<br />
nachvollziehbar damit begründet, dass er die Folgen der<br />
Verwertung nicht verantworten kann, ist die Regelung nicht anwendbar.<br />
3. Bestehen einer Grundrechtsbegrenzung<br />
Bei den durchaus begrüßenswerten Anstrengungen der Gerichte, im Wege<br />
einer Verkürzung der Regelfrist bis auf wenige Stunden die Beeinträchtigungsqualität<br />
der gesetzlichen Anordnung abmildern zu wollen, wenngleich<br />
auch nicht eliminieren zu können, handelt es sich um Korrekturanstrengungen<br />
auf der Rechtfertigungsebene der Grundrechtsbeeinträchtigung.<br />
Die Forschungsfreiheit des Art. 5 III 1 GG ist ein vorbehalt-<br />
los gewährleistetes Grundrecht. Da sich das Begrenzungsmodell bzw.<br />
die „Gewichtungs- und Abwägungsmethode“ des Bundesverfassungsgerichts<br />
53 zur Lösung von Kollisionsproblemen auf der Verfassungsebene als<br />
53 Seit BVerfGE 28, 243 (261); auch 69, 1 (21) – Kriegsdienstverweigerung; s. auch<br />
BVerfGE 51, 324 (345 f.) – Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – bildet die-
220 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
geeignet herausgestellt hat und mit Nuancierungen auch in der Rechtsprechung<br />
des Bundesverwaltungsgerichts und der Rechtslehre übernommen<br />
wurde, 54 soll es hier ebenfalls für die Lösung der zu überprüfenden Kollisionsprobleme<br />
herangezogen werden. Speziell für das Grundrecht des<br />
Art. 5 III 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass es seine<br />
Grenzen nicht nur in den Grundrechten Dritter finde, sondern in „Verfassungsbestimmungen<br />
aller Art“. 55 Nicht jedes verfassungslegitime Ziel ist<br />
für Beeinträchtigungen der positiven Publikationsfreiheit somit geeignet;<br />
es muss insofern „qualifiziert sein“, dass es als Rechtswert einer verfassungsrechtlichen<br />
Kollisionsnorm entnommen werden kann. Unter Verfolgung<br />
dieses Ziels vorgenommene Einschränkungen der positiven Publikationsfreiheit<br />
sind außerdem nur zulässig, „soweit sie unter Berücksichtigung<br />
der Anforderungen praktischer Konkordanz mit Rücksicht auf das<br />
betroffene Grundrecht unerlässlich sind“. 56 Der Bundesgerichtshof verortet<br />
das Schutzrechts- und Verwertungsinteresse in der verfassungsrechtlichen<br />
Garantie der Institution der Hochschule und ihrer Funktionsfähigkeit<br />
gemäß Art. 5 III 1 GG. Aber auch andere Kollisionsnormen kommen<br />
in Betracht. Bereits die zweite Kammer des ersten Senats beim Bundesverfassungsgericht<br />
hatte seinerzeit die Vorlage des Landgerichts Braunschweig<br />
insoweit beanstandet, dass sie sich lediglich mit kollidierenden Grundrechtspositionen,<br />
nicht aber mit der Funktionsfähigkeit der Hochschulen,<br />
Pflichten aus dem Beamtenverhältnis und anderen Gemeinwohlzielen von<br />
Verfassungsrang auseinandergesetzt hat. 57<br />
a. Art. 5 III 1 GG: Funktionsfähigkeit der Hochschulen<br />
Der Bundesgerichtshof ist der Ansicht, dass „die Mittelaufbringung der<br />
Hochschule auch aus dem Fundus der an ihr getätigten schutzfähigen Erfindungen<br />
deren mit Verfassungsrang ausgestattete Funktionsfähigkeit“<br />
betreffe. 58<br />
ses Modell die Leitlinie der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, vgl. hierzu eingehend<br />
K. Stern, in: Stern, Staatsrecht III/2 (1994), S. 666 ff.<br />
54 So BVerwGE 87, 37, 45 f. m.w.N.; M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2 (1994),<br />
S. 551 (dort FN 297 mit vielen Nachweisen); ders., Verfassungsrecht II: Grundrechte<br />
(2. Aufl. 2003), A 9 Rdn. 32.<br />
55 In der Entscheidung BVerfGE 30, 173, 193, ging es freilich um die Kunstfreiheit;<br />
um die Wissenschaftsfreiheit hingegen in BVerfGE 47, 327, 369; 57, 70, 99; zur Bezeichnung<br />
als „echte“ bzw. „unechte Grundrechtskollision“ vgl. K. Stern, in: Stern, Staatsrecht<br />
III/2 (1994), S. 608.<br />
56 Dezidiert M. Sachs, Verfassungsrecht II: Grundrechte (2. Aufl. 2003), A 9 Rdn.<br />
44 (ohne Hervorhebung im Original).<br />
57 BVerfG (K), NVwZ 2004, 974, 975.<br />
58 BGH GRUR 2008, 150, 152 (Rdn. 21).
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
221<br />
Schon das Bundesverfassungsgericht deutete mehrfach an, dass sich<br />
„mögliche Grenzen der Wissenschaftsfreiheit“ aus dem Gesichtspunkt<br />
der „Funktionsfähigkeit der Hochschule“ ergeben könnten. 59 Es benutzte<br />
den Begriff der „Funktionsfähigkeit“ bislang in verschiedenen Verwendungskontexten.<br />
Zum einen zog es in zwei Entscheidungen als Rechtfertigungsgrund<br />
für Beeinträchtigungen der Wissenschaftsfreiheit i.V.m. dem<br />
allgemeinen Gleichheitssatz, die als Grundrechte bei der Zugehörigkeit zu<br />
einer bestimmten Mitgliedergruppe und der Ausübung von Mitgliedschaftsrechten<br />
innerhalb der Hochschule berührt waren, „die – ihrerseits<br />
durch Art. 5 III 1 GG gebotene – Förderung der Funktionsfähigkeit von<br />
Hochschulorganen“ 60 heran. Eingriffe in die Koalitionsfreiheit von Tarifvertragsparteien<br />
durch gesetzliche Regelungen über die Befristung von<br />
Arbeitsverträgen (hier: §§ 57a ff. HRG i. d. F. des HFVG [BGBl. I S. 1065]<br />
vom 14.6.1984) wurden im Interesse der „Leistungs- und Funktionsfähigkeit<br />
der Hochschulen und Forschungseinrichtungen“ als gerechtfertigt<br />
angesehen, da sie die „sachgerechte Förderung des wissenschaftlichen<br />
Nachwuchses“ sicher stellten. 61 In anderen Entscheidungen ging es um die<br />
Begrenzung des Zulassungsanspruches zum Studium im Rahmen vorhandener<br />
Ausbildungskapazitäten. Die freie Ausbildungswahl i.V.m. dem allgemeinen<br />
Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip konnte „zum<br />
Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes – der Funktionsfähigkeit<br />
der Universität als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung eines<br />
ordnungsgemäßen Studienbetriebs – und nur unter strenger Wahrung<br />
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzt werden“. 62 Später<br />
wurde der Terminus der „Funktionsfähigkeit der Universitäten“ um die<br />
Attribute „in Wahrnehmung ihrer Aufgaben in Forschung, Lehre und<br />
Studium“ ergänzt 63 und schließlich auf die Formulierung „Funktionsfähigkeit<br />
des Wissenschaftsbetriebs“ verkürzt. 64 In seinem letzten hierzu ergangenen<br />
Beschluss des ersten Senats 65 hat es dargelegt, dass Art. 5 III 1<br />
GG eine „objektive, das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und<br />
Lehre zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm (vgl.<br />
BVerfGE 35, 79 [112]; stRspr)“ enthalte. Im Anschluss an das Hochschul-<br />
Urteil bestätigt es hierin seine Auffassung, dass der Staat für funktions-<br />
59 BVerfG (K), NVwZ 2004, 974, 975.<br />
60 BVerfGE 56, 192, 213 f.; 95, 193, 212.<br />
61 BVerfGE 94, 268, 285 ff..<br />
62 Zuerst BVerfGE 33, 303, 339 ff.; auch BVerfGE 54, 173, 191; 85, 36, 56.<br />
63 BVerfGE 54, 173, 191, im Anschluss an BVerfGE 33, 303, 339 ff.; 39, 258, 265 ff.;<br />
43, 34, 45; 43, 291, 325 ff.; später auch BVerfGE 66, 155, 179; 85, 36, 56.<br />
64 In BVerfGE 35, 79, 124, zuletzt BVerfGE 111, 333, 353.<br />
65 BVerfGE 111, 333, 353.
222 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
fähige Institutionen eines freien Wissenschaftsbetriebs sorgen und durch<br />
geeignete organisatorische Maßnahmen sicherstellen muss, dass das individuelle<br />
Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung so weit unangetastet<br />
bleibt, wie das „unter Berücksichtigung der anderen legitimen<br />
Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen<br />
Beteiligten möglich ist“. 66<br />
Das Bundesverfassungsgericht gewährt dem Gesetzgeber im Hinblick<br />
auf den Umfang und die Form der Förderungspflicht einen breiten Gestaltungsraum.<br />
67 Die Förderung der Wissenschaft wurde bislang weit überwiegend<br />
durch die Finanzierung aus dem Staatshaushalt sowie öffentlichen<br />
und privaten Drittmitteln sichergestellt. Der körperschaftlichen<br />
Eigen finanzierung der Hochschulen wurde demgegenüber eine nur marginale<br />
Bedeutung zuteil. 68 Die staatlicherseits nahezu monopolisierte Finanzierung<br />
der Hochschulen hatte deshalb eine so große Bedeutung, weil<br />
„ohne entsprechende finanzielle Mittel, über die im wesentlichen nur noch<br />
der Staat verfügt, heute in weiten Bereichen der Wissenschaften […] keine<br />
unabhängige Forschung und wissenschaftliche Lehre mehr betrieben werden<br />
kann […]; eine Ausübung der Grundfreiheiten ist hier notwendig mit<br />
der Teilhabe an staatlichen Leistungen verbunden“ 69 . Durch die nunmehr<br />
geschaffene Möglichkeit der hochschuleigenen Verwertung von Forschungsergebnissen<br />
könnte die staatlicherseits nahezu monopolisierte<br />
Forschungsfinanzierung geschwächt und gleichzeitig die Aufgabe der<br />
Hochschulen gestärkt worden sein, der individuellen Wissenschaftsfreiheit<br />
ein gedeihliches, d.h. vor allem staatsfreies „Zentrum der Hege und<br />
Pflege“ 70 aus eigener Kraft zu verschaffen. Der Bundesgerichtshof betrachtet<br />
im Einklang mit dem Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages<br />
aus dem Jahre 2001 die neu eingeführte Regelung als einen Mechanismus,<br />
der dem Interesse der öffentlichen Hand Rechnung trägt, den<br />
Hochschulen aus der Verwertung der bei diesen anfallenden Erfindungen<br />
Mittel zu erschließen. Insoweit gelte nichts anderes als bei der Mittelverteilung,<br />
bei der die Anknüpfung an die Bewertung wissenschaftlicher<br />
Qualität legitim ist. 71<br />
66 BVerfGE 111, 333, 353, im Anschluss an BVerfGE 35, 79, 115; 85, 360, 384; 93, 85,<br />
95.<br />
67<br />
Vgl. BVerfGE 81, 108, 116, worin – soweit ersichtlich – bereits ein Eingriff in die<br />
Kunstfreiheit durch den Abbau von Steuervergünstigungen abgelehnt wird („kein<br />
Vorrecht auf Steuerfreiheit jeder künstlerischen oder wissenschaftlichen Betätigung“).<br />
68<br />
U. Karpen, Wissenschaftsfreiheit und Hochschulfinanzierung, S. 41.<br />
69<br />
BVerfGE 35, 79, 115.<br />
70<br />
H. Bethge, in: Sachs, Grundgesetz (3. Aufl. 2004), Art. 5 Rdn. 210.<br />
71<br />
BGH GRUR 2008, 150, 152 (Rdn. 21), unter Verweis auf BT-Drs. 14/7573, S. 2.
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
aa. Die Berechtigung an den erzielten Überschüssen aus der Verwertung<br />
223<br />
Dies wirft natürlich die Frage nach der Mittelberechtigung aus der Schutzrechtsverwertung<br />
auf. Diese müsste erstens bei den Hochschulen liegen.<br />
Zweitens müsste sichergestellt sein, dass die Hochschulen für eine wissenschaftsadäquate<br />
Verteilung der erzielten Einnahmen selbst sorgen können.<br />
Betrachtet man die Systematik des Arbeitnehmererfindungsgesetzes<br />
bei der Inanspruchnahme von Arbeitnehmererfindungen, so ist es regelmäßig<br />
der Arbeitgeber bzw. der Dienstherr, welcher gemäß §§ 6 I, 7 I ArbEG<br />
(i.V.m. § 40 f. ArbEG) die Diensterfindung unbeschränkt oder aber<br />
gemäß §§ 6 I, 7 II ArbEG beschränkt in Anspruch nehmen kann. Demgegenüber<br />
sind jedenfalls die öffentlichen Hochschulen i.d.R. nicht dienstherrenfähig,<br />
72 so dass sich nur für diese wenigen Ausnahmefälle, die durch<br />
das Landesrecht bestimmt sind, ein Inanspruchnahmerecht der Hochschulen<br />
unmittelbar aus der arbeitnehmererfindungsrechtlichen Regelung<br />
ergibt. Die mangelnde Dienstherrenfähigkeit müsste nach der Regelungssystematik<br />
des Arbeitnehmererfindungsgesetzes eigentlich zum Übergang<br />
der Erfinderrechte auf die Länder führen, welche damit auch im Hinblick<br />
auf die Erzielung von Verwertungserlösen berechtigt und verantwortlich<br />
wären.<br />
Gleichwohl sollen ausweislich der Gesetzesbegründung „die Hochschulen<br />
die Möglichkeit erhalten“, die Erfindungen zur Verwertung an<br />
sich zu ziehen. 73 Im Zusammenhang mit der besonderen Gesetzesbegründung<br />
zur Vergütungsregelung des § 42 Nr. 4 ArbEG wird deutlich, dass<br />
der Gesetzgeber den Mechanismus der sog. Drittel-Regelung, welche sich<br />
offenbar in der Praxis außeruniversitärer Forschungseinrichtungen bereits<br />
bewährt hatte, auf den Hochschulbereich übertragen wollte. 74 Damit<br />
verbleibt dem Hochschulerfinder bzw. der Erfindergemeinschaft ein Drittel<br />
des Patentverwertungserlöses, von dem die mit der Schutzrechtserwirkung,<br />
deren Aufrechterhaltung oder Verteidigung sowie der mit der Verwertung<br />
verbundenen Kosten nicht in Abzug gebracht werden. Für die<br />
Verwendung der bei den Hochschulen verbleibenden Erlöse werden keine<br />
gesetzlichen Vorgaben gemacht. Damit setzt der Gesetzgeber voraus, dass<br />
die Hochschulen die dort getätigten Erfindungen in Anspruch nehmen<br />
können sollen, wobei von den verbleibenden zwei Dritteln aus Verwer-<br />
72 D. Scheven, in: HbdWissR I (2. Aufl. 1996), § 11 S. 325 (351); M. -E. Geis, in: Heilbronner/Geis,<br />
HRG, § 58 (2001) Rdn. 14 – mit Ausnahme einiger Hochschulen Berlins<br />
sowie der Universität des Saarlandes; § 8 Abs. 1 und 2 SaarlUG: Dienstherrenfähigkeit<br />
aber nicht für Professoren.<br />
73 BT-Drs. 14/5975, S. 2 f.<br />
74 BT-Drs. 14/5975, S. 7 und passim.
224 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
tungserlösen letztlich auch die mit der Patentierung entstehenden Kosten<br />
bewältigt werden müssen. 75<br />
Deshalb billigt der Bundesgerichtshof, in Übereinstimmung mit den gesetzgeberischen<br />
Zielen, aber entgegen der Systematik des Arbeitnehmererfindungsgesetzes,<br />
der jeweiligen Hochschule, aus der die Erfindung<br />
stammt, das Verwertungsrecht zu. Die weitreichenden Schlüsse, die er im<br />
Hinblick auf den fiskalischen Nutzen der Hochschulen zieht, sind allerdings<br />
nicht haltbar: Es bestehen in der beabsichtigten Verteilung nach der<br />
sog. Drittel-Regelung, auch soweit sich diese in außeruniversitären Forschungseinrichtungen<br />
bewährt haben mag, aus prinzipiellen Gründen<br />
nicht unerhebliche Gefahren für die Hochschulforschung. Es liegt auf der<br />
Hand, dass durch die unmittelbare Gratifikation einer erfolgreichen Verwertung<br />
von Hochschulerfindungen eine Motivationslage für die Verlagerung<br />
von Forschungsschwerpunkten auf solche Gebiete geschaffen wird,<br />
bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen schnellen Transfer in die<br />
industrielle Verwertung besteht. Wenn auch die Hochschulen konkret<br />
profitieren, d.h. eine Verwertungsrendite erzielen, so kann sich dies in Zeiten<br />
der staatlichen Unterfinanzierung für die Grundlagenforschung nur<br />
negativ auswirken. Es fehlt an einem Mechanismus der wissenschaftsadäquaten<br />
Verteilung der Mittel. Die Drittel-Regelung mag als gerecht empfunden<br />
werden, wo Forschungseinrichtungen nicht auch zur Grundlagenforschung<br />
verpflichtet sind. Die großzügige Verteilung der erzielten Einnahmen<br />
zielt dort nämlich darauf ab, einen „Incentive“ für die zielstrebige<br />
Erfindungstätigkeit zu geben. Soweit an den öffentlichen Hochschulen<br />
dieselben Wissenschaftler zugleich Grundlagen-, Drittmittel- und Auftragsforschung<br />
betreiben, wird die Verwertungspräferenz auf unheilsame<br />
Weise in den Vordergrund gerückt. Der Bundesgerichtshof legt nicht überzeugend<br />
dar, wie die Mittelerschließung überhaupt zur Stärkung der Autonomie<br />
der Hochschulen beitragen soll. 76 Im Gegenteil: Wenn sich die<br />
Hochschulen gegenüber dem Land eine größere Autonomie verschaffen<br />
wollten, so müsste dies um den Preis einer Vernachlässigung der Grundlagenforschung<br />
geschehen, da insofern ein Wettbewerb um die zusätzlichen<br />
Einnahmen aus der Erfindungsverwertung entfacht worden und die<br />
Grundfinanzierung als nicht leistungsbezogene Zuwendung ohnehin garantiert<br />
ist. 77<br />
75 Gegenüber den Vorstellungen des Gesetzgebers im Hinblick auf die Kostensituation<br />
deutlich pessimistischer K. Bartenbach/O. Hellebrand, MittdtPatAnw 2002,<br />
165, 169 f.; R. Bodenburg, F&L 2003, 601, 602, bezeichnet es als „komplexes Hochrisiko“.<br />
76 BGH GRUR 2008, 150, 152 (Rdn. 21).<br />
77 Ähnlich bereits D. Leuze, WissR 35 (2002), S. 348, 351 f.
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
bb. Kritische Beurteilung der Einnahmensituation<br />
225<br />
Für die Länderhaushalte entstehen indessen unmittelbare Kosten für<br />
Dienstleistungen zur Patentierung und Verwertung von Forschungsergebnissen.<br />
Es sind zudem mittelbare Kosten für den Aufbau eines hochschulspezifischen<br />
Patent- und Verwertungssystems entstanden. 78 Die<br />
optimistische Beurteilung der Einnahmesituation der Hochschulen aus<br />
Inanspruchnahme und Verwertung von Diensterfindungen wird in der<br />
Rechtswissenschaft ganz überwiegend kritisch bewertet. 79 Hierzu bildet<br />
die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ein deutliches Gegengewicht,<br />
zumal hier unbekanntes Terrain betreten worden ist. Es ist in diesem<br />
Zusammenhang auf eine mögliche Dichotomie zwischen dem angestrebten<br />
Gesetzeszweck und der tatsächlichen Einnahmesituation hinzuweisen.<br />
Zwar ist in Anbetracht der wohl noch bestehenden Neuartigkeit<br />
des § 42 ArbEG der insoweit eindeutigen Entstehungsgeschichte „erhebliches<br />
Gewicht“ beizumessen, die Regelung darf letztlich aber den „Vorstellungen<br />
und Erwartungen […], die in verschiedenen Äußerungen<br />
während des Gesetzgebungsverfahrens zum Ausdruck gekommen sind“,<br />
nicht (auch nicht „in Teilen“) zuwiderlaufen. 80 Das Bundesverfassungsgericht<br />
ist sehr wohl dazu bereit, Anspruch und Wirklichkeit einer gesetzlichen<br />
Neuregelung zu überprüfen. Dies gilt umso mehr, je länger Beeinträchtigungen<br />
der positiven Publikationsfreiheit auf Kosten eines (angeblichen)<br />
Verwertungsinteresses hingenommen werden müssen. Daher<br />
kommt es durchaus in Betracht, die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers<br />
im Hinblick auf die zu erwartende Einnahmesituation kritisch<br />
zu betrachten.<br />
Bei aller Wertschätzung für den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers<br />
erscheint es nach Einschätzung von Post und Kuschka „äußerst zweifelhaft,<br />
ob die Patentinfrastruktur an den deutschen Hochschulen bereits<br />
in der Lage ist, den mit Sicherheit entstehenden Mehraufwand an Beratungs-<br />
und Informationsaktivität sowie an Verwaltungs- und Verwertungsaktivität<br />
zu bewältigen“. 81 Insbesondere sei zu beachten, dass die<br />
Hochschulen „an die haushaltsrechtliche Verpflichtung zu wirtschaftlichem<br />
und sparsamen Handeln (vgl. § 6 I, II HGrG, § 7 BHO, §§ 7, 90 Nr. 3<br />
NWHO)“, aber gleichzeitig auch an einer Verwertungspflicht aufgrund<br />
der Fürsorgepflicht gebunden sind. Hieraus folge, dass die Hochschulen<br />
78 BT-Drs. 14/5975, S. 3.<br />
79 Vgl. zu den möglicherweise beträchtlichen Auswirkungen des § 42 Nr. 4 ArbEG<br />
auf die öffentlichen Haushalte, K. Bartenbach/O. Hellebrand, MittdtPatAnw 2004,<br />
165, 169 f.; hierzu auch den Beitrag von St. Post/M. Kuschka, GRUR 2003, 494 ff.<br />
80 M. Sachs, DVBl. 1984, 73, 76.<br />
81 St. Post/M. Kuschka, GRUR 2003, 494.
226 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
(nur dann) zur wirtschaftlichen Verwertung verpflichtet sind, wenn dies<br />
wirtschaftlich sinnvoll erscheine. 82 Ebenso skeptisch wurde die Gegenfinanzierung<br />
des Schutzrechts- und Verwertungswesens an den Hochschulen<br />
von Bartenbach und Hellebrand bewertet. Sie stellen fest, dass gemäß<br />
§ 42 Nr. 4 ArbEG 30 Prozent der Verwertungseinnahmen als Vergütung<br />
ausgekehrt werden müssten, ohne Rücksicht darauf, ob Entwicklungskosten<br />
oder Schutzrechtskosten bereits eingespielt sind. 83 Hinzu müssten<br />
weitere Kosten „für die Schutzrechtserwirkung, die Schutzrechtsorientierung<br />
und gegebenenfalls auch für die Schutzrechtsverteidigung“ addiert<br />
werden. Alleine für die Schutzrechtsanmeldung handele es sich um Kosten<br />
im mindestens fünfstelligen Bereich, im Verteidigungsfalle könne ein<br />
sechsstelliger Eurobetrag für Gerichts- und Anwaltskosten leicht überschritten<br />
werden. 84<br />
Diese Einschätzungen liegen nun bereits mehrere Jahre zurück und es<br />
wäre interessant zu erfahren, ob zwischenzeitlich Überschüsse erzielt<br />
werden können. 85<br />
b. Art. 33 V GG: Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums<br />
Schließlich wird erwogen, grundrechtsbegrenzende Inhalte gegenüber der<br />
Publikationsfreiheit des Hochschulwissenschaftlers aus den hergebrachten<br />
Grundsätzen des Berufsbeamtentums gemäß Art. 33 V GG abzuleiten.<br />
Bereits die persönliche Reichweite der Begrenzungsregelung ist auf Berufsbeamte<br />
beschränkt. 86 Auf die Beschäftigungsverhältnisse der Angestellten<br />
findet Art. 33 V GG keine Anwendung. Demgegenüber ist § 42<br />
Nr. 1 i.V.m. § 24 II ArbEG auf alle Wissenschaftler anwendbar, die im Rahmen<br />
ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit publizieren möchten, und geht<br />
daher über die Begrenzungsreichweite des Art. 33 V GG hinaus. Aus mangelnder<br />
Kongruenz ist es daher schon gewagt, hierin eine Begrenzungsregelung<br />
erkennen zu wollen.<br />
Bei Art. 33 V GG handelt es sich um eine Begrenzungsregelung zu<br />
Art. 12 I 2 GG, um die Erfüllung staatlicher Befugnisse zu sichern. 87 Es ist<br />
82 St. Post/M. Kuschka, GRUR 2003, 494, 498.<br />
83 K. Bartenbach/O. Hellebrand, MittdtPatAnw 2004, 165, 169, berechnen, dass<br />
– ohne Berücksichtigung der laufenden Kosten der Hochschulen für Personal und die<br />
Entwicklung – die Verwertungserlöse das 1,43–fache der Schutzrechtskosten betragen<br />
müssen; s. auch St. Post/M. Kuschka, GRUR 2003, 494.<br />
84 Dazu im einzelnen K. Bartenbach/O. Hellebrand, MittdtPatAnw 2004, 165,<br />
170.<br />
85<br />
Insoweit auch kritisch, Haase/Lautenschläger, WissR 39 (2006), S. 137 (153).<br />
86<br />
M. Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 33 Abs. 5 Rdn. 42.<br />
87<br />
R. Heß, Grundrechtskonkurrenzen (2000), S. 240; ebenso für Art. 33 IV GG.
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
227<br />
deshalb fraglich, ob auf der Grundlage der hergebrachten Grundsätze des<br />
Berufsbeamtentums auch Einschränkung der positiven Publikationsfreiheit<br />
gerechtfertigt werden können. Dieser Auffassung ist offenbar Beyerlein,<br />
der resümiert, dass der beamtete Hochschullehrer dienstlich Erfahrenes<br />
grundsätzlich für sich behalten muss. Hierzu gehöre auch die dienstlich<br />
gemachte Erfindung, da diese mittels technischer und personeller<br />
Ausstattung der Hochschule und während der Arbeitszeit des Erfinders<br />
entstanden sei. 88 Zutreffend hat aber bereits Hübner bemerkt, dass die<br />
Wissenschaftsfreiheit nicht mit „zweckmäßigkeitsgesteuerten staatlichen<br />
Geheimhaltungsinteressen“ abgewogen werden kann.<br />
Es ist in der Tat zweifelhaft, ob wissenschaftliche Erfindungen und Erkenntnisse<br />
im Einzelfall Dienstgeheimnisse sein könnten. 89 So enthielt<br />
etwa § 6 des Hessischen Universitätsgesetzes in der Fassung des Änderungsgesetzes<br />
von 1974 (HUG [1974]) eine Verpflichtung der an Forschung<br />
und Lehre beteiligten Mitglieder und Angehörigen der Hochschule (allerdings<br />
in der Formulierung einer Soll-Vorschrift), bei Bekanntwerden von<br />
Forschungsergebnissen, die bei verantwortungsloser Verwendung erhebliche<br />
Gefahr für die Gesundheit, das Leben oder das friedliche Zusammenleben<br />
der Menschen herbeiführen können, die Universität entsprechend zu<br />
informieren. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung unter<br />
anderem deshalb für verfassungsmäßig erachtet, weil die zu schützenden<br />
Rechtswerte, um derentwillen die Informationsverpflichtung besteht, unmittelbar<br />
in grundrechtsbegrenzenden Verfassungsbestimmungen verankert<br />
sind. 90 Die vorübergehende Geheimhaltungsverpflichtung betrifft gerade<br />
den umgekehrten Fall der Verschwiegenheit und soll nach dem ausdrücklichen<br />
Willen des Gesetzgebers lediglich die Schutzrechtssicherung<br />
der Hochschule bewirken. Anders als bei der Informationsverpflichtung<br />
nach § 6 HUG [1974] ist der Geheimhaltungsverpflichtung nach § 42 Nr. 1<br />
i.V.m. § 24 II ArbEG kein „verfassungsrechtliches Schwellengewicht“ entgegenzusetzen.<br />
Sollte etwa aus ähnlich verfassungsrechtlich erheblichen<br />
Gründen wie bei der Informationsverpflichtung gemäß § 6 HUG [1974] ein<br />
besonderes Geheimhaltungsbedürfnis bestehen, so wäre die nur vorübergehende<br />
Geheimhaltungsverpflichtung im Übrigen auch untauglich, um<br />
die verfassungsrechtlich erheblichen Rechtsgüter wirksam gegen Publizität<br />
zu schützen. Ungeachtet der von Hübner bereits geäußerten Bedenken ist<br />
es auch deshalb abzulehnen, Art. 33 V GG als grundrechtsbegrenzende<br />
88 So Th. Beyerlein, MittdtPatAnw 2004, 74, 75 f.; dagegen zutreffend J. Hübner,<br />
WissR 38 (2005), S. 34, 48 f.<br />
89 In diesem Sinne auch F. Steinfort, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der<br />
Veröffentlichungsfreiheit des Wissenschaftlers (1987), S. 171 ff., 173 f.<br />
90<br />
BVerfGE 47, 327, 381 f.
228 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
Grundlage für die Geheimhaltungsverpflichtung nach § 42 Nr. 1 i.V.m. § 24<br />
II ArbEG heranzuziehen.<br />
Überdies entbehrt die Behauptung, die Geheimhaltungsverpflichtung<br />
des Hochschulwissenschaftlers sei ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums,<br />
jeglicher Grundlage. Bei diesen handelt es sich um Prinzipien,<br />
die für die Institution des Berufsbeamtentums prägend sind. Zum<br />
anderen beschränkt sich die Gewährleistung des Art. 33 V GG auf die Bewahrung<br />
des Tradierten. 91 Mindestens unter der Weimarer Reichsverfassung<br />
müssen die Grundsätze bereits als verbindlich anerkannt und gewahrt<br />
worden sein. 92 Die historische Untersuchung der Wissenschaftsfreiheit<br />
der Hochschullehrer 93 hat insoweit ergeben, dass Art. 142 WRV<br />
als maßgebliche historische Grundlage des beamtenrechtlichen Grundsatzes<br />
gerade die Freiheit der Publikation sichern und nicht verhindern sollte.<br />
Dasselbe galt im Grundsatz bereits unter Art. 20 der Preußischen Verfassungsurkunde<br />
von 1850 für die preußischen Landesteile. Gerade in der<br />
„gesteigerten“ Freiheit der wissenschaftlichen Publikationen haben sich<br />
die Hochschullehrer von den übrigen Beamten unterschieden, die sich im<br />
besonderen Gewaltverhältnis nicht auf die Meinungsfreiheit des Art. 118<br />
WRV berufen konnten. Der hergebrachte Grundsatz des Berufsbeamtentums<br />
beinhaltet im Bereich der akademischen Wissenschaftsfreiheit die<br />
Aussage: Die Publikationsfreiheit des Hochschullehrers bleibt durch das<br />
Beamtenverhältnis unberührt.<br />
c. Förderung des Wissens- und Technologietransfers<br />
als Gemeinwohlbelang von Verfassungsrang?<br />
Der Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE<br />
GRÜNEN vom 9.5.2001, der die Grundlage des späteren Regierungsentwurfes<br />
bildete, erhebt die Förderung des Wissens- und Technologietransfers<br />
gemäß § 2 VII HRG zu einem weiteren Anliegen der Reform. 94 Freilich<br />
müsste es sich bei der Förderung des Wissens- und Technologietransfers<br />
auch wiederum um ein Rechtsgut von Verfassungsrang handeln. Die Anlehnung<br />
Beyerleins an eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts in<br />
91 M. Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II (4. Aufl. 2000), Art. 33 Abs. 5<br />
Rdn. 44.<br />
92<br />
BVerfGE 58, 68, 76 f.; 46, 97, 117; auch BVerfGE 67, 1, 12.<br />
93<br />
Vgl. (nur) A. Reetz, Erfindungen an Hochschulen (2006), S. 43 ff. (für die preußischen<br />
Gebiete), S. 77 ff. (für das Reich in der Weimarer Republik).<br />
94<br />
So nur der Gesetzentwurf (nicht RegE [BR-Drs. 583/01 vom 17.8.2001]) der<br />
Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 9.5.2001, zu A., BT-Drs.<br />
14/5975, S. 2; fast wortgleich die Beschlussempfehlung und der Bericht des Rechtsausschusses<br />
im Dt. Bundestag vom 26.11.2001, BT-Drs. 14/7573, S. 2.
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
229<br />
dem sog. Hochschulurteil, dass die Wissenschaftsfreiheit anerkanntermaßen<br />
durch „andere legitime Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen“ begrenzt<br />
werden könne, 95 ist daher im Kontext der Grundrechtsbegrenzungsdogmatik<br />
unvollständig. 96 Hiernach kommt der Wissenschaftsfreiheit gegenüber<br />
„solchen mit ihr kollidierenden, gleichfalls verfassungsrechtlich geschützten<br />
Prinzipien nicht schlechthin Vorrang zu“ 97 . Es ist unter keinem<br />
Gesichtspunkt ersichtlich, warum es sich bei der Förderung des Wissens-<br />
und Technologietransfers zum Zwecke der gewerblichen Verwertung gerade<br />
um eine Aufgabe handelt, die den Hochschulen von Verfassung wegen<br />
obliegt.<br />
Nur ganz vereinzelt wird in der Rechtslehre angedeutet, dass sich aus<br />
der Kompetenznorm des Art. 73 Nr. 9 GG, welche mit dem Anliegen des<br />
Technologietransfers sachlich wohl am engsten verbunden ist, 98 ein grundrechtsbegrenzender<br />
Gehalt für die positive Publikationsfreiheit des Wissenschaftlers<br />
entnehmen ließe. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren<br />
Entscheidungen 99 auch den Kompetenztiteln des Grundgesetzes<br />
eine grundrechtsbegrenzende Aussage entnommen: Bereits in seiner ersten<br />
dazu getroffenen Entscheidung, in der es Art. 4 III 2 GG als untaugliche<br />
Regelung zur Begrenzung der Gewissensfreiheit eines Kriegsdienstverweigerers<br />
angesehen hat, stützte es Einschränkungen der Gewissensfreiheit<br />
auf bundesstaatliche Kompetenztitel. 100 Später stieß es nicht nur<br />
im Schrifttum, 101 sondern auch in den eigenen Reihen 102 auf Widerspruch.<br />
Aus der kompetentiellen Zuordnung des gesetzgeberischen Regelungsbedarfs<br />
alleine kann eine Befugnis auch zu Grundrechtseinschränkungen<br />
nicht abgeleitet werden; 103 denn insofern handelt es sich bei den Kompe-<br />
95 So Th. Beyerlein, MittdtPatAnw 2004, 74, 75, unter Nennung von Chr. Kannengießer,<br />
in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG (9. Aufl.), Art. 5 Rdn. 17; der Rückgriff auf<br />
BVerfGE 93, 85, 95; 35, 79, 115 unterschlägt, dass auch die legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen<br />
verfassungsrechtlich qualifiziert sein müssen, da diese im<br />
gleichgeordneten Zusammenhang mit den „Grundrechte(n) der verschiedenen Beteiligten“<br />
genannt werden, vgl. BVerfGE 35, 79, 115; bei BVerfGE 93, 85, 95, ging es um<br />
die Funktion der Hochschulen als „Ausbildungsstätten“, welche die Hochschulen neben<br />
der Wissenschaft zu erfüllen haben. Dies wird aber auch bei Chr. Kannengießer,<br />
aaO., ganz klar deutlich.<br />
96 Kritisch auch J. Hübner, WissR 38 (2005), S. 34, 45.<br />
97 BVerfGE 57, 70, 99; 47, 327, 368 f.<br />
98 J. Hübner, WissR 38 (2005), S. 34, 46.<br />
99 So vor allem in BVerfGE 28, 243, 261; 69, 1, 21 f.<br />
100 BVerfGE 28, 243, 261; dort u.a. auf Art. 73 Nr. 1, 87a GG.<br />
101 Zu den Nachweisen im Schrifttum vgl. etwa M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht<br />
III/2 (1994), S. 582 FN 439.<br />
102 Vgl. etwa die abweichenden Meinungen der Richter Mahrenholz und Böcken-<br />
förde, BVerfGE 69, 1, 57 ff.<br />
103 So in grundlegender Auseinandersetzung mit dem eben zitierten Sondervotum
230 Alexander Reetz<br />
WissR<br />
tenztiteln lediglich um die Zuweisung von gesetzgeberischen Regelungskompetenzen<br />
in der bundesstaatlichen Ordnung. 104 Die Art. 73 ff. GG<br />
enthalten Kompetenzbestimmungen, die in ihrer Wertigkeit nicht als äquivalent<br />
anzusehen sind 105 und zudem auch ganz unterschiedliche Bereiche<br />
des täglichen Lebens abdecken. Dass diese höchst unterschiedlichen, teils<br />
historisch gewachsenen Regelungsgegenstände, zur Begrenzung vorbehaltloser<br />
Grundrechte herangezogen werden könnten, würde die Sorgfalt,<br />
die in Anbetracht der Unterstellung eines ausdifferenzierten Schrankensystems<br />
üblicherweise bei der Auslegung von einfachen und qualifizierten<br />
Gesetzesvorbehalten geübt wird, als obsolet erscheinen lassen. Aus diesem<br />
Grunde ist, wie bei allen Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes,<br />
auch im Hinblick auf die Kompetenzverteilungsregel des Art. 73 Nr. 9 GG<br />
eine grundrechtsbegrenzende Wirksamkeit gegenüber allen Grundrechten,<br />
und mithin auch der positiven Publikationsfreiheit des Art. 5 III 1<br />
GG, grundsätzlich abzulehnen. 106<br />
4. Echte Grundrechtskollisionslagen<br />
Dass § 42 Nr. 1 i.V.m. § 24 II ArbEG Ausdruck gesetzgeberischer Konfliktauflösungsbemühungen<br />
ist, wird jedenfalls für die Situation gegenläufiger<br />
Publikations- und Geheimhaltungsinteressen eindeutig verneint. 107 Dies<br />
konzediert der Gesetzgeber selbst. 108 Dies gilt umso mehr, als sich in § 42<br />
ArbEG keine Regelung findet, die es erlauben würde, mit Rücksicht auf<br />
die negative Publikationsfreiheit anderer Grundrechtsträger die Veröffentlichung<br />
von Forschungsergebnissen durch veröffentlichungswillige<br />
Hochschulwissenschaftler endgültig zu verbieten; denn die Geheimhaltungsverpflichtung<br />
des § 42 Nr. 1 ArbEG besteht nur für einen relativ kurzen<br />
Zeitraum. Hiernach würde sich die positive Publikationsfreiheit gegenüber<br />
einem Geheimhaltungsinteresse letztlich immer durchsetzen, obwohl<br />
die Hochschulen gegenüber beiden Interessen gleichermaßen<br />
grundrechtsverpflichtet sind. Warum sich die positive gegenüber der negativen<br />
Freiheit immer durchsetzen soll, ist nicht erkennbar. Ebensowenig<br />
sowie dem Schrifttum, welches sich für eine generelle Annahme grundrechtsbegrenzender<br />
Gehalte der Kompetenztitel ausspricht, M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2<br />
(1994), S. 582 ff.<br />
104<br />
Epping/Lenz/Leydecker, Grundrechte (2004), Rdn. 75.<br />
105<br />
Epping/Lenz/Leydecker, Grundrechte (2004), Rdn. 75.<br />
106 So auch im Ergebnis F. Fechner, Geistiges Eigentum und Verfassung (1999),<br />
S. 61.<br />
107<br />
Th. Hoeren, WissR 38 (2005), S. 132, 138.<br />
108<br />
Vgl. den entsprechenden Hinweis in der Beschlussempfehlung und dem Bericht<br />
des Rechtsausschusses, BT-Drs. 14/7573, S. 7.
41 (2008) Die Regelung des § 42 Nr. 1 ArbEG<br />
231<br />
erkennbar ist es, wie der parlamentarische Gesetzgeber diese Kollisionslagen<br />
abstrakt-generell auflösen sollte. 109 An dieser Stelle ist lediglich festzustellen,<br />
dass sich die rechtlich kaum zu bewältigende Pattsituation in den<br />
meisten Fällen als ein Scheinproblem entlarvt. Es ist kaum wahrscheinlich,<br />
dass mehreren Hochschulwissenschaftlern eine gleichzeitige und gleichrangige<br />
Verantwortung zur eigenständigen Durchführung desselben Forschungsvorhabens<br />
übertragen ist, ohne zugleich Verantwortungsbereiche<br />
klar abzugrenzen.<br />
III. Fazit<br />
Der Bundesgerichtshof hat sich weit in den Bereich des Hochschulpolitischen<br />
vorgewagt und die Chance nicht genutzt, die Neuregelung des § 42<br />
Nr. 1 ArbEG einer umfassenden verfassungsrechtlichen Überprüfung<br />
durch das Bundesverfassungsgericht zu unterziehen. Die Gültigkeit des<br />
§ 42 Nr. 1 ArbEG war für das Revisionsurteil alleine entscheidungserheblich,<br />
so dass sich die Option eines (erneuten 110 ) Vorlagebeschlusses hätte<br />
aufdrängen müssen.<br />
Summary<br />
This article discusses the recent findings of the German Federal Court of Justice on the<br />
constitutionality of Section 42 of the German Employee Invention Code (“Arbeitnehmererfindungsgesetz”)<br />
in its decision “Selbststabilisierendes Kniegelenk”. This author<br />
disagrees with the Court’s opinion that Section 42 recognizes the academic freedom<br />
protected under Article 5(3) of the German Constitution (“Grundgesetz”). Moreover,<br />
it is the author’s analysis that neither Article 5(3) nor any other provision of the German<br />
Constitution permit public universities to restrain the academic freedom of their employed<br />
scientists for the sole purpose of obtaining the right to patent and exploit their<br />
inventions. This author believes that Section 42 of the Employee Invention Code, in effect,<br />
infringes an individual’s academic freedom to disclose inventions to the scientific<br />
community freely and without being subject to any further obligations.<br />
109 Zu einem entsprechenden Handlungsauftrag, vgl. etwa BVerfGE 83, 130, 142.<br />
110 Zu einem solchen führte bereits der Rechtsstreit in der ersten Instanz. Dort<br />
wurde der Vorlageentschluss als unzulässig zurückgewiesen, da angeblich keine Entscheidungserheblichkeit<br />
bestanden hatte, vgl. Vgl. BVerfG (K), 1 BvL 7/03 vom<br />
12.03.2004, NVwZ 2004, 974.
232 Mario Martini<br />
WissR<br />
Mario Martini*<br />
Akkreditierung im Hochschulrecht – Institutionelle<br />
Akkreditierung, Programmakkreditierung,<br />
Prozessakkreditierung<br />
„Qualität ist das beste Rezept“. Mit diesem Slogan umwirbt nicht nur Dr.<br />
Oetker die backende Hausfrau. Die Losung ließe sich auch dem neuen<br />
Hochschulrecht als Leitmotiv überschreiben. Qualitätssicherung ist Teil<br />
eines neuen hochschulpolitischen Paradigmas. Hieß es früher noch, in Sachen<br />
Reformen seien die Hochschulen Friedhöfen gleich – an beiden Orten<br />
ließen Reformen die davon Betroffenen kalt –, zeichnet sich an deutschen<br />
Hochschulen in den vergangenen Jahren ein beispielloser Wandlungsprozess<br />
ab. Selten vollzogen sich so viele Veränderungen in der<br />
Hochschullandschaft – von der Juniorprofessur über die Stiftungsuniversität<br />
bis zur Exzellenz-Initiative – wie in den vergangenen Jahren. Die<br />
Qualitätssicherung ist eines ihrer jungen Kinder. Die Hochschulgesetze<br />
nehmen die Forderung nach Qualitätssicherung unisono in ihr legislatives<br />
Handlungsbesteck auf. „Die Arbeit der Hochschulen in Forschung und<br />
Lehre soll regelmäßig bewertet werden“, heißt es etwa in § 6 HRG 1 .<br />
Ihren Rückenwind und ihre politische Schwerkraft bezieht die Forderung,<br />
systematisch Instrumente zur hochschulübergreifenden Qualitätssicherung<br />
einzuführen, aus dem Bologna-Prozess 2 : Die Bildungsminister<br />
der wichtigsten europäischen Staaten haben sich auf das Ziel verständigt,<br />
die Vision eines gemeinsamen Bildungsraumes Europa zu verwirklichen,<br />
in dem sich die Studierenden möglichst frei von nationalen Hindernissen<br />
bewegen können. Es soll bis 2010 ein System leicht verständlicher und vergleichbarer<br />
Abschlüsse geschaffen werden: ein erster berufsqualifizierender<br />
Bachelor-Grad und ein Master-Grad. Die Gleichwertigkeit von Stu-<br />
* Mario Martini ist Privatdozent an der Bucerius Law School, Hamburg. Z. Zt.<br />
vertritt er den Lehrstuhl für Verwaltungswissenschaft, insbesondere Regieren und<br />
Verwalten im europäischen Kontext (Prof. Dr. Dr. h.c. Siedentopf), an der Deutschen<br />
Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.<br />
1 Ähnlich § 7 Abs. 1 S. 1 bbg. HochschulG (sub specie der Lehre); § 5 Abs. 1 S. 1 bw.<br />
HochschulG; § 92 Abs. 2 hess. HochschulG; § 33 S. 1 HochschulG M-V; § 5 Abs. 1 nds.<br />
HochschulG; § 5 S. 1 rp. HochschulG; § 5 Abs. 1 saarl. UnivG; § 5 Abs. 1 s-h. HochschulG;<br />
§ 7 Abs. 1 Hochschulgesetz LSA; § 8 Abs. 1 thür. HochschulG.<br />
2 Vgl. zum Bologna-Prozess die Erklärung der europäischen Bildungsminister vom<br />
19.6.1999, abrufbar unter www.bologna-berlin2003.de (11.3.2008); v. Wulffen/Schlegel,<br />
NVwZ 2005, S. 890 ff.<br />
Wissenschaftsrecht Bd. 41 (2008) S. 232–252<br />
© Mohr Siebeck – ISSN 0948-0218
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
233<br />
dien leistungen soll dabei durch ein europaweit anwendbares Leistungspunktesystem,<br />
die sog. ECTS-Punkte, gewährleistet – und durch die<br />
Akkreditierung der Studiengänge und ihrer Abschlüsse gesichert werden.<br />
Bund und Länder nehmen die Forderungen des Bologna-Prozesses<br />
nach Akkreditierung ernst: Sie verstehen sie als zentralen Baustein eines<br />
hochschulübergreifenden Qualitätssicherungssystems in einer europäischen<br />
Architektur von Lehre und Studium. So heißt es etwa in § 7 des<br />
nordrhein-westfälischen Hochschulgesetzes: „Die Studiengänge sind nach<br />
den geltenden Regelungen zu akkreditieren und zu reakkreditieren. Die<br />
Aufnahme des Studienbetriebs setzt den erfolgreichen Abschluss der Akkreditierung<br />
voraus; die aus dem Akkreditierungsverfahren resultierenden<br />
Auflagen sind umzusetzen“.<br />
Akkreditierung, von „accredere“: Glauben schenken, beschreibt dabei<br />
allgemein die Durchführung eines Verfahrens, das darauf gerichtet ist, herauszufinden,<br />
ob ein Angebot bestimmten Qualitätsansprüchen genügt 3 .<br />
Die Akkreditierung fällt eine Entscheidung über die Erfüllung der Mindestvoraussetzungen<br />
eines Hochschulangebots. Ihr Ziel ist es, in einem objektiven,<br />
transparenten und validen Prozess Verfahrenssicherheit und internationale<br />
wie nationale Anerkennung der Abschlüsse zu gewährleisten.<br />
Der Beitrag spürt der ökonomischen Logik der Akkreditierung nach<br />
(unten I.), ordnet sie als Phänomen in den Kontext neuerer vergleichba-<br />
3 Der Begriff findet dabei sowohl auf den Vorgang der Qualitätsprüfung eines zuzulassenden<br />
Produkts bzw. einer zuzulassenden Dienstleistung als auch auf die Auswahl<br />
der Prüfstelle selbst, die die Produkt- bzw. Dienstleistungsqualität prüfen darf,<br />
Anwendung. Da diese Inhaltsdopplung Verwechslungen und Missverständnisse provoziert,<br />
wäre es im Interesse terminologischer Klarheit ratsam, zwischen der „Zertifizierung“<br />
von Produkten und Dienstleistungen und der „Akkreditierung“ von Prüfstellen<br />
zu differenzieren. Im Bereich der Hochschulakkreditierung hat sich diese Unterscheidung<br />
– anders als in anderen Sachbereichen – jedoch de lege lata (noch) nicht<br />
durchgesetzt. Die Hochschulgesetze sprechen einheitlich von „Akkreditierung“. Dieser<br />
gesetzlichen Nomenklatur leistet der Beitrag Folge. Vgl. zum Begriff der Akkreditierung<br />
Erichsen, Grundlagen, Zielsetzungen, gegenwärtiger Stand und Zukunft des<br />
Akkreditierungswesens in Deutschland, in: Benz/Kohler/Landfried (Hrsg.), Handbuch<br />
Qualität in Studium und Lehre (Loseblatt; Stand: Okt. 2006), F. 1.1, S. 5; Fehling,<br />
Hochschule, in: ders./J.P Schneider/Voßkuhle, Handbuch des Regulierungsrechts,<br />
2008 Rdnr. 39 ff. (im Erscheinen); Künzel, Akkreditierung und Qualitätsmanagement,<br />
in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Qualität durch Akkreditierung, 2005, S. 51<br />
(52); Schade, RdJB 2000, S. 389 ff.; Markert/Konschak, Qualität der Lehre durch<br />
Akkre ditierung von Studiengängen, in: Anderbrügge/Epping/Löwer, Festschrift für<br />
Dieter Lenze zum 70. Geburtstag, 2003, S. 401 ff.; allgemein zu Akkreditierungen<br />
Bieback, Zertifizierung und Akkreditierung, 2008; Bretschneider (Hrsg.), Handbuch<br />
Akkreditierung von Studiengängen, 2. Aufl. 2007; Pünder, Zertifizierung und Akkreditierung,<br />
ZHR 170 (2006), S. 567 ff.; Voßkuhle, Strukturen und Bauformen neuer Verwaltungsverfahren,<br />
in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren<br />
und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 277 (318 ff.)
234 Mario Martini<br />
WissR<br />
rer Entwicklungen sowie verwaltungswissenschaftlicher Steuerungskonzepte<br />
ein (unten II.) und schlüsselt ihre Erscheinungsformen und Konzeptionen<br />
auf (unten III.), um anschließend ihre verfassungsrechtlichen Anforderungen<br />
und Grenzen abzustecken (unten IV.). Ein Blick auf die<br />
aktuellen Entwicklungen zur Systemakkreditierung schließt die Überlegungen<br />
ab (unten V.).<br />
I. Ökonomische Ratio und Genese der Akkreditierung<br />
im Hochschulrecht<br />
Die Bemühungen um Qualitätssicherung im Hochschulrecht sind nicht<br />
allein hochschuleigener Nabelschau geschuldet. Sie wollen auch einem<br />
ökonomischen Sachverhalt Rechnung tragen. Ökonomisch ausgedrückt,<br />
zeichnen sich Bildungsangebote in besonderem Maße durch eine Nachfragerunsicherheit<br />
aus: Der Studienanfänger investiert in ein Leistungsversprechen<br />
des Anbieters – in ein Vertrauensgut, dessen Angebotsqualität er<br />
ex ante nicht beurteilen kann, das für seine persönliche und berufliche Zukunft<br />
aber einschneidende Bedeutung hat.<br />
Die Unsicherheit der Qualitätsbeurteilung erschwert nicht nur die Auswahlentscheidung.<br />
Sie kann auch eine Gefahr für die Qualität der angebotenen<br />
Leistungen insgesamt mit sich bringen. Sie vermag eine unerwünschte<br />
Abwärtsspirale der Qualität der auf dem Bildungsmarkt angebotenen<br />
Leistungen zu induzieren. Das hat der Ökonom Akerlof für<br />
Sachgüter mit Hilfe seines Zitronenprinzips an dem einfachen Beispiel des<br />
Gebrauchtwagenmarktes gezeigt 4 :<br />
Der Nachfrager eines gebrauchten PKW kann vor Vertragsabschluss<br />
die Qualität des Wagens und die Angemessenheit des Preises in der Regel<br />
nicht vollständig beurteilen. Er orientiert sich in seiner Zahlungsbereitschaft<br />
daher – so Akerlof – an der durchschnittlich vorhandenen Qualität.<br />
Auch gute Wagen erlösen dann nur den durchschnittlichen, nicht aber den<br />
an sich angemessenen überdurchschnittlichen Preis; bei schlechten Wagen<br />
verhält es sich umgekehrt: Sie erzielen trotz unterdurchschnittlicher Qualität<br />
einen durchschnittlichen Preis. Das begründet für die Anbieter von<br />
Gebrauchtwagen einen starken Anreiz, Produkte vorzugsweise minderer<br />
Qualität auf dem Markt anzubieten. Es kommt zu einer adversen Selektion:<br />
Die guten Produkte werden durch die schlechten Produkte (die<br />
4 Akerlof, Quarterly Journal of Economics 84 (1970), S. 488 ff. Akerlof legt damit<br />
den Grundstein für die sog. Informationsökonomik. Für seine Leistungen erhielt er im<br />
Jahre 2001 zusammen mit Michael Spence und Joseph Stiglitz den Wirtschaftsnobelpreis.
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
235<br />
„lemons“, wie Akerlof die schlechten Wagen nennt) verdrängt. Gute Produkte<br />
verschwinden vom Markt. Die Qualitätsunsicherheit, unter der die<br />
Akteure am Gebrauchtwagenmarkt ihre Entscheidungen treffen, führt<br />
dazu, dass die Qualität angebotener Waren und Leistungen kontinuierlich<br />
sinkt, wenn keine Korrekturmechanismen wirksam werden (sog. Zitronenprinzip).<br />
Akerlofs Zitronenprinzip gilt praeter propter auch für das Bildungsangebot<br />
von Hochschulen: Die Qualitätsunsicherheit in einem größer und<br />
damit intransparenter werdenden Hochschulmarkt kann dazu führen,<br />
dass die hochschulpolitisch erwünschte Qualität angebotener Leistungen<br />
insgesamt leidet und in eine Abwärtsspirale gerät. Diese Erkenntnis der<br />
Institutionenökonomik bildet – unausgesprochen – auch die Geburtsstunde<br />
der Akkreditierung in den USA 5 . Dort hatten in der Mitte des<br />
19. Jahrhunderts demographische Entwicklungen, ökonomisches Wachstum<br />
und technologische Dynamik eine starke Expansion der Bildungsträger<br />
hervorgebracht, der keine staatliche Kontrolle der Angebotsqualität<br />
korrespondierte. Die Breite und Intransparenz der Qualität von Abschlüssen<br />
und Bildungsangeboten führte zu einer deutlichen Absenkung akademischer<br />
Standards. Eine Kommerzialisierung von Teilen des Hochschulsystems<br />
und eine Praxis der Käuflichkeit von Abschlusszertifikaten hielten<br />
Einzug. Die Hochschulbildung drohte in einen Abwärtsstrudel zu<br />
geraten.<br />
Dem sollte die Akkreditierung entgegenwirken. Es bildeten sich Vereinigungen<br />
von Hochschulangehörigen heraus, die sich die freiwillige,<br />
nicht-staatliche, selbstregulierende Evaluation von Bildungsangeboten auf<br />
die Fahnen schrieben. Ziel war die Gewährleistung angemessener Ausbildungsstandards.<br />
Die New England Association of Schools and Colleges<br />
machte im Jahre 1885 den Anfang. Das Vertrauenskapital, das die Einrichtungen<br />
genossen, sollte eine Qualitätsbeurteilung ermöglichen. Die Akkreditierung<br />
sollte jenes Maß an Transparenz herstellen, das für die regulierende<br />
Funktion des Marktes erforderlich ist.<br />
Das Konzept ging im Grundsatz auf. Die Akkreditierungen übernahmen<br />
die Funktion von Surrogatinformationen, welche anstelle direkt beobachtbarer<br />
Leistungseigenschaften zur Qualitätsbeurteilung herangezogen<br />
werden können. Als solche erlaubten die von ihnen ausgesandten Vertrauenssignale<br />
einen Rückschluss auf die signalisierte Eigenschaft, nämlich<br />
die durch den Interessenten nicht beurteilbare Qualität.<br />
5 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung der Akkreditierung etwa Rau, WissR 1986,<br />
S. 60 ff.; Erichsen (Fn. 3), S. 4 f.
236 Mario Martini<br />
WissR<br />
Durch das Konzept der Akkreditierung soll den Hochschulen, Studierenden<br />
und Arbeitgebern eine verlässliche Orientierung bei der Beurteilung<br />
der Qualität von Studienprogrammen ermöglicht werden, zugleich<br />
aber die Vielfalt der Angebote im internationalen Wettbewerb erhalten<br />
bleiben. Sie steht im Dienst des Anliegens des § 9 Abs. 2 HRG, für die<br />
Gleichwertigkeit einander entsprechender Studien- und Prüfungsleistungen<br />
sowie Studienabschlüsse und die Möglichkeit des Hochschulwechsels<br />
zu sorgen. Ihre Mission lässt sich auf die Formel bringen: Vielfalt ermöglichen,<br />
Qualität sichern und Transparenz schaffen.<br />
II. Akkreditierung als Erscheinungsform des Steuerungskonzepts<br />
„regulierter Selbstregulierung“<br />
Die Akkreditierung ist als ein Surrogat staatlicher Kontrolle konzipiert.<br />
Sie repräsentiert ein Instrument hoheitlich regulierter Selbstregulierung 6 ,<br />
die im Schatten staatlicher Hierarchie operiert. Dort, wo der Staat mit eigenen<br />
Mitteln eine Überprüfung der Qualität von Hochschulangeboten<br />
nicht sicherstellen kann oder will, füllt die Akkreditierung die sonst entstehende<br />
Lücke aus.<br />
Mit ihr sucht der Staat nicht allein dort Entlastungsinteressen Tribut zu<br />
zollen, wo die Aufsichtsverwaltung „unter dem Diktat leerer Kassen wie<br />
Atlas unter dem Gewicht des Himmels stöhnt“ 7 . Er will vor allem dem Umstand<br />
Rechnung tragen, dass der Sachverstand, der für eine staatliche Kontrolle<br />
erforderlich ist, angesichts der wachsenden Zahl von Bildungsanbietern,<br />
der Komplexität der Sachverhalte und der dynamischen Entwicklung<br />
kaum mehr umfassend in Behörden vorgehalten werden kann. Bei einer unübersehbaren<br />
Zahl neuer Bachelor- und Masterstudiengänge ist die staatliche<br />
Kapazitätsgrenze des Wissens- und Beurteilungsvermögens alsbald<br />
erreicht. Das in der scientific community darüber vorhandene Wissen machen<br />
Akkreditierungsprogramme ihrem Grundgedanken nach im Interesse<br />
kooperativer Gemeinwohlverwirklichung durch die Aktivierung selbstregulativer<br />
Beiträge der Rechtsgenossen nutzbar. Der Staat verlagert seine<br />
Überwachungsverantwortung auf den privaten Sektor und beschränkt sich<br />
auf eine begleitende Kontrolle der privaten Kontrolle. Die Akkreditierung<br />
6 Vgl. zu dem Steuerungskonzept regulierter Selbstregulierung insbesondere die<br />
Beiträge aus Anlass des 60. Geburtstags von Wolfgang Hoffmann-Riem, Regulierte<br />
Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, 2001; ferner Di<br />
Fabio, VVDStRL 56 (1997), S. 235 ff.; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff.;<br />
Thoma, Regulierte Selbstregulierung im Ordnungsverwaltungsrecht, 2008.<br />
7 Di Fabio (Fn. 6), S. 235 (239 f.).
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
237<br />
soll damit als funktionales Äquivalent für staatliche Qualitätssicherungsverfahren<br />
eine Nutzung gesellschaftlicher Problemlösungskompetenz und<br />
gesellschaftlichen Innovationspotenzials ermöglichen.<br />
Wurde bislang in Deutschland die Qualitätsverantwortung der Hochschullehre<br />
als ausschließliches Hausgut des Staates behandelt, vollzieht<br />
sich mit ihrem Einzug in das deutsche Hochschulrecht insoweit ein Paradigmenwechsel:<br />
Der Staat bezieht private Dritte in die staatliche Aufgabenwahrnehmung<br />
ein und tauscht seine Erfüllungsverantwortung gegen<br />
private Qualitätskontrolle unter staatlicher Gewährleistungsverantwortung<br />
ein 8 . Er übernimmt die Gewähr dafür, dass private Akteure, die am<br />
Markt gemeinwohlrelevante Dienstleistungen erbringen, dauerhaft speziellen<br />
Qualitätsstandards genügen.<br />
Die Akkreditierung schickt sich im öffentlichen Recht an, einen festen<br />
Platz im Köcher der Handlungsinstrumente einzunehmen. In einem<br />
wachsenden Kreis von Sachmaterien bedient sich der Staat ihrer – vom<br />
Produktsicherheits- und Abfallrecht über das Straßenverkehrsrecht bis<br />
zum Recht der elektronischen Signaturen:<br />
– Nach dem Geräte- und Produktsicherheitsgesetz darf ein Produkt<br />
nur in den Verkehr gebracht werden, wenn seine Konformität mit den<br />
Sicher heitsanforderungen überprüft, bescheinigt und durch das CE-Zeichen<br />
auf dem Produkt zertifiziert wird (§ 4 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 GSPG<br />
i.V.m. §§ 2, 3 GPSGV) 9 . Das Konformitätsbewertungsverfahren führen<br />
private Dienstleistungsunternehmen durch, die als Prüfstelle von der zuständigen<br />
Behörde akkreditiert worden sind.<br />
– Das KrW-/AbfG kennt eine Zertifizierung als Entsorgungsfachbetrieb.<br />
Zertifizierte Entsorgungsfachbetriebe genießen nach § 51 Abs. 1<br />
i.V.m. § 52 Abs. 1 KrW-/AbfG das Privileg, keine Transport- und keine<br />
Vermittlungsgenehmigung für die Verbringung von Abfällen zu benötigen.<br />
Die Zertifizierung kann eine behördlich anerkannte und damit akkreditierte<br />
Entsorgergemeinschaft vornehmen (§ 52 Abs. 3 KrW-/AbfG<br />
i.V.m. §§ 2 ff. Entsorgergemeinschaftsrichtlinie) 10 . Sie kontrolliert die Einhaltung<br />
der Zertifizierungsanforderungen bei ihren Mitgliedern.<br />
8 Vgl. dazu etwa Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 289 ff. und S. 571 ff.; Ritter,<br />
AöR 104 (1979), S. 389 ff.; Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe,<br />
1999, S. 121; Trute, Die Verwaltung 32 (1999), S. 73 (94).<br />
9 Dazu eingehend Pünder (Fn. 3), S. 567 (570); Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung<br />
im Produktsicherheitsrecht, 2000; Voßkuhle (Fn. 3), S. 277 (310 ff).<br />
10 Vgl. dazu Queitsch, in: Giesberts/Reinhardt (Hrsg.), BeckOK KrW-/AbfG, § 52<br />
Rndr. 23 ff. Zur Vereinbarkeit mit dem Europa- und Verfassungsrecht Kersting, in:<br />
Landmann/Rohmer (Hrsg.), Umweltrecht, 51. Aufl. 2007, § 52 KrW-/AbfG Rdnr.<br />
31 ff.
238 Mario Martini<br />
WissR<br />
– Zur Gewährleistung eines gewissen Mindeststandards von elektronischen<br />
Signaturen sieht das Signaturgesetz eine (freiwillige) Zertifizierung<br />
der Signaturverfahren vor, welche die Anbieter entsprechender Dienstleistungen<br />
anwenden. Akkreditierte Zertifizierungsdiensteanbieter erhalten<br />
ein Gütezeichen der zuständigen Behörde, mit dem sie im Rechts- und Geschäftsverkehr<br />
werben dürfen. Es erbringt den Nachweis der umfassend<br />
geprüften technischen und administrativen Sicherheit für die auf ihren<br />
qualifizierten Zertifikaten beruhenden qualifizierten elektronischen Signaturen<br />
(qualifizierte elektronische Signaturen mit Anbieter-Akkreditierung)<br />
– § 15 Abs. 1 S. 2, 3-4 SignG 11 .<br />
– Ein ähnliches System regulierter Selbstregulierung liegt dem Umweltaudit<br />
zugrunde. Es zielt auf die Einführung und Überprüfung umfassender<br />
Umweltqualitätsmanagementsysteme durch unabhängige, staatlich<br />
akkreditierte Gutachter. Es soll die unternehmerische Eigenverantwortung<br />
aktivieren und die Nutzung des im Unternehmen vorhandenen Wissens<br />
für die Zwecke des Umweltschutzes ermöglichen 12 .<br />
– Auch das SGB XI schließlich setzt die Akkreditierung als Instrument<br />
der Qualitätssicherung und -überprüfung in Pflegeeinrichtungen ein: Für<br />
Einrichtungen der häuslichen und ambulanten Pflege, die Prüfergebnisse<br />
zur Prozess- und Strukturqualität „nach einem durch die Landesverbände<br />
der Pflegekassen anerkannten Verfahren zur Messung und Bewertung der<br />
Pflegequalität durch unabhängige Sachverständige oder Prüfinstitutionen“<br />
erbracht haben, sieht das SGB eine Erleichterung des Umfangs der<br />
Regelprüfung vor (§ 114 IV SGB XI). Die methodische Verlässlichkeit der<br />
Zertifizierungs- und Prüfverfahren sowie die Zuverlässigkeit, Unabhängigkeit<br />
und Qualifikation der Sachverständigen und Prüfinstitutionen<br />
müssen dabei den Maßstäben und Grundsätzen zur Sicherung und Weiterentwicklung<br />
der Pflegequalität i.S.d § 113 Abs. 1 S. 4 Nr. 3 u. 4 SGB XI<br />
entsprechen 13 .<br />
11 Vgl. dazu auch Voßkuhle (Fn. 3), S. 277 (315 ff.).<br />
12 Vgl. dazu auch Jarass, in: ders. (Hrsg.), BImSchG, 7. Aufl. 2007, § 58e Rndr. 1 ff.;<br />
Martini, Integrierte Regelungsansätze im Immissionsschutzrecht, 2000, S. 278.<br />
13 §§ 113 und 114 SGB XI wurden mit Wirkung vom 1.7.2008 durch das Gesetz zur<br />
strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz)<br />
vom 28.5.2008 (BGBl. I S. 874) neu gefasst. Zur Akkreditierung von Pflegeeinrichtungen<br />
nach der alten Rechtslage Bieback, Zertifizierung und Akkreditierung,<br />
2008, S. 166 ff.
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
III. Erscheinungsformen der Hochschulakkreditierung de lege lata<br />
239<br />
Die Akkreditierungspraxis im deutschen Hochschulrecht nahm mit Beschlüssen<br />
der Hochschul- und Kultusministerkonferenz ihren Anfang 14 .<br />
Inzwischen hat sie in den Hochschulgesetzen feste gesetzliche Wurzeln<br />
geschlagen. Sie begegnet uns dort de lege lata in zwei Formen: als institutionelle<br />
Akkreditierung und als Programmakkreditierung. Die institutionelle<br />
Akkreditierung (unten 1.) bezieht sich auf Hochschulen insgesamt;<br />
sie erstreckt sich auf alle Aufgaben und Funktionsbereiche einer Institution.<br />
Die Programmakkreditierung (unten 2.) nimmt die Qualität einzelner<br />
Hochschulstudiengänge in den Blick. Jüngst tritt die Prozessakkreditierung<br />
auf den Plan (dazu unten V.).<br />
1. Institutionelle Akkreditierung<br />
Die institutionelle Akkreditierung hat den Prüfauftrag, zu klären, ob eine<br />
Hochschule in der Lage ist, Leistungen in Lehre und Forschung zu erbringen,<br />
die anerkannten wissenschaftlichen Maßstäben entspricht. Ihre Wirkmacht<br />
entfaltet sie gegenwärtig bei der Anerkennung privater Hochschulen.<br />
Bremen, Thüringen, Niedersachsen und das Saarland erheben die institutionelle<br />
Akkreditierung ausdrücklich zur rechtlichen Voraussetzung<br />
der staatlichen Anerkennung privater Hochschulen 15 . Andere Länder, wie<br />
Brandenburg 16 und Rheinland-Pfalz 17 etwa, machen die staatliche Anerkennung<br />
im Regelfall oder nach Ermessen der Behörde von einer Akkreditierung<br />
abhängig. Andere lassen die Akkreditierung durch den Wissenschaftsrat<br />
der staatlichen Anerkennung als Lackmustest ihrer Aufrechterhaltung<br />
folgen 18 .<br />
Magister ludi im System der institutionellen Akkreditierung ist der<br />
Wissenschaftsrat. Seine Prüfbereiche bilden Leitbild und Profil, Leistungen<br />
in Forschung und Lehre, personelle und sachliche Ausstattung, Qua-<br />
14 Insbesondere „Statut für ein länder- und hochschulübergreifendes Akkreditierungsverfahren“<br />
vom 24.5.2002 und „Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Akkreditierung<br />
in Deutschland“ vom 15.10.2004; jeweils abrufbar unter http://www.akkreditierungsrat.de.<br />
Vgl. dazu Lege, JZ 2005, S. 698 (699); Heitsch, DÖV 2007, S. 770<br />
(770).<br />
15 § 12 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 brem. HochschulG; § 101 Abs. 1 thür. HochschulG, § 64<br />
Abs. 1 S. 2 u. 3 nds. HochschulG, § 80 Abs. 1 S. 2 saarl. UnivG.<br />
16 § 79 Abs. 2 bbg. HochschulG.<br />
17 Siehe etwa § 117 Abs. 1 S. 1 u. 4 rp. HochschulG.<br />
18 § 107 Abs. 1 Nr. 3 HochschulG LSA; § 79 Abs. 3 i.V.m. § 76 Abs. 2 S. 3 u. 4 s.-h.<br />
HochschulG.
240 Mario Martini<br />
WissR<br />
litätssicherung und Qualitätsentwicklung sowie Finanzierung 19 . Das<br />
Leitbild der privaten Hochschule muss anerkannten wissenschaftlichen<br />
Maßstäben entsprechen und die Hochschule hat nachzuweisen, dass sie<br />
über die notwendigen Ressourcen und Strategien verfügt, um ihre selbst<br />
gesetzten Ziele sowie die hochschulrechtlichen Mindestanforderungen<br />
auch erreichen zu können. Bei positivem Urteil spricht der Akkreditierungsrat<br />
eine befristete Akkreditierung aus – bei neu zu gründenden<br />
Hochschulen für fünf Jahre, bei bestehenden Einrichtungen für 10 Jahre.<br />
Der Wissenschaftsrat ist kein Privatrechtssubjekt, sondern ein von Bund<br />
und Ländern getragenes wissenschaftspolitisches Beratungsgremium. Die<br />
institutionelle Akkreditierung ist damit auch kein akkreditierungstypischer<br />
Fall privater Selbstregulierung, sondern bedeutet eine Einbeziehung<br />
anderer Verwaltungsträger in einen staatlichen Genehmigungsprozess.<br />
Die Gründung des Wissenschaftsrates geht auf ein zwischen Bund und<br />
Ländern abgeschlossenes Verwaltungsabkommen zurück 20 . Es kann auf<br />
die verfassungsrechtliche Ermächtigung des Art. 91b GG verweisen 21 .<br />
Die institutionelle Akkreditierung als Instrument der Qualitätssicherung<br />
hat die Herstellung von Transparenz und Vergleichbarkeit staatlicher<br />
und nichtstaatlicher Bildungsangebote zur Aufgabe. Damit ist sie nicht<br />
nur eine wichtige Stellschraube im sich intensivierenden Wettbewerb zwischen<br />
privaten und staatlichen Hochschulen sowie den privaten Hochschulen<br />
untereinander, sondern auch ein wichtiges Ventil der Steuerung<br />
hochschulpolitischer Innovationen sowie der Sicherung wissenschaftlicher<br />
Leistungsfähigkeit von Hochschuleinrichtungen und des Schutzes<br />
der Studierenden sowie möglicher Arbeitgeber.<br />
Bis dato bewegt sich die institutionelle Akkreditierung im Schatten öffentlicher<br />
Wahrnehmung. Aufsehen erregte sie in der Vergangenheit lediglich<br />
in dem Falle des Akkreditierungsverfahrens der Hochschule Witten-<br />
Herdecke sowie jüngst der Berliner European School of Management and<br />
Technology (ESMT) und der CVJM-Hochschule in Kassel. Einen Moment<br />
lang schien der Wissenschaftsrat im vorletzten Jahr das Grabesglöckchen<br />
für den Bereich Humanmedizin der Hochschule Witten-Herdecke<br />
läuten zu lassen, hat dann aber die Akkreditierung unter Auflagen<br />
ausgesprochen. 33 Stellungnahmen zu Akkreditierungen privater Hoch-<br />
19 Vgl. dazu Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Akkreditierung privater Hochschulen,<br />
Drs. 4419/00, S. 27 ff. sowie ders., Leitfaden der institutionellen Akkreditierung,<br />
Drs. 7078–06, S. 13.<br />
20 Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern über die Errichtung eines<br />
Wissenschaftsrates v. 5.9.1957, vgl. dazu Kipp, DÖV 1958, S. 490 (491).<br />
21 Vgl. dazu insbesondere Vierhaus, NVwZ 1993, S. 36 (40), aus der älteren Literatur<br />
Kipp (Fn. 20), S. 490 ff.
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
241<br />
schulen hat der Wissenschaftsrat bisher abgegeben, sieben davon versagender<br />
Natur.<br />
2. Programmakkreditierung<br />
Während der institutionellen Akkreditierung die öffentliche Aufmerksamkeit<br />
bislang weithin versagt bleibt, ist die Programmakkreditierung in<br />
jüngerer Zeit in den Brennpunkt der hochschulpolitischen Diskussion gerückt.<br />
Die meisten Länder, etwa Nordrhein-Westfalen 22 , schreiben inzwischen<br />
entweder zwingend 23 oder als Regel-Verpflichtung 24 eine Akkreditierung<br />
aller oder einzelner, insbesondere der Bachelor- und Masterstudiengänge,<br />
durch unabhängige und wissenschaftsnahe Einrichtungen vor.<br />
Diese akkreditierenden Stellen zu bestimmen, liegt in den Händen einer<br />
rechtsfähigen Stiftung des öffentlichen Rechts, namentlich eines der Organe<br />
der „Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland“:<br />
des Akkreditierungsrates. Die Stiftung und ihre Organe sind beauftragt,<br />
die Aufgaben der Länder im Vollzug der gemeinsamen Strukturvorgaben<br />
nach § 9 Abs. 2 HRG wahrzunehmen. Die Länder verzichten<br />
insoweit auf eine eigene behördliche Überprüfung und überantworten sie<br />
dem Akkreditierungssystem der Stiftung 25 .<br />
a) Ablauf und Organisation der Programmakkreditierung<br />
Das nordrhein-westfälische Studiengängeakkreditierungsstiftungsgesetz<br />
(StAkStiftG) 26 ermächtigt den Akkreditierungsrat in seinem § 7 Abs. 1<br />
S. 2, Agenturen die Berechtigung zur Akkreditierung von Studiengängen<br />
zu verleihen. Er setzt sich aus 18 Mitgliedern zusammen, die den Bereichen<br />
Wissenschaft, Staat, Berufspraxis und Studierende entstammen (§ 7 Abs. 2<br />
StAkStiftG) 27 . Sechs Akkreditierungsagenturen hat der Akkreditierungs-<br />
22 § 7 Abs. 1 nrw. HochschulFG.<br />
23 Vgl. § 53 Abs. 4 S. 1 brem. HochschulG; § 52 Abs. 8 hmb. HochschulG; § 9 Abs. 3<br />
S. 4 HochschulG LSA; § 28 Abs. 5 S. 2 HochschulG M-V; § 6 Abs. 2 S. 2 nds. HochschulG;<br />
§ 50 Abs. 3 S. 1 saarl. UnivG.<br />
24 Vgl. etwa § 78 Abs. 3 bw. HochschulG; Art. 10 Abs. 4 bay. HochschulG; § 102<br />
Abs. 2 S. 2 hess. HochschulG (für Studiengänge privater Hochschulen); § 9 Abs. 3 S. 4<br />
HochschulG LSA; § 5 Abs. 2 i.V.m. § 49 Abs. 6 S. 2 s-h. HochschulG.<br />
25 Kultusministerkonferenz, Vereinbarung zur Stiftung „Stiftung: Akkreditierung<br />
von Studiengängen in Deutschland“, Beschl. v. 16.12.2004, S. 3; dies., 10 Thesen zur<br />
Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland, Beschl. v. 12.6.2003, S. 3.<br />
26 Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen<br />
in Deutschland“ vom 15.2.2005, Gesetz v. 15.2.2005, GVBl. NRW, S. 45.<br />
27 Die Errichtung der Stiftung beruht auf einem als Verwaltungsabkommen im<br />
Rahmen der Kultusministerkonferenz geschlossen Vereinbarung der Länder (Verein-
242 Mario Martini<br />
WissR<br />
rat bis dato zugelassen: die wohl bekanntesten sind die ZeVA (die zentrale<br />
Evaluations- und Akkreditierungsagentur Hannover), ACQUIN (das<br />
Akkreditierungs-, Zertifizierungs- und Qualitätssicherungsinstitut) und<br />
AQAS (die Agentur für Qualitätssicherung durch Akkreditierung von<br />
Studiengängen). Die Agenturen werden regelmäßig in der Rechtsform des<br />
privaten Rechts geführt, üblicherweise als gemeinnützig anerkannte Vereine<br />
oder als rechtsfähige Stiftung. Sie schließen mit den Hochschulen privatrechtliche<br />
Verträge über die Durchführung der Akkreditierung.<br />
Die zu akkreditierende Hochschule stellt einen Antrag bei einer Akkreditierungsagentur.<br />
Diese nimmt dann eine Qualitätsprüfung durch eine<br />
Gruppe externer Fachgutachter vor, welche auf dem Prinzip des Peer Review<br />
beruht. In einem formalisierten Verfahren wird anschließend ermittelt,<br />
ob das zu akkreditierende Studienangebot den fachlichen Mindeststandards<br />
genügt und bestimmte Strukturvorgaben sicherstellt. Bewertet werden<br />
insbesondere die Ziele, Struktur und Durchführung des Studiengangs,<br />
etwa das pädagogische Konzept und die Studierbarkeit, die angemessene<br />
(personelle, sachliche und räumliche) Ausstattung der Hochschule sowie<br />
die fachliche Güte 28 . Hat ein Studiengang ein Akkreditierungsverfahren erfolgreich<br />
durchlaufen, erhält er eine befristete Akkreditierung (mit oder<br />
ohne Auflagen) und trägt für den Zeitraum seiner Akkreditierung das Qualitätssiegel<br />
der Stiftung 29 . Die für das Akkreditierungsverfahren entstehenden<br />
Kosten fallen (ebenso wie im Verfahren der institutionellen Akkreditierung)<br />
der Hochschule zur Last 30 .<br />
Für die Arbeit der Agenturen ist zwar ein Wettbewerb mit Profilbildung<br />
intendiert 31 , zugleich aber eine Einheitlichkeit der Bewertungsmaßstäbe<br />
essenziell. Denn nur so lässt sich die beabsichtigte Vergleichbarkeit<br />
der Studienabschlüsse erreichen. Darin liegt ein Drahtseilakt. Ihn zu bewältigen<br />
ist Aufgabe des Akkreditierungsrates. Ihm ist die Gesamtverantwortung<br />
für die Entwicklung und Durchsetzung vergleichbarer Qualitätsstandards<br />
in dem dezentral organisierten Akkreditierungssystem<br />
barung zur Stiftung Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland, Beschl. v.<br />
16.12.2004). Sie überträgt der Stiftung die Aufgaben des bisherigen Akkreditierungsrates.<br />
28 Vgl. zu den Kriterien der Programmakkreditierung insbesondere den Beschl. des<br />
Akkreditierungsrates v. 17.7.2006, zu den Kriterien für die Akkreditierung von Studiengängen,<br />
Drs. AR 15/2008, ferner Hopbach, in: Benz/Kohler/Landfried (Hrsg.),<br />
Handbuch Qualität in Studium und Lehre (Loseblatt; Stand: Okt. 2006), F. 2.1,<br />
S. 10 ff.<br />
29 Vgl. dazu auch im Einzelnen Kohler, Akkreditierungsentscheidungen: Inhalte,<br />
Wirkung und Veröffentlichung, in: Benz/Kohler/Landfried (Hrsg.), ibid. F. 3.5, S. 1 ff.<br />
30 Die Kosten institutioneller Akkreditierung belaufen sich im Durchschnitt auf<br />
18.000–28.000 €, die Kosten einer Programmakkreditierung auf 10.000–15.000 €.<br />
31 Vgl. auch § 2 Abs. 2 Nr. 1 StAkStiftG.
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
243<br />
übertragen. Er hat die Aufgabenerfüllung durch die Agenturen zu steuern,<br />
zu überwachen und einen fairen Wettbewerb unter ihnen zu gewährleisten.<br />
Der Akkreditierungsrat bekommt es dabei durchaus mit Emanzipierungs-<br />
und Profilierungstendenzen der Agenturen zu tun. Die sich ihm<br />
stellende Herausforderung, in einem ebenso schwierigen wie sensiblen<br />
Feld eine regulative Steuerungsaufgabe wahrzunehmen, verlangt neben<br />
Fingerspitzengefühl eine hinreichend zielgenaue rechtliche Steuerung.<br />
Letztere lässt sich dem Studiengängeakkreditierungsstiftungsgesetz allerdings<br />
kaum entlocken. Dessen § 3 spricht zwar von „einer vertrauensvollen<br />
Zusammenarbeit“ zwischen der Stiftung und den Agenturen sowie<br />
von „Vereinbarungen, mit denen die Rechte und Pflichten der Partner im<br />
Akkreditierungssystem geregelt werden“. Vorgaben für ihre inhaltliche<br />
Ausfüllung lässt er insoweit jedoch (abgesehen von der Benennung vorgesehender<br />
Regelungsgegenstände) weithin vermissen.<br />
b) Rechtliche Einordnung<br />
Die rechtliche Einordnung der Programmakkreditierung liegt weitgehend<br />
im Dunkeln. Das Arsenal denkbarer Lösungen reicht von rein privatrechtlicher<br />
Deutung über Beleihung, Verfahrensprivatisierung bis zu einer Mitwirkung<br />
sui generis. Die Vielfalt unterschiedlicher landesrechtlicher Ausgestaltungstypen<br />
verkompliziert die Suche nach einer einheitlichen Antwort<br />
zusätzlich.<br />
Über eine freiwillige Selbstverpflichtung, wie etwa beim Umwelt-Audit,<br />
geht eine Akkreditierung jedenfalls hinaus. Sie verlässt durch ihre Einbindung<br />
in das System materieller Wissenschaftsverwaltung auch den originären<br />
Rechtskreis des Zivilrechts 32 . Die Agenturen schließen mit der Antrag<br />
stellenden Hochschule zwar einen privatrechtlichen Akkreditierungsvertrag<br />
– einen Werkvertrag, dessen geschuldetes Werk in der Begutachtung<br />
des Studiengangs einschließlich der Entscheidung über die Akkreditierung<br />
besteht. Dieser Vertrag ist jedoch im Lichte der hochschulrechtlichen Akkreditierungsverpflichtung<br />
zu lesen, die den Studiengang unter den Vorbehalt<br />
einer vorherigen Akkreditierung, die Verleihung des Akkrediats, stellt,<br />
sowie der Funktion der vertraglichen Vereinbarung, für den zu akkreditierenden<br />
Studiengang als Surrogat landeseigener Vollzugskontrolle eine<br />
Überprüfung der ländergemeinsamen Strukturvorgaben i.S.d. § 9 Abs. 2<br />
HRG vorzunehmen. Insoweit liegt eine Beleihung der Agenturen nahe 33 .<br />
32 A.A. Bieback, Zertifizierung und Akkreditierung, 2008, S. 260; wie hier dagegen<br />
Lege (Fn. 14), S. 698 (701 f.); Heitsch (Fn. 14), S. 770 (777 f.).<br />
33 Vgl. zu Wesen und Voraussetzungen der Beleihung Schmidt am Busch, DÖV
244 Mario Martini<br />
WissR<br />
Dazu müsste der Staat den Agenturen hoheitliche Rechtsmacht zur selbständigen<br />
Wahrnehmung im eigenen Namen übertragen haben. Dafür<br />
scheint § 7 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Stu diengängeakkreditierung<br />
sstiftungsgesetzes zu streiten. Er verleiht den Agen turen die Berechtigung,<br />
Studiengänge durch Verleihung des Siegels der Stiftung zu akkreditieren.<br />
An die Verleihung des Akkreditierungsrechtes knüpft sich freilich nicht<br />
denknotwendig auch die Befugnis der Agentur zu selbständiger hoheitlicher<br />
Aufgabenwahrnehmung. Die Akkreditierung kann ebenso gut unselbständiger<br />
Verfahrensbestandteil der staatlichen Genehmigung des Studienprogramms<br />
sein. So verhält es sich dort, wo die erfolgreiche Akkreditierung<br />
nicht zur selbständigen gesetzlichen Verpflichtung der Hochschulen erhoben<br />
wird, sondern die Behörde sie zur Voraussetzung ihrer Genehmigung<br />
erhebt, wie etwa für Studiengänge nichtstaatlicher Hochschulen in Niedersachsen<br />
(§ 64 Abs. 1 S. 3 des nds. HochschulG 34 ) oder Studiengänge an Bremer<br />
Hochschulen (§ 53 Abs. 4 S. 2 brem. HochschulG 35 ) 36 . Der Staat schaltet<br />
hier einen privaten Intermediär in die staatliche Aufgabenwahrnehmung<br />
ein, ohne ihm eine eigenständige rechtsfolgerelevante Entscheidungsmacht<br />
zuzugestehen. Er verlagert eine als Teil des Genehmigungsverfahrens auch<br />
schon zuvor wahrgenommene Begutachtung in den Verantwortungsbereich<br />
Privater – ähnlich etwa dem medizinisch-psychologischen Gutachten beim<br />
Führen von Kraftfahrzeugen. Es handelt sich dann um eine Form der Verfahrensprivatisierung,<br />
bei der Teilleistungen im Rahmen eines hoheitlichen<br />
Verfahrens durch Dritte erbracht werden, deren Ergebnis in das rechtsaufsichtliche<br />
Genehmigungsverfahren einfließt, allerdings nicht um eine Beleihung<br />
37 .<br />
Anders verhält es sich dann, wenn die Akkreditierung – wie inzwischen<br />
in den meisten Ländern, so etwa in Nordrhein-Westfalen – die staatliche<br />
Genehmigungsentscheidung ablöst und zu einer selbständig auferlegten,<br />
rechtlich sanktionierten Pflicht wird. Es handelt sich hier regelmäßig um<br />
mehr als eine unverbindliche externe Begutachtung, die etwa mit der Stel-<br />
2007, S. 533 ff.; Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 1 Rdnr.<br />
231 ff.; Stelkens, NVwZ 2004, S. 304 (305 ff.).<br />
34 Dort heißt es: „Neue Studiengänge dürfen nur mit Genehmigung des Fachministeriums<br />
nach Akkreditierung durch eine vom Fachministerium bestimmte Stelle<br />
eingerichtet werden.“<br />
35 Dieser lautet: „Auf der Grundlage der Akkreditierung entscheidet der Senator<br />
für Bildung und Wissenschaft unter Berücksichtigung der Übereinstimmung mit der<br />
Wissenschafts- und Hochschulgesamt- sowie der Hochschulentwicklungsplanung,<br />
der Wirtschaftlichkeit und Effizienz gemäß § 110 Abs. 1 Nr. 2 über die Einrichtungsgenehmigung.“<br />
36 Ähnlich wohl auch in Berlin, dessen Hochschulgesetz bisher keine gesetzliche<br />
Verpflichtung zur Akkreditierung von Studiengängen kennt.<br />
37 A.A. Heitsch (Fn. 14), S. 770 (777 f.).
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
245<br />
lungnahme einer Ethik-Kommission vergleichbar wäre, nämlich eine Regelung<br />
mit unmittelbarer Außenwirkung, für die die Agentur Beliehene<br />
ist. So setzt etwa die Aufnahme des Studienbetriebs in Nordrhein-Westfalen<br />
den erfolgreichen Abschluss der Akkreditierung voraus (§ 7 Abs. 1 S. 2<br />
Hs. 1 nrw. HochschulG). Wenn das Gesetz zusätzlich die Befolgung von<br />
Auflagen der Agentur anordnet, wie etwa § 7 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 nrw. HochschulG,<br />
§ 49 Abs. 6 S. 6 s.-h. HochschulG, verleiht sie der Akkreditierung<br />
unmittelbar gesetzliche Regelungsmacht, die den Charakter von Verwaltungsakten<br />
im Sinne des § 35 VwVfG annimmt 38 .<br />
IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen und Grenzen der gegenwärtig<br />
praktizierten Hochschulakkreditierung<br />
Die Expansion der Akkreditierung im öffentlichen Recht spiegelt ein gewandeltes<br />
Aufgabenwahrnehmungsverständnis des Staates wider. Sie ist<br />
weniger Abbild eines bis aufs Skelett verschlankten öffentlichen Dienstes<br />
oder eines „weiter als das Waldsterben vorangeschrittenen Staatssterbens“ 39<br />
als vielmehr Teil eines Konzepts arbeitsteiliger Gemeinwohlkonkretisierung.<br />
Sie entlässt den Staat – zumal im grundrechtlich sensiblen Bereich<br />
des Hochschulrechts – freilich nicht aus seiner Verantwortung und seinen<br />
verfassungsrechtlichen Bindungen: Die Implementierung der Akkreditierung<br />
in das System staatlicher Aufgabenwahrnehmung und die mit ihr<br />
verbundene Verlagerung staatlicher Verfahrensverantwortung auf private<br />
Dritte stoßen in ein grundrechtsdogmatisches Minenfeld vor. Was im Sektor<br />
technischer Produktsicherheit noch verantwortbar erscheinen mag 40 ,<br />
erreicht im Hochschulrecht mit der hochsensiblen Grundrechtsschutzzone<br />
des Art. 5 Abs. 3 GG eine neue Dimension grundrechtlicher Brisanz.<br />
Die Gründung von Hochschulen sowie die Einrichtung und Durchführung<br />
von Studiengängen gehören zu den Entscheidungen, die als<br />
grundrechtswesentlich im Sinne der Wesentlichkeitstheorie 41 anzusehen<br />
38 A.A. Bieback (Fn. 32), S. 378 ff.; wie hier im Ergebnis dagegen Heitsch (Fn. 14),<br />
S. 770 (777 f.); Lege (Fn. 14), S. 698 (702); zur Verwaltungsaktsqualität von Auflagen U.<br />
Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 33), § 36 Rdnr. 83 m.w.N.<br />
39 In diesem Sinne aber Prantl, „Kein schöner Land“, Gastvortrag beim Neujahrsempfang<br />
von ver.di am 4.2.2007, S. 5 der Tonbandabschrift.<br />
40 Vgl. dazu Pünder (Fn. 3), S. 583 ff.<br />
41 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.10.1975, BVerfGE 40, S. 237 (249); BVerfG, Beschl. v.<br />
9.5.1972, BVerfGE 33, S. 125 (158 ff.) – Facharzt; BVerfG, Urt. v. 18.7.1972, BVerfGE 33,<br />
S. 303 (337 und 344) – numerus clausus I; BVerfG, Urt. v. 6.12.1972, BVerfGE 34, S. 165<br />
(192 f.) – Elternrecht; BVerfG, Beschl. v. 27.1.1967, BVerfGE 41, S. 251 (259 f.); BVerfG,
246 Mario Martini<br />
WissR<br />
sind. Sie sind Teil der Gestaltungshoheit der Hochschulen. Ihre Kontrolle<br />
durch Akkreditierungsagenturen greift in den von der Wissenschaftsfreiheit<br />
geschützten Kernbereich der Hochschulautonomie ein 42 .<br />
Die Verantwortung, die der Staat für die Validität studentischer Ausbildung<br />
trägt, legitimiert ihn durchaus, eine Kontrolle der Qualität angebotener<br />
Studienleistungen durchzuführen. Er ist ermächtigt, für einen schonenden<br />
Ausgleich zwischen der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG)<br />
und der kollidierenden Grundrechtsposition der studentischen Ausbildungsfreiheit<br />
(Art. 12 Abs. 1 GG) im Wege praktischer Konkordanz zu<br />
sorgen 43 .<br />
Lässt der Staat diese staatliche Kontrollaufgabe durch private Dritte<br />
wahrnehmen, muss er freilich durch einen entsprechenden Regulierungsrahmen<br />
dafür Sorge tragen, dass eine Verfahrensprivatisierung nicht in<br />
eine Missachtung rechtsstaatlicher, insbesondere grundrechtlicher Verfahrensdurchsetzung,<br />
entgleitet. Die mit der Akkreditierung verbundenen<br />
Vorteile der Entlastung des Staates und der Integration externen<br />
Sachverstandes dürfen nicht erkauft werden durch die Erosion des<br />
Grundrechtsschutzes und der demokratischen Kontrolle. Mit der osmotischen<br />
Funktionsverschränkung von Staat und Gesellschaft in einem<br />
kooperativ-selbstregulierten System wächst die grundrechtssichernde<br />
Bedeutung des Verfahrens als Auffangordnung. Die Gewährleistungsverantwortung<br />
des Staates muss sich in den grundrechtssensiblen Bereichen<br />
des Wissenschaftsrechts in greifbaren Aufsichtsbefugnissen niederschlagen<br />
– und in der durch das Untermaßverbot dogmatisch unterfütterten<br />
Pflicht, diese Aufsicht wahrzunehmen, soll nicht der hehre Begriff<br />
der Gewährleistungsverantwortung zur inhaltsleeren Beteuerung degenerieren<br />
44 . Die massive grundrechtliche Gefährdungslage, welcher die<br />
Hochschulen durch die Akkreditierung ausgesetzt sind, hat in eine<br />
strenge Überwachung der Akkreditierungsvoraussetzungen zu münden.<br />
Die Einbindung Privater in eine grundrechtssensible Konfliktentschei-<br />
Beschl. v. 21.12.1977, BVerfGE 47, S. 46 (78 ff.) – Sexualerziehung in der Schule; Schulze-<br />
Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 162 ff.<br />
42 Die Akkreditierung legt den Hochschulen nicht nur zeitlichen, finanziellen und<br />
organisatorischen Aufwand auf, sondern berührt durch den von ihr ausgehenden Anpassungsdruck<br />
vor allem ihre Freiheit zur inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Studiengänge;<br />
vgl. auch Bieback (Fn. 32), S. 378 ff.; Heitsch (Fn. 14), S. 770 (772); Lege (Fn. 14),<br />
S. 698 (703); Pautsch, WissR 38 (2005), S. 201 (213).<br />
43 BVerfG, Beschl. v. 31.5.1995, BVerfGE 93, S. 85 (95 f.); BVerfG, Beschl. v.<br />
7.10.1980, BVerfGE 55, S. 37 (68 f.); Lege (Fn. 14), S. 698 (702).<br />
44 Di Fabio (Fn. 6), S. 235 (262 f.); zur Warnung vor einer „Paralyse der Verantwortung“,<br />
die als Letztverantwortung ausgeflaggt, aber ohne korrespondierende Zuständigkeiten<br />
und Vollzugspotenziale bleibt: Zacher, Freiheit und Gleichheit in der Wohlfahrtspflege,<br />
1962, S. 49 f., 124 f.
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
247<br />
dung verlangt nach klaren Entscheidungsmaßstäben und prozeduralen<br />
Vorgaben für den Kontrollprozess.<br />
Diese lassen die Landeshochschulgesetze jedoch bislang weithin vermissen.<br />
Sie lassen nicht nur vielfach offen, wer die zur Akkreditierung ermächtigten<br />
anerkannten Stellen sind 45 , statt sie – wie etwa § 43 S. 1<br />
thürHG 46 – dem rechtsstaatlichen Gebot hinreichender Bestimmtheit entsprechend<br />
zu benennen 47 . Sie hüllen sich auch in Schweigen darüber, wie<br />
die Gremien besetzt sein müssen, wie ihre Neutralität zu wahren ist, welche<br />
Kriterien sie anzulegen haben, wie insbesondere die Qualität zu messen<br />
ist. Die Gesetze beschränken sich in der Regel auf den Hinweis der<br />
Qualitätsmessung durch Akkreditierung „nach den geltenden Regeln“<br />
(vgl. etwa § 7 Abs. 1 S. 1 nrw. Hochschulgesetz) 48 . Wie aber misst man<br />
Qualität? Für den Kaufmann ist die Frage schnell beantwortet: Qualität<br />
ist, wenn der Kunde zurückkommt und nicht das Produkt. Für die Qualitätsmessung<br />
von Hochschulleistungen ist diese Handreichung etwas zu<br />
einfach gestrickt. Qualitätsbeurteilung ist ein komplexer wertender Vorgang,<br />
der als Relationsprozess auf Kriterienvorgaben angewiesen ist, um<br />
die intendierte Eignung der angebotenen Leistung zur Erzielung gestellter<br />
Anforderungen beurteilen zu können. Transparente und präzise wissenschaftsadäquate<br />
49 Vorgaben sind für ein rechtsstaatliches, hinreichenden<br />
Grundrechtsschutz in einem Konzept regulierter Selbstregulierung sicherstellendes<br />
Verfahren unverzichtbar 50 .<br />
45 So etwa § 6 Abs. 2 nds. HochschulG „durch eine vom Land und der Hochschule<br />
unabhängige, wissenschaftsnahe Einrichtung“ oder § 50 Abs. 3 saarl. UG „durch eine<br />
unabhängige wissenschaftliche Einrichtung“.<br />
46 Dort heißt es: „Jeder neue Studiengang oder die wesentliche Änderung eines bestehenden<br />
Studiengangs ist in der Regel durch eine vom Akkreditierungsrat anerkannte<br />
Einrichtung in qualitativer Hinsicht zu bewerten“ (Hervorhebung des Verf.). Ähnlich<br />
§ 5 Abs. 2 S. 1 s.-h. HochschulG.<br />
47 Die Übertragung der Aufgabe im Wege eines Verwaltungsabkommens auf die<br />
Stiftung oder durch das nordrhein-westfälische Studiengängeakkreditierungsstiftungsgesetz<br />
genügt insoweit nicht. Es bedürfte einer gesetzlichen Umsetzung durch<br />
Staatsvertrag der Länder. Ebenso Lege (Fn. 14), S. 698 (704).<br />
48 Konkreter demgegenüber § 43 S. 2 thür. HochschulG, der „die aufgrund des § 9<br />
Abs. 2 HRG ergangenen Empfehlungen, insbesondere die ländergemeinsamen Vorgaben<br />
für Bachelor- und Masterstudiengänge“ als Bewertungsmaßstäbe für verbindlich<br />
erklärt.<br />
49 Vgl. BVerfGE 111, S. 333 (358 f.).<br />
50 Zweifelhaft daher Bieback (Fn. 32), S. 388, die es angesichts der Komplexität und<br />
Dynamik des Lebensbereiches ausreichen lassen will, die Festlegung von Qualitätsstandards<br />
der Verwaltung zu überlassen. Die Komplexität und Dynamik kann es rechtfertigen,<br />
die Anforderungen an das „Wie“ der gesetzlichen Steuerung zu senken, nicht<br />
aber das „Ob“ der Verwaltung zu überantworten.
248 Mario Martini<br />
WissR<br />
Umso mehr gilt dies insofern, als der Umstand, dass der Auftraggeber<br />
die Akkreditierung zahlt, als sensible Note ein besonderes Bedürfnis nach<br />
Sicherung der Verfahrensverantwortung hervorruft. Die akkreditierte<br />
Stelle steht im Wettbewerb mit anderen Stellen 51 . Das impliziert, wiewohl<br />
die Agenturen gemeinnützig arbeiten, eine Abhängigkeit vom „Kunden“.<br />
Der Wettbewerb der Agenturen kann im Extremfall ein „race to the bottom“<br />
induzieren, in dem sich diejenige Agentur durchsetzt, die die niedrigsten<br />
Zertifizierungsanforderungen anlegt. Das Mantra „Scientia donum<br />
dei est, unde vendi non potest“ 52 , kann hier leicht auf dem Altar von<br />
Selbstbehauptungsinteressen und eines kontraproduktiv wirkenden Wettbewerbsgedankens<br />
geopfert werden. Die für eine sachgerechte Bewertung<br />
essenzielle qualitätssichernde Distanz gerät bei der Akkreditierung überdies<br />
dadurch leicht in Gefahr, dass Gutachter und Akkreditierte sich in<br />
vertauschten Rollen, etwa bei der Akkreditierung des eigenen Studiengangs,<br />
in Berufungsverfahren oder sonstigen Wertungsentscheidungen, in<br />
der überschaubaren scientific community alsbald wieder begegnen 53 . Die<br />
Unparteilichkeit der Akkreditierung und die Sachgerechtigkeit ihrer Bewertungsmaßstäbe,<br />
die sich als Grundrechtsgebot aus der verfahrensrechtlichen<br />
Dimension der Wissenschaftsfreiheit ergeben, sind der Lackmustest<br />
ihrer Verantwortbarkeit. Diesen Test bestehen die Landeshochschulgesetze<br />
mangels hinreichender gesetzlicher Steuerung gegenwärtig<br />
noch nicht. Sie lassen nicht erkennen, woraus sich die Maßstäbe der Akkreditierung<br />
ergeben und wie die Sachgerechtigkeit der durch private Intermediäre<br />
vorgenommenen Akkreditierung gesichert werden soll. Weder<br />
die bestehenden Verwaltungsabkommen, etwa die ländergemeinsamen<br />
Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz 54 , noch das nordrheinwestfälische<br />
Studiengängeakkreditierungsstiftungsgesetz vermögen diesen<br />
Mangel zu kompensieren. Ersteren fehlt es an der parlamentsgesetzlichen<br />
Natur, die den prospektierten Maßstäben die notwendige demokratische<br />
Legitimation vermitteln könnte, letzterem an der Verbindlichkeit<br />
für die anderen Bundesländer. Zwar müssen die Akkreditierungsvorgaben<br />
sich angesichts der Eigengesetzlichkeit der komplexen und dynamischen<br />
51 Vgl. zu dem zwischen den Agenturen entbrannten Preiswettbewerb Wörner,<br />
Stand und aktuelle Fragen der Akkreditierung in Deutschland, in: Hochschulverband<br />
(Hrsg.), Qualität durch Akkreditierung, 2005, S. 51 (52).<br />
52<br />
S.c.: Die Wissenschaft kann nicht verkauft werden, weil sie eine Gabe Gottes<br />
ist.<br />
53<br />
Fehling (Fn. 3), Rdnr. 40.<br />
54<br />
Kultusministerkonferenz, Ländergemeinsame Strukturvorgaben gemäß § 9<br />
Abs. 2 HRG für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen, Beschl.<br />
v. 10.10.2003 i.d.F. vom 7.2.2008.
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
249<br />
Sachmaterie nicht bis in jede Einzelheit aus dem Parlamentsgesetz des<br />
Landes ergeben, jedoch zumindest aus diesem ableitbar sein.<br />
Wird eine hinreichend dichte normative Steuerung diese Bedenken womöglich<br />
abmildern oder zerstreuen, gesellen sich Defizite eher struktureller<br />
Natur hinzu: Die Programmakkreditierung ist bürokratisch, zeitaufwändig<br />
und kostenintensiv. Die bürokratische Okkupation wissenschaftlicher<br />
Lebenswelten raubt Hochschulen die Ressourcen, die sie für den<br />
Einsatz in Forschung und Lehre benötigen. Indem sie eine Fremdbewertung<br />
vornimmt, ist die Programmakkreditierung nicht nur tendenziell autonomiefeindlich.<br />
Sie enthält auch eine Momentaufnahme eines Ergebnisses,<br />
das sich jederzeit wandeln kann, dessen Kontinuität durch die Akkreditierung<br />
aber nicht gesichert ist. Eine Clusterakkreditierung vermag den<br />
entstehenden Aufwand nur bedingt zu begrenzen. Sie stellt nach ihrem<br />
methodischen Anspruch eine gebündelte Programmakkreditierung mehrerer<br />
Studiengänge in einem einheitlichen Akkreditierungsverfahren dar<br />
und vermag damit Rationalisierungs- und Kosteneinsparpotentiale nur in<br />
dem Umfang zu entfalten, in dem die zu untersuchenden Studiengänge gemeinsame<br />
Schnittmengen aufweisen, die einen verfahrensrechtliches Entlastungseffekt<br />
für das Prüfprogramm mit sich bringen.<br />
V. Ausblick: Prozessakkreditierung als Ergänzung<br />
des Handlungsinstrumentariums<br />
Einen Ausweg aus dem Dilemma scheint die Akkreditierung von Prozessen<br />
statt Programmen, d.h. die Akkreditierung hochschuleigener Qualitätssicherungssysteme,<br />
zu weisen, wie sie etwa in Großbritannien seit 1998<br />
und bereits früher in Australien, Neuseeland und Hongkong zur Anwendung<br />
kommt. Die Kultusministerkonferenz hat Handlungsbedarf konstatiert.<br />
Im Sommer 2007 hat sie auf Vorschlag des Hochschulverbandes für<br />
das Konzept einer Prozessakkreditierung als Alternative zur Programmakkreditierung<br />
grundsätzlich grünes Licht gegeben 55 . Eine gesetzliche Ermächtigung<br />
zur Ersetzung der Programm- durch eine Prozessakkreditie-<br />
55 Dazu die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz vom 15.6.2007 und vom<br />
13.12.2007 zur Einführung der Systemakkreditierung; vgl. auch Wissenschaftsrat,<br />
Empfehlung zur künftigen Rolle der Universitäten im Wissenschaftssystem, WR-<br />
Drucks. 7067-06, Empfehlung Nr. 10; zu bereits durchgeführten Pilotprojekten, insbesondere<br />
dem „Mainzer Modell“, siehe Schmidt/Horstmeyer, Beiträge zur Hochschulforschung<br />
30 (2008), S. 40 ff. sowie Leitfaden für Verfahren der Systemakkreditierung<br />
der Akkreditierungsagentur ACQUIN http://www.acquin.org/doku_serv/Leitfa<br />
denSystemakkreditierung.pdf (1.5.2008).
250 Mario Martini<br />
WissR<br />
rung findet sich freilich bisher nur im bremischen 56 und schleswig-holsteinischen<br />
57 Hochschulgesetz.<br />
Die Prozessakkreditierung (häufig auch Systemakkreditierung genannt)<br />
zielt auf eine am New Public Management orientierte, in Verantwortung<br />
der Fakultäten eingerichtete Optimierung hochschulinterner<br />
Prozesse. Sie überprüft nicht Programme, sondern die Lenkungs-, Steuerungs-<br />
und Aufsichtsmechanismen, mit denen die Hochschulen ihrer Verantwortung<br />
nachkommen, akademische Standards zu sichern und die<br />
Qualität von Forschung und Lehre zu optimieren. Ihr Gegenstand ist die<br />
Einhaltung und Validität hochschuleigener Qualitätssicherungssysteme<br />
und -verfahren, die das erwünschte Ausbildungs- und Forschungsniveau<br />
zuverlässig und systematisch, disziplin- und niveauunabhängig garantieren,<br />
insbesondere die Aufbau- und Ablauforganisation und ihre Steuerungsmechanismen<br />
58 . Ihr liegt die nachvollziehbare Hypothese zugrunde,<br />
dass bei vorhandener Prozessqualität auf die Nachweisbarkeit entsprechender<br />
Programmqualität geschlossen werden kann 59 . Es soll – ähnlich<br />
wie bei dem verfahrensrechtlichen Ansatz des Umwelt-Audit-Systems –<br />
ein Qualitätsmanagement-System entstehen, das alle Aspekte der akademischen<br />
Hochschulleistungen erfasst und ein „Frühwarnsystem“ etabliert,<br />
welches Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennt und notwendige<br />
Umsteuerungs- und Verbesserungsmaßnahmen umsetzt, bevor die Ergebnisqualität<br />
sinkt. Gleichsam als „interne Akkreditierungsagentur“ soll<br />
56 „Die Akkreditierung des Studienangebots kann durch eine Prozessakkreditierung<br />
oder eine institutionelle Akkreditierung der Hochschule ersetzt werden“, heißt es<br />
in § 53 Abs. 4 S. 7. brem. HochschulG.<br />
57 § 5 Abs. 1 S. 3 s.-h. HochschulG bestimmt, dass „die Programmakkreditierung<br />
(…) nach Etablierung entsprechender Systeme durch andere Akkreditierungssysteme<br />
ergänzt oder ersetzt werden kann“.<br />
58 Kennzeichnend für ein gelungenes Qualitätssicherungssystem sind insbesondere<br />
qualitätsfördernde Entscheidungsstrukturen und Mechanismen zur Ressourcenverteilung<br />
sowie ein Personalmanagement, das ein hohes Motivations- und Qualifikationsniveau<br />
sowohl in Wissenschaft als auch in Verwaltung als auch auf Leitungsebene<br />
sicherstellt.<br />
59 Wolff, Stand und aktuelle Fragen der Akkreditierung in Deutschland, in: Deutscher<br />
Hochschulverband, Qualität durch Akkreditierung, 2005, S. 23 (26), stellt den<br />
plastischen Vergleich mit der Qualitätskontrolle einer Bäckerei an: „Man stelle sich<br />
eine Brötchenbäckerei vor, in der wir die Qualität der Brötchen prüfen und feststellen<br />
wollen. Um das zu leisten, untersuchen wir jedes einzelne Brötchen auf seine Bestandteile<br />
und Genießbarkeit. Ein ungewöhnlicher Aufwand, der gleichzusetzen ist mit unserer<br />
Programmakkreditierung. Sehr viel klüger wäre es zu prüfen, ob die Brötchenbäcker<br />
ihr Handwerk verstehen, ob der Ofen in Ordnung ist, ob die Rezepte gut sind<br />
und ob aus den Zutaten prima schmackhafte, sättigende und gut verdauliche Brötchen<br />
gebacken werden können“. Ob die Uniformität von Brötchen mit der Individualität unterschiedlicher<br />
Studiengänge und Wissenschaftsdisziplinen ohne Weiteres verglichen<br />
werden kann, darf allerdings bezweifelt werden.
41 (2008) Akkreditierung im Hochschulrecht<br />
251<br />
es die bisher durch Externe vorgenommene Ergebniskontrolle in funktional<br />
äquivalenter Weise durch interne Prozesssteuerungsmechanismen 60<br />
wahrnehmen.<br />
Die Prozessakkreditierung überprüft die in den Hochschulen implementierte<br />
Systemsteuerung der Prozesse daraufhin, ob sie die Wirksamkeit<br />
des Qualitätsmanagementsystems angemessen, effektiv und effizient<br />
sichert. Eine positive Prozessakkreditierung bescheinigt der Hochschule,<br />
dass ihr Qualitätssicherungssystem im Bereich von Studium und Lehre<br />
geeignet ist, das Erreichen der Qualifikationsziele und die Qualitätsstandards<br />
ihrer Studiengänge zu gewährleisten 61 .<br />
Die Prozessakkreditierung setzt das Vertrauen in die Selbstüberprüfung<br />
der Hochschule an die Stelle permanenter Kontrolle von außen. Sie<br />
respektiert die institutionelle Autonomie der Hochschulen, ist zeit- und<br />
ressourcenschonender als die Programmakkreditierung; Evaluation als<br />
Instrument der Binnensteuerung und die Akkreditierung als Instrument<br />
zur Sicherung von Qualitätsstandards nähern sich einander an und werden<br />
miteinander verzahnt 62 . Die Prozessakkreditierung begreift Hochschulen<br />
und ihre Qualitätssicherung stärker als lernende und lernfähige<br />
Systeme. Auf inhaltliche Stichproben wird sie dabei freilich nicht ganz<br />
verzichten können. Denn eine vollständige Sicherung der Ergebnisqualität<br />
setzt eine Verifizierung der aus dem Prozessgedanken abgeleiteten Qualitätsvermutung<br />
voraus. In der Sache handelt es sich bei der Prozessakkreditierung<br />
eher um eine verfahrensrechtliche Absicherung qualitätssichernder<br />
Selbstevaluation, gleichsam eine „Hilfe“ zur Selbsthilfe, als um<br />
ein ergebnisorientiertes Validierungsverfahren. Ihre Aussagekraft als Instrument<br />
zur Einschätzung inhaltlicher Ausbildungsqualität und ihr Entlastungspotenzial<br />
bleiben notwendig begrenzt. Sie vermag, anders als in<br />
der hochschulpolitischen Diskussion bisweilen suggeriert, (bei sachgerechter<br />
Anwendung) die Programmakkreditierung nicht vollständig abzulösen,<br />
sondern lediglich zu entlasten 63 .<br />
60<br />
Beispiele sind etwa eine regelmäßige Lehrveranstaltungsevaluation durch die<br />
Studierenden, die interne und externe Evaluation der Studiengänge, Anreizsysteme<br />
zur Förderung der Qualität in Studium und Lehre, die Sicherung der Lehrkompetenz<br />
bei Berufungs- und Einstellungsverfahren sowie ein wirksames Umsetzungscontrolling<br />
für Maßnahmen zur Mängelbeseitigung.<br />
61<br />
Akkreditierungsrat, Kriterien für die Systemakkreditierung, Drs. AR 11/2008,<br />
S. 1.<br />
62 Vgl. zu dem kontrovers diskutierten Verhältnis von Akkreditierung und Evaluation<br />
im Allgemeinen Erichsen (Fn. 3), S. 8 ff.; Kromrey, Zur Verbindung von Akkreditierung<br />
und Evaluation, ibid., F 2.2, S. 1 ff.<br />
63<br />
Nach dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 13.12.2007 zur Einführung<br />
der Systemakkreditierung ist Voraussetzung für die Zulassung zur Systemakkreditierung<br />
der Nachweis einer bestimmten Anzahl erfolgreich durchgeführter Pro-
252 Mario Martini<br />
WissR<br />
VI. Fazit<br />
Das Bekenntnis des Hochschulrechts zur Qualitätssicherung verdient<br />
Lob. Der eingeschlagene Weg der Akkreditierung ist in seinem Grundgedanken<br />
ein zielführender Baustein in einem solchen Handlungskonzept.<br />
Seine Umsetzung de lege lata löst jedoch verfassungsrechtliches Bauchgrimmen<br />
aus. Die Fruchtbarmachung selbstregulativer Beiträge externen<br />
Sachverstandes im Wege einer Einbeziehung privater Akteure ist nur bei<br />
strikter Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung<br />
und konsequenter Steuerung des Prozesses durch hinreichend dichte legislative<br />
Vorgaben verantwortbar. Das gegenwärtige Akkreditierungssystem<br />
genügt diesen Anforderungen noch nicht. Die Programmakkreditierung<br />
leidet auch an strukturellen Defiziten. Eine Prozessakkreditierung<br />
verspricht hier eine die Hochschulautonomie sichernde Erweiterung des<br />
Instrumentenbestecks, die allerdings nur ergänzend, nicht ersetzend Einsatz<br />
finden darf, wenn die originäre Zielsetzung der Akkreditierung, die<br />
unabhängige Beurteilung der sachlichen Mindestqualität eines Bildungsangebots,<br />
zuverlässig erreicht werden soll.<br />
Summary<br />
The accreditation of universities and degree courses as a means towards the safeguarding<br />
of the quality and comparability of degree courses has, within a short time, secured<br />
a firm place within the instrumental medley of the legislation on higher education. To a<br />
great extent, we are still in the dark as regard to its legal basis, its classification according<br />
to legal theory and its covering by constitutional law. The article discloses the economic<br />
rationality of accreditation, regiments it into the system of instruments of control<br />
existing in public administration, systematizes its structure and analyses its responsibility<br />
in the light of the managerial guidelines under constitutional law set down<br />
in Article 5 paragraph (3) GG (i.e. Grundgesetz = German Basic Law). Among other<br />
things, it comes to the conclusion that the structuring of accreditation de lege lata does<br />
not meet the requirements of Article 5 paragraph (3) GG to exercise the governement’s<br />
warranty when including private protagonists in the supervision of the higher education<br />
system. It also comes to the result that system accreditation which is currently<br />
being discussed can complement programme accreditation perspectively, but cannot<br />
replace it.<br />
grammakkreditierungen, namentlich „pro angefangene 2.500 Studierende mindestens<br />
ein erfolgreich akkreditierter Studiengang, [insgesamt] mindestens jedoch zwei Studiengänge<br />
(ein Bachelor-, ein Masterstudiengang); für Hochschulen mit reglementierten<br />
Studiengängen gilt das Gleiche, mindestens jedoch drei erfolgreich akkreditierte<br />
Studiengänge (ein Bachelor-, ein Master-, ein reglementierter Studiengang)“.
41 (2008) Rechtsprechung<br />
Anne-Kathrin Lange<br />
Ausgewählte Entscheidungen<br />
Übersicht<br />
Wissenschaftsrecht Bd. 41 (2008) S. 253–259<br />
© Mohr Siebeck – ISSN 0948-0218<br />
253<br />
Rechtsprechung<br />
1. Verwaltungsgericht Braunschweig: Impfkosten bei Dienstreise<br />
2. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg: Festsetzung der Gruppengröße<br />
zur Verbesserung der Betreuungsrelation<br />
1. Verwaltungsgericht Braunschweig – Urteil vom 3. Juni 2008 – 7 A 5/08<br />
Leitsatz<br />
Aufwendungen für Impfungen – einschließlich Sera – können im Zusammenhang<br />
mit Auslandsdienstreisen nur dann als notwendige Auslagen (hier: erstattungsfähige<br />
Nebenkosten) im Sinne des § 10 Abs. 1 BRKG anerkannt werden, wenn sie für<br />
Schutzimpfungen entstanden sind, die entweder vom Einreiseland zwingend vorgeschrieben<br />
oder dienstlich empfohlen worden sind. Fehlt es insoweit an einer dienstlichen<br />
Empfehlung, ist die Behörde nicht gehindert, mangels konkreterer Erkenntnisquellen<br />
auf die allgemeinen Impfempfehlungen des Auswärtigen Amtes sowie ergänzend<br />
der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin und Internationale Gesundheit<br />
(DTG) abzustellen.<br />
Zum Sachverhalt<br />
Der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten, ihm Kosten zu erstatten, die er<br />
aus Gründen medizinischer Vorsorge anlässlich einer Dienstreise nach China aufgewendet<br />
hat.<br />
Der Kläger ist Beamter auf Lebenszeit. Er steht als Wissenschaftlicher Oberrat im<br />
Dienst der Beklagten.<br />
Der Beklagte genehmigte sowohl die Teilnahme des Klägers an dieser Veranstaltung<br />
als auch die damit im Zusammenhang stehende Dienstreise. Ausweislich der<br />
Vorentscheidung handelte es sich um eine Forschungsreise von höchster Priorität.<br />
In Vorbereitung seiner Dienstreise hatte sich der Kläger bei seinem auch für Reisemedizin<br />
qualifizierten Hausarzt nach erforderlichen medizinischen Vorsorgemaßnahmen<br />
erkundigt. Der Arzt erklärte dem Kläger, für die Dienstreise nach China seien
254 Rechtsprechung<br />
WissR<br />
vorbeugende Maßnahmen gegen Malaria, Typhus, Tollwut sowie gegen Hepatitis A<br />
und B erforderlich. Der Kläger ließ diese empfohlenen Vorsorgemaßnahmen im Februar<br />
2007 durchführen und beantragte bei dem Beklagten Beihilfeleistungen (u.a.) für<br />
die dadurch entstandenen Kosten. Mit bestandskräftigem Beihilfebescheid lehnte der<br />
Beklagte die Gewährung von Beihilfe für die genannten Vorsorgemaßnahmen ab verwies<br />
den Kläger an die Reisekostenstelle. Diese erkannte dem Kläger lediglich die Kosten<br />
für die Hepatitis-A-Impfung als erforderliche Reisekosten an und lehnte im Übrigen<br />
die Erstattung der Kosten für die verbleibenden medizinischen Vorsorgeuntersuchungen<br />
ab. Zur Begründung führte er an, dass das Auswärtige Amt für Reisen nach<br />
China Impfungen gegen Tollwut, Typhus und Hepatitis-B nicht für notwendig erklärt<br />
hatte. Die Kosten für die Malaria-Prophylaxe seien deswegen nicht erstattungsfähig,<br />
weil nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin und Internationale<br />
Gesundheit (DTG) eine Malariavorbeugung in Wuhan nicht notwendig<br />
sei. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte zurück.<br />
Daraufhin erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht und trug zur Begründung<br />
ergänzend vor, dass er ausschließlich die Erstattung von Kosten, die er aus Anlass<br />
seiner Dienstreise aufgewandt habe begehre. Es handele sich um notwendige<br />
Auslagen, die als Nebenkosten im Sinne des Bundesreisekostengesetzes (BRKG) zu<br />
erstatten seien. Er habe den Rat seines hinreichend fachkundigen Hausarztes in Anspruch<br />
nehmen und ihm vertrauen dürfen. Insoweit als er im Rahmen des offiziellen<br />
Tagungsprogramms Feldversuche in der umliegenden Provinz besichtigte, wären auf<br />
ihn Vorwürfe und auf den Dienstherren weitaus höhere Kosten zugekommen, hätte<br />
der Kläger die Vorsorge unterlassen. Daher entspreche es dem Fürsorgeprinzip, Auslagenersatz<br />
zu leisten.<br />
In der Begründung der Klageabweisung beruft sich der Beklagte darauf, dass gemäß<br />
Ziffer 10.1.2 der Verwaltungsvorschrift zum BRKG (BRKGVwV) Impfkosten<br />
bei Auslandsreisen erstattungsfähig sein können, allerdings zwecks einheitlicher Ermessensausübung<br />
und nach ständiger Verwaltungspraxis des Beklagten nur nach<br />
Maßgabe der Impfempfehlungen des Auswärtigen Amtes sowie ergänzend nach denjenigen<br />
des DTG. Von dem seit 1986 in Dienstreisen erfahrenen Kläger könne erwartet<br />
werden, dass er sich insoweit zeitnah hinreichend sachkundig mache. Eine Zusicherung<br />
der Kostenerstattung durch die rechtlich selbständige, nicht dem Beklagten,<br />
sondern der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung unterstellte<br />
Beihilfestelle sei mangels Regelungscharakters nicht abgegeben worden; zudem sei<br />
die Beihilfestelle dafür ohnehin unzuständig.<br />
Aus den Gründen<br />
[…]<br />
Die zulässige Klage ist unbegründet.<br />
Die Versagung des von dem Kläger begehrten Verwaltungsaktes ist rechtmäßig<br />
und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten. Dem Kläger steht der von ihm<br />
geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der im Tatbestand spezifizierten Arzt-,<br />
Impfstoff- und Medikamentenkosten nicht zu. Die Voraussetzungen der einzigen insoweit<br />
in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage sind nicht gegeben. Gemäß § 10<br />
Abs. 1 BRKG werden zur Erledigung eines Dienstgeschäftes notwendige Auslagen,
41 (2008) Rechtsprechung<br />
255<br />
die nicht nach den §§ 4 bis 9 BRKG zu erstatten sind, als Nebenkosten erstattet. Die<br />
erstgenannte Vorschrift ist hier allein einschlägig, weil die aufgrund § 14 Abs. 3<br />
BRKG erlassene Auslandsreisekostenverordnung (ARV) insofern keine speziellere<br />
oder ergänzende Regelung enthält.<br />
Die geltend gemachten Kosten sind keine notwendigen Auslagen im Sinne des § 10<br />
Abs. 1 BRKG: In Anwendung der den Begriff der Notwendigkeit konkretisierenden<br />
Verwaltungsvorschriften (BRKGVwV), kommen prinzipiell u.a. auch notwendige<br />
Impfungen einschließlich Sera im Zusammenhang mit den Auslandsdienstreisen als<br />
erstattungsfähige Nebenkosten in Betracht (Ziffer 10.1.2, letzter Spiegelstrich). Allerdings<br />
fallen darunter in erster Linie Auslagen für vom Einreiseland zwingend vorgeschriebene<br />
Schutzimpfungen sowie für dienstlich empfohlene Impfungen gegen<br />
Erkrankungen in Infektions- und Epedemiegebieten (Meyer/Fricke, Reisekosten im<br />
öffentlichen Dienst, Komm., Std. Sept. 2007, Bd. 2, Rn. 31 zu § 10 BRKG). Im vorliegenden<br />
Fall geht es weder um von der VR China vorgeschriebenen noch um dienstlich<br />
empfohlene Impfungen. Stattdessen hat der Beklagte unter Berufung auf generelle,<br />
nicht nur Bedienstete betreffende Empfehlungen des Auswärtigen Amtes sowie<br />
ergänzend der DTG – in der jeweils gerade aktuellen Fassung – die Erstattung der<br />
Auslagen abgelehnt. Dies ist nicht zu beanstanden, weil keine konkreteren Erkenntnisquellen<br />
verfügbar waren. Dass der Beklagte sodann unter der strikten Beachtung<br />
dieser zwischen den Beteiligten inhaltlich unstreitigen Empfehlungen nur die Auslagen<br />
für die Hepatitis A-Impfung erstattet, ansonsten eine Kostenerstattung abgelehnt<br />
hat, ist gleichfalls unstreitig und bedarf keiner weiteren Vertiefung.<br />
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht daher auf die Begründung<br />
der Widerspruchbescheides des Beklagten, macht sich die dortigen Ausführungen<br />
zu Eigen und sieht prinzipiell von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe<br />
ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).<br />
Ergänzend hebt die Kammer hervor: Der im Beihilfebescheid erhaltenden Passus,<br />
die Kosten seien gegenüber der Reisekostenstelle geltend zu machen, sofern es sich<br />
um Aufwendungen für eine Dienstreise handele, weist schon mit dieser sprachlichen<br />
Formulierung lediglich auf die Möglichkeit hin, bei der dafür zuständigen Stelle einen<br />
entsprechenden Antrag zu stellen. Anhaltspunkte für eine Zusicherung im Sinne<br />
des § 38 VwVfG sind nicht ersichtlich; es fehlt erkennbar sowohl an einem Rechtsbindungswillen<br />
als auch einem Regelungscharakter. Zudem wäre die Beihilfestelle<br />
– nach dem Wortlaut dieses Hinweises auch für den Kläger erkennbar – für eine solche<br />
Zusicherung nicht zuständig gewesen.<br />
Aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn folgt nichts anderes. Denn jene wird<br />
durch den § 10 Abs. 1 BRKG bereits hinreichend konkretisiert, so dass in Anbetracht<br />
dieser abschließenden Spezialregelung kein Raum für einen Rückgriff auf jenen allgemeinen<br />
Grundsatz bleibt.<br />
Soweit der Kläger sich auf eine – unstreitig auch durch ihn durchgeführte – Exkursion<br />
in den ländlichen Raum beruft, dauerte diese ausweislich der vorgelegten Tagesprogramms<br />
vom 26. März 2007 (Bl. 63 GA) lediglich maximal (inkl. Fahrtzeiten)<br />
fünf Stunden und erreicht daher schon zeitlich nicht das Risikopotential eines – sonst<br />
erforderlichen – mehrwöchigen Aufenthaltes fernab der Großstädte.<br />
[…]<br />
[Urteil eingesandt von der 7. Kammer des VG Braunschweig]
256 Rechtsprechung<br />
WissR<br />
2. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Juni 2008<br />
Leitsatz<br />
Die Hochschule kann die Betreuungsrelation für Lehrveranstaltungen in der Studienordnung<br />
anhand der in der Hochschulwirklichkeit durchschnittlich anzutreffenden<br />
Gruppengröße festsetzen. Kapazitätsrechtlich setzt die Verbindlichkeit aber<br />
voraus, dass die Gruppengröße formell ordnungsgemäß durch das zuständige Hochschulorgan<br />
beschlossen wurde und dabei die kapazitären Auswirkungen bedacht<br />
worden sind. Ferner muss die Orientierung an der Hochschulwirklichkeit konsistent,<br />
also für alle Lehrveranstaltungen, eingehalten sein; Fehleinschätzungen gehen<br />
zu Lasten der Hochschule.<br />
Zum Sachverhalt<br />
Der Antragsteller begehrt die Zulassung zum Studium der Medizin und macht hierzu<br />
geltend, die Antragsgegnerin habe mit der Vergabe von 321 Studienplätzen die vorhandene<br />
Ausbildungskapazität nicht erschöpft. Das Verwaltungsgericht hat die Kapazitätsberechnung<br />
der Antragsgegnerin beanstandet und eine Aufnahmekapazität<br />
von 341 Studienanfängern errechnet. Es hat die Antragsgegnerin daher im Wege der<br />
einstweiligen Anordnung verpflichtet, weitere 20 Bewerber vorläufig zum Studium<br />
zuzulassen. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin ist der Beschluss abzuändern,<br />
weil sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur eine Aufnahmekapazität<br />
von 335 Studienanfängern feststellen lässt. Die Antragsgegnerin kann daher nur dazu<br />
verpflichtet werden, 14 weitere Teilstudienplätze zu vergeben.<br />
Aus den Gründen<br />
[…]<br />
3. Vorschriften darüber, wie der für die Berechnung der Lehrnachfrage maßgebliche<br />
Curricularanteil inhaltlich zu bestimmen ist, enthält die KapVO VII jedoch<br />
nicht. Auch aus dem Gebot der erschöpfenden Kapazitätsauslastung lassen sich keine<br />
konkreten Berechnungsgrundsätze ableiten (vgl. BVerfGE 85, 36 [56 f.]).<br />
Die Ausgestaltung obliegt daher grundsätzlich der Hochschule selbst, die im<br />
Rahmen der ihr durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleisteten Eigenständigkeit befugt<br />
ist, bei der Organisation und Ausgestaltung des Studiums ihren eigenen hochschulpolitischen<br />
Vorstellungen und fachdidaktischen Zielvorstellungen Ausdruck zu<br />
verleihen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.07.1987 – 7 C 10/86 –, NVwZ 1989, 360). Im<br />
Rahmen des vom Verordnungsgeber vorgegebenen Curricularnormwerts des Studiengangs<br />
– sowie im Falle des Studiengangs Medizin auch der Currcicularanteile der<br />
am Studiengang beteiligten Lehreinheiten – gestaltet die Hochschule Struktur und<br />
Inhalt ihrer Studienpläne daher grundsätzlich selbst.<br />
Insbesondere ist die Hochschule von Rechts wegen nicht verpflichtet, bei der Berechnung<br />
der Lehrnachfrage den Vorgaben des sogenannten ZVS-Beispielstudienplans<br />
zu folgen. Dieser ist vielmehr weder in der KapVO VII noch in der Approbationsordnung<br />
für Ärzte vom 27.06.2002 (BGBl. I S. 2405, zuletzt geändert durch Gesetz vom
41 (2008) Rechtsprechung<br />
257<br />
02.12.2007, BGBl. I S. 2686 – ÄAppO –) verbindlich vorgegeben. Der Gesetzgeber hat<br />
auf die verbindliche Vorgabe entsprechender Leitbilder vielmehr bewusst verzichtet,<br />
um der Profilbildung der Hochschulen und der Herausbildung wissenschaftlicher<br />
Schwerpunkte ausreichend Raum zu belassen (vgl. Koch, RdJB 2005, 345). Entgegen<br />
der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung sind daher nicht zwingend die abstrakten<br />
Betreuungsrelationen des ehemaligen ZVS-Beispielstudienplans heranzuziehen<br />
(vgl. Senatsbeschlüsse vom 09.07.2007 – NC 9 S 26/07 – und vom 23.08.2006 – NC<br />
9 S 38/06 –). Der ZVS-Beispielstudienplan gab auf der Grundlage der Approbationsordnung<br />
ein „Beispiel“ – also eine Möglichkeit – vor, wie der für den Studiengang festgesetzte<br />
Curricularnormwert ausgefüllt und umgesetzt werden kann; er schloss und<br />
schließt abweichende Studienpläne aber nicht aus.<br />
Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, dass die Systematik der KapVO VII auf<br />
pauschalierte Berechnungsmodi angelegt ist. Dies ist für die Bestimmung des an der<br />
Hochschule vorhandenen Lehrangebots besonders deutlich. Denn unabhängig von<br />
den tatsächlichen Gegebenheiten wird durch das in § 8 f. KapVO VII angeordnete<br />
Stellenprinzip stets auf die höchst mögliche Lehrverpflichtung des Lehrpersonals abgestellt<br />
(vgl. BVerfGE 66, 155 [186 f.]). Darüber hinaus geht der Gesamtansatz der<br />
verfügbaren Deputatsstunden einer Lehreinheit von der Austauschbarkeit aller Lehrenden<br />
für die Veranstaltungen innerhalb der Lehreinheit aus. Diese Annahme ist angesichts<br />
der hohen Spezialisierung aber fiktiv; es liegt auf der Hand, dass etwa ein<br />
Anatomie-Kurs nicht von Psychologen abgehalten werden kann (vgl. auch Bahro/<br />
Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl.<br />
2003, S. 368). Gleiches gilt für die Bestimmung des Curricularnormwerts, bei der abstrakt<br />
an Hand der „Lernmengentheorie“ auf den Besuch der von der Approbationsordnung<br />
und den Studien- und Prüfungsordnungen vorgegebenen mindesterforderlichen<br />
Veranstaltungen abgestellt wird (vgl. Großkreutz, in: Hailbronner/Geis,<br />
HRG-Kommentar, Stand: 06/2007, § 29 Rn. 18; Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht<br />
in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2003, S. 403).<br />
Die als „Mittelwert“ angesetzten Betreuungsrelationen des ZVS-Beispielstudienplans<br />
(vgl. BVerwGE 64, 77 [89]), die auch bei der Festsetzung des Curricularnormwerts<br />
zu Grunde gelegt worden sind (vgl. Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht<br />
in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2003, S. 103), korrespondieren daher<br />
offenkundig mit dem abstrakten Berechnungsmodell der Kapazitätsverordnung.<br />
Ihre Heranziehung erscheint deshalb auch nach Wegfall der rechtsverbindlichen Vorgabe<br />
sachgerecht (vgl. Senatsurteil vom 23.11.2005 – NC 9 S 140/05 –).<br />
Die Betreuungsrelationen des ZVS-Beispielstudienplans sind im gegenwärtigen<br />
Rechtszustand aber nicht mehr verbindlich vorgeschrieben und damit nicht die einzige<br />
Möglichkeit. Schranken bei der eigenverantwortlichen Bestimmung der Lehrnachfrage<br />
durch die Hochschulen ergeben sich vielmehr nur aus den Vorgaben höherrangigen<br />
Rechts – insbesondere aus dem Gebot der erschöpfenden Kapazitätsauslastung<br />
– und dem Erfordernis der Systemgerechtigkeit des gewählten Modells.<br />
Wählt die Hochschule ein Berechnungssystem, bei dem die Betreuungsrelation<br />
anhand der in der Hochschulwirklichkeit durchschnittlich anzutreffenden Gruppengröße<br />
festgelegt wird, ist dies im Grundsatz daher nicht zu beanstanden. Der Ansatz<br />
hat sachliche Gründe und findet ebenfalls Anhaltspunkte in der Kapazitätsverordnung<br />
(vgl. etwa § 7 Abs. 1 Satz 2 KapVO VII hinsichtlich der Zuordnung zu
258 Rechtsprechung<br />
WissR<br />
Lehreinheiten). Die Hochschule hat dieses Modell aber konsistent einzuhalten und<br />
trägt Verantwortung und Risiko für die Richtigkeit der unterstellten Annahmen.<br />
Hieraus ergibt sich nicht nur eine erhöhte Darlegungsbedürftigkeit, die sich grundsätzlich<br />
auf alle Gruppengrößen bezieht, sondern auch eine im Vergleich zur abstrakten<br />
Berechnungsmethode des ZVS-Beispielstudienplans erhöhte Fehleranfälligkeit<br />
(dazu sogleich).<br />
III. Die von der Antragsgegnerin berechnete Lehrnachfrage auf Basis der tatsächlichen<br />
Gruppengröße ist daher im Grundsatz nicht zu beanstanden (1.), die Berechnungen<br />
im Einzelnen bedürfen indes der Korrektur hinsichtlich der Festlegung der<br />
für den Studiengang Molekulare Medizin (2.) und den klinischen Ausbildungsabschnitt<br />
(3.) erbrachten Veranstaltungen sowie für die Bestimmung von Lehrnachfrage<br />
(4.) und Dienstleistungsimport (5.).<br />
[(2.) bis (5.) hier nicht abgedruckt; Beschluss vollständig veröffentlicht in juris].<br />
1. Sowohl bei der Festlegung kapazitätsbestimmender Regelungen (vgl. BVerfGE<br />
85, 36 [56 f.]) als auch bei kapazitätsrelevanten Veränderungen in zulassungsbeschränkten<br />
Studiengängen (vgl. BVerfGE 66, 155 [178 f.]) unterliegt die Hochschule<br />
dem Gebot erschöpfender Kapazitätsauslastung. Das Verfahren zur Festsetzung der<br />
Aufnahmekapazität einer Hochschule muss hierfür den Bedingungen rationaler Abwägung<br />
genügen. Der Hochschule obliegt eine Darlegungspflicht hinsichtlich der<br />
angestellten Annahmen und Wertungen, aus denen sich nachvollziehbar ergeben<br />
muss, dass etwaige Kapazitätsminderungen auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt<br />
worden sind (vgl. BVerfGE 85, 36 [57]). Dies gilt in besonderer Weise für<br />
mathematisch bestimmte Festlegungsmodelle, weil die Zahlen und Formeln für sich<br />
den hinter ihr stehenden Abwägungsvorgang nicht ohne weiteres erkennen lassen.<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat die „ungewöhnlichen Schwierigkeiten“ der inhaltlichen<br />
Nachprüfung einer Kapazitätsverordnung „mit mehreren komplizierten<br />
und rechnerisch verknüpften Formeln“ und den sich hieraus ergebenden „unübersichtlichen“<br />
und „vielfältigen Ableitungen“ eindrücklich beschrieben (vgl. BVerfGE<br />
85, 36 [58]). Es hat zugleich jedoch klargestellt, dass auch die Modellrechnungen und<br />
Ableitungszusammenhänge einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden müssen.<br />
Diese erstreckt sich nicht nur auf die Kontrolle der tatsächlichen Annahmen, die<br />
der Modellrechnung zugrunde liegen, sondern auch auf die Systemkonformität des<br />
Modells.<br />
Die Antragsgegnerin hat zur Berechnung der Lehrnachfrage die im Studienplan<br />
ausgewiesenen Lehrveranstaltungen im vorklinischen Teil aufgelistet und den jeweilige<br />
Bedarf an Lehrdeputatsstunden in Semesterwochenstunden errechnet. Berechnungsgrundlage<br />
für den jeweiligen Lehraufwand ist dabei die Formel:<br />
Stundenvolumen (v) x Anrechnungsfaktor (f)<br />
Betreuungsrelation (g).<br />
Die für die jeweilige Lehrveranstaltung anzusetzende Stundenzahl (v) ergibt sich dabei<br />
aus den im Studienplan hierfür ausgewiesenen Semesterwochenstunden. Auch<br />
die Betreuungsrelation (g) ist als rechnerische Gruppengröße in der Studienordnung<br />
festgelegt (vgl. Anlage 2/2). Der Anrechnungsfaktor (f) dient dazu, dem unterschiedlichen<br />
Vorbereitungs- und Betreuungsaufwand der Veranstaltungen Rechnung zu<br />
tragen. Er kann zwar nicht aus den zwischenzeitlich außer Kraft getretenen früheren
41 (2008) Rechtsprechung<br />
259<br />
Kapazitätsverordnungen entnommen werden (vgl. etwa Anlage 2 der Verordnung<br />
des Kultusministeriums über die Grundsätze für eine einheitliche Kapazitätsermittlung<br />
und -festsetzung zur Vergabe von Studienplätzen vom 31.01.1977, GBl. S. 64).<br />
Die Heranziehung eines entsprechenden Gewichtungsfaktors ist aber auch nach<br />
Wegfall der verordnungsrechtlichen Normierung sachgerecht und daher in der Senatsrechtsprechung<br />
gebilligt worden (vgl. etwa Senatsurteil vom 15.02.2000 – NC 9 S<br />
39/99 –).<br />
Dieses Berechnungsmodell ist im Grundsatz nicht zu beanstanden. Es entspricht<br />
den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Festlegung objektivierter, nachvollziehbarer<br />
Kriterien der Kapazitätsermittlung nach dem Stand der jeweiligen Erfahrungen.<br />
[Beschluss eingesandt vom Vors.Ri. am VGH Schwan]
260 WissR<br />
Anne-Kathrin Lange<br />
Rechtsprechung in Leitsätzen<br />
Rechtmäßigkeit von Studiengebühren in Hessen<br />
Verf HE Art. 1, 59, 67; StGHG § 19; UN-Sozialpakt Art. 13<br />
1. Die Aufzählung der Antragsberechtigten vor dem Staatsgerichtshof in Art. 131<br />
Abs. 2 HV ist nicht abschließend. Der Gesetzgeber war daher befugt, den Fraktionen<br />
des Hessischen Landtags in § 19 Abs. 2 Nr. 4 StGHG ein eigenes Antragsrecht<br />
zu verleihen.<br />
2. Art. 59 Abs. 1 HV enthält keine Garantie der Unentgeltlichkeit des Hochschulstudiums<br />
und damit auch kein Verbot allgemeiner Studienbeiträge.<br />
3. Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV ist als soziales Grundrecht der Ausgestaltung und<br />
Konkretisierung durch den Gesetzgeber zugänglich. Von der Ausgestaltungsermächtigung<br />
des Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV ist Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV zu unterscheiden.<br />
Zwischen Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV und Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV<br />
besteht kein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV enthält einen<br />
qualifizierten Gesetzesvorbehalt, der die Entscheidung über die Erhebung<br />
eines Unterrichtsentgelts dem Gesetzgeber überantwortet. Im Geltungsumfang<br />
einer solchen gesetzlichen Anordnung ist die verfassungsunmittelbar geltende<br />
Unterrichtsgeldfreiheit des Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV eingeschränkt.<br />
4. Indem Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV die Anordnung eines Schulgeldes erlaubt, wenn<br />
die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder der sonst Unterhaltspflichtigen<br />
es gestattet, wird auf die Fähigkeit zur Zahlung des Schulgeldes zur<br />
Zeit der Ausbildung abgestellt. Diese Feststellung ist der Einschätzungsprärogative<br />
des Gesetzgebers mit der Maßgabe überantwortet, dass die finanzielle<br />
Situation eines Studienbewerbers oder Studierenden kein Hindernis für die<br />
Aufnahme eines Studiums darstellen darf.<br />
5. Der Gesetzgeber darf allgemeine Studienbeiträge ohne individuelle Prüfung<br />
der wirtschaftlichen Lage einführen, wenn er die damit verbundenen Belastungen,<br />
die von der Aufnahme oder Fortführung eines Studiums abhalten könnten,<br />
durch die Gewährung eines Darlehens auffängt und wenn die Darlehensbedingungen<br />
so gestaltet sind, dass die Inanspruchnahme des Darlehens für einen<br />
Studierenden, der aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage die Studienbeiträge<br />
während des Studiums nicht zahlen kann, zumutbar ist. Die Zumutbarkeit ist<br />
objektiv am Maßstab eines vernünftigen und wirtschaftlich rational handelnden<br />
Studierenden zu bestimmen.<br />
Wissenschaftsrecht Bd. 41 (2008) S. 260–265<br />
© Mohr Siebeck – ISSN 0948-0218
41 (2008) Rechtsprechung in Leitsätzen<br />
261<br />
6. Die Verzinsungspflicht des Darlehens nach § 7 Abs. 1 Satz 2, 4 HStubeiG verstößt<br />
nicht gegen Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV, da Studierenden, deren BAföG-Berechtigung<br />
festgestellt worden ist, das Studiendarlehen zinslos gewährt und die<br />
für die Erhebung eines Studienbeitrags erforderliche „wirtschaftliche Lage“ im<br />
Sinne des Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV bereits durch die Gewährung des bonitätsunabhängigen<br />
Darlehens sichergestellt wird.<br />
7. Es ist mit der Hessischen Verfassung vereinbar, dass § 7 Abs. 1 Satz 6 HStubeiG<br />
die Zinsfreistellung von der Feststellung der BAföG-Berechtigung abhängig<br />
macht.<br />
8. § 7 Abs. 1 Satz 6 HStubeiG und § 8 Abs. 2 HStubeiG enthalten dynamische<br />
Verweisungen von Landes- auf Bundesrecht. Sie halten sich in dem hierfür geltenden<br />
verfassungsrechtlichen Rahmen, da das Hessische Studienbeitragsgesetz<br />
und das BAföG wesensgleiche Rechtsmaterien betreffen und von vergleichbaren<br />
Prinzipien getragen werden.<br />
9. Die nach § 3 Abs. 3 HStubeiG mögliche Erhöhung des Studienbeitrags auf bis<br />
zu 1.500 Euro im Falle eines Zweitstudiums ist sachlich gerechtfertigt und<br />
durfte den Hochschulen als autonomen Satzungsgebern übertragen werden.<br />
10. Die nur fakultative Beitragsermäßigung für ein Teilzeitstudium ist mit Art. 1<br />
HV vereinbar. Die Hochschulen haben ihr Satzungsermessen am Pflichtlehrangebot<br />
auszurichten und einer regelmäßig nur eingeschränkten Inanspruchnahme<br />
des Lehrangebots in Ausübung ihres Satzungsermessens Rechnung zu<br />
tragen. Dies gilt im Wege verfassungskonformer Auslegung auch für den Fall<br />
eines Teilzeitstudiums, das als Zweitstudium absolviert wird.<br />
11. Zweitstudiengänge und Zeiten der Überschreitung der Regelstudienzeit sind<br />
nicht vom Schutzbereich des Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV erfasst (vgl. StGH, Urteil<br />
vom 01.12.1976 – P.St. 812 –, StAnz. 1977, S. 110 [115]). Daher war der Gesetzgeber<br />
nicht verpflichtet, für entsprechende Beitragspflichtige den Zugang zum<br />
Studiendarlehen nach § 7 HStubeiG zu eröffnen.<br />
12. Die Zweckbindung der Beiträge in § 1 Abs. 2, 3 und 4 HStubeiG ist mit der<br />
Hessischen Verfassung vereinbar.<br />
13. Das Hessische Studienbeitragsgesetz entfaltet unechte Rückwirkung, die jedoch<br />
den an sie zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.<br />
Die Belange der Studierenden, die vor dem Inkrafttreten des HStubeiG ihr<br />
Studium in Hessen begonnen haben, überwiegen nicht das staatliche Interesse<br />
an einer allgemeinen Erhebung der Beiträge.<br />
14. Es ist nicht sachwidrig und daher mit Art. 1 HV vereinbar, die Höhe einer Beitragsbefreiung<br />
im Falle von Kinderbetreuung nur von der Person des Kindes<br />
abhängig zu machen.<br />
15. Die Regelung über die kinderbezogene Beitragsermäßigung bei zwei gleichzeitig<br />
studierenden Elternteilen stellt keine mittelbare Diskriminierung von<br />
Frauen dar.<br />
16. Der UN-Sozialpakt als Bundesrecht ist nicht Prüfungsmaßstab im Verfahren<br />
der abstrakten Normenkontrolle vor dem Staatsgerichtshof.
262 Rechtsprechung in Leitsätzen<br />
WissR<br />
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 11. Juni 2008 – P.St. 2133, P.St.<br />
2158<br />
In: LKRZ 2008, 7 S. 186.<br />
Rechtmäßigkeit von Zweitstudiengebühren in Rheinland-Pfalz<br />
HSchulG RP §§ 35 Abs. 3 S. 1, 70 Abs. 1 S. 2, 70 Abs. 3 S. 3, 70 Abs. 3 S. 4; HRG<br />
§§ 18, 19; StudKEinrV RP § 1 Abs. 2, 2 Abs. 2 S. 1, 2 Abs. 2 S. 2, 11 Abs. 1<br />
Die Beschränkung der Gebührenfreiheit von Zweitstudien auf konsekutive Bachelor-<br />
und Masterstudiengänge (§ 70 Abs. 1 Satz 2 HochSchG) ist verfassungsgemäß.<br />
Ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet es, allein Absolventen<br />
rheinland-pfälzischer Hochschulen die Möglichkeit einzuräumen, ein aus einem<br />
zügigen Erststudium auf dem Studienkonto verbleibendes Restguthaben für die<br />
Begleichung der Gebühren eines Zweitstudiums einzusetzen.<br />
Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. April 2008 – 2 A 11200/07<br />
In: juris<br />
Verfassungsmäßigkeit von Studienbeiträgen in Hessen<br />
Verf. HE Art. 59; StudBG HE § 3 Abs. 1, 1 Abs. 1<br />
Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Heranziehung zu<br />
Studienbeiträgen im Sinne des § 80 Abs. 4 VwGO im Hinblick auf eine Vereinbarkeit<br />
der Regelungen des Hessischen Studienbeitragesgesetzes mit Art. 59 Abs. 1<br />
Satz 1 und 4 der Verfassung des Landes Hessen.<br />
Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 26. März 2008 – 8 TG 2493/07<br />
In: DVBl 2008, 10 S. 667.<br />
Verwaltungskostenbeitrag für Studierende<br />
GG Art 105 Abs. 2; HSchulG BYArt 72, 85a<br />
Die Erhebung eines Verwaltungskostenbeitrags in Höhe von 50 Euro je Semester<br />
für Verwaltungsdienstleistungen der Hochschulen, die zur Verwaltung und Betreuung<br />
der Studenten vorgehalten werden, jedoch nicht unmittelbar dem Lehrbetrieb<br />
zuzuordnen sind, ist verfassungsgemäß.(Rn.15)(Rn.18)<br />
Bayerischer Verwaltungsgerichthof, Urteil vom 12. Dezember 2007– 7 BV 06.3227<br />
In: juris<br />
Ablehnung der Verbeamtung auf Lebenszeit als Professor<br />
Verf. BW Art. 51; HSchulG BW § 50 Abs. 1 S. 1; DSG BW § 4 Abs. 3; BG BW § 10<br />
Abs. 1; ErnG BW § 1 Abs. 1<br />
1. Weder aus den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums noch aus<br />
Art. 5 Abs. 3 GG folgt ein Recht auf unbefristete Anstellung an der Hochschule.<br />
(Rn.22)
41 (2008) Rechtsprechung in Leitsätzen<br />
263<br />
2. Wiederholte Verstöße gegen dem Schutz von Studierenden dienende datenschutzrechtliche<br />
Bestimmungen können durchgreifende Zweifel an der Eignung<br />
eines Hochschulprofessors begründen. (Rn.26)<br />
3. Die Entscheidung, eine Verbeamtung auf Lebenszeit abzulehnen, obliegt auch<br />
bei Beamten, deren Ernennung dem Ministerpräsidenten vorbehalten ist, regelmäßig<br />
– soweit der Ministerpräsident die Prüfung nicht an sich zieht – dem Ministerium<br />
als der obersten Dienstbehörde. (Rn.23)<br />
Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 16. April 2008 – 3 K 2222/07<br />
In: juris<br />
Staatliche Forschungseinrichtung<br />
GG Art. 5 Abs. 3; HRG § 57d<br />
Eine dem Geschäftsbereich eines Bundesministeriums angehörende Einrichtung<br />
der Ressortforschung ist eine Forschungseinrichtung im Sinne von § 57d HRG,<br />
wenn sie über eine eigene Organisation verfügt, die eine freie wissenschaftliche Betätigung<br />
im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG ermöglicht.<br />
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. März 2008 – 7 AZR 1100/06.<br />
In: juris<br />
Kapazitätsreduzierung durch Tarifvertrag<br />
KapV SA §§ 8, 9<br />
1. Vor dem Hintergrund eines fehlenden normativen Stellenplanes könnte eine<br />
Reduzierung des Lehrdeputates eines wissenschaftlichen Mitarbeiters infolge<br />
einer tarifvertraglichen Regelung nur dann als zulässiges kapazitätsreduzierendes<br />
Moment anerkannt werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass nicht das<br />
individuelle Dienstverhältnis eines Stellenverwalters für die Anwendung der<br />
tarifvertraglichen Reduzierung des Lehrdeputates maßgeblich ist, sondern<br />
sich diese Reduzierung abstrakt auf in einem Stellenplan aufgeführte Planstellen<br />
bezieht.<br />
2. Sofern Bestimmungen in der Lehrverpflichtungsverordnung so auszulegen<br />
sein sollen, dass sie im Wege einer dynamischen Verweisung auf tarifvertragliche<br />
Vereinbarungen Bezug nehmen, muss sich diese Verweisung mit hinreichender<br />
Klarheit aus dem Normtext ergeben. Im Weiteren sind dynamische<br />
Verweisungen in gesetzlichen Regelungen ohnehin nur eingeschränkt zulässig.<br />
Der Verordnungsgeber darf seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigem<br />
Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen, soll der Bürger nicht schrankenlos<br />
einer normsetzenden Gewalt nichtstaatlicher Einrichtungen ausgesetzt<br />
werden.<br />
Oberverwaltungsgericht Sachen-Anhalt, Beschluss vom 29. Mai 2008 – 3 N 145/08<br />
In: juris
264 Rechtsprechung in Leitsätzen<br />
WissR<br />
Zulassungsrecht<br />
VwGO § 123; Vergabeverordnung – ZVS § 3, 6<br />
1. Im Zulassungsrechtsstreit um einen Studienplatz außerhalb der festgesetzten<br />
Kapazität fehlt der nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderliche Anordnungsgrund,<br />
wenn der Antragsteller nicht seinerseits das ihm Mögliche und Zumutbare<br />
getan hat, um einen Studienplatz in dem gewünschten Studiengang<br />
zu erhalten.<br />
2. Bei Studiengängen, die in das zentrale Vergabeverfahren einbezogen sind, erfordert<br />
das Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Regelfall eine aktuelle und<br />
ordnungsgemäße ZVS-Bewerbung für den Studiengang, der Gegenstand des<br />
Zulassungsrechtsstreits ist.<br />
Dauert der Zulassungsrechtsstreit erstinstanzlich oder im Beschwerdeverfahren<br />
über das Bewerbungssemester hinaus an, besteht die Obliegenheit, das<br />
ZVS-Verfahren für den streitgegenständlichen Studiengang zu durchlaufen,<br />
für den bisher erfolglosen Antragsteller auch in den Folgesemestern fort (Bestätigung<br />
der bisherigen Senatsrechtsprechung).<br />
Die Obliegenheit weiterer Bewerbung im ZVS-Verfahren entfällt, wenn der<br />
Antragsteller im Zulassungsrechtsstreit auf Grund einstweiliger Anordnung<br />
des Verwaltungsgerichts vorläufig den gewünschten Studienplatz erhalten hat,<br />
die einstweilige Anordnung wegen einer dagegen von der Hochschule erhobenen<br />
Beschwerde aber noch nicht rechtskräftig ist; dies gilt auch dann, wenn<br />
das gerichtliche Eilverfahren im Beschwerdeverfahren über das Bewerbungssemester<br />
hinaus andauert (Änderung der Senatsrechtsprechung).<br />
3. Der Obliegenheit der ZVS-Bewerbung ist im Regelfall nur genügt, wenn sich<br />
der Antragsteller entsprechend dem geltenden Vergaberecht auch am Auswahlverfahren<br />
der Hochschulen beteiligt und von der Option Gebrauch<br />
macht, hierfür sechs (und nicht weniger) Studienorte anzugeben; für die Teilnahme<br />
an der Vergabe in der Abiturbestenquote und nach Wartezeit genügt<br />
die ordnungsgemäße Bewerbung (ohne Rücksicht auf die Zahl der gewünschten<br />
Studienorte).<br />
Hanseat. Oberverwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 23. April 2008 – 3<br />
Nc 216/07<br />
Mitgeteilt vom Veröffentlichungsreferat des OVG<br />
Einreiseerlaubnis als Au-pair-Kraft oder Student<br />
ARB Nr. 1/80 Art. 6 Abs. 1<br />
Der Umstand, dass einem türkischen Staatsangehörigen gestattet worden ist, als<br />
Au-pair-Kraft oder als Student in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen,<br />
kann ihm nicht die Eigenschaft als „Arbeitnehmer“ nehmen und ihn nicht<br />
von der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt im Sinne von Art. 6 I des Beschlusses<br />
Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. 9. 1980 über die Entwicklung der<br />
Assoziation ausschließen. Dieser Umstand hindert den betreffenden Staatsangehörigen<br />
daher nicht daran, sich auf diese Vorschrift zu berufen, um eine Erneue-
41 (2008) Rechtsprechung in Leitsätzen<br />
265<br />
rung seiner Arbeitserlaubnis zu erhalten und in den Genuss eines dementsprechenden<br />
Aufenthaltsrechts zu kommen.<br />
EuGH 3. Kammer, Urteil vom 24. Januar 2008 – C-294/06 (Payir u.a. / Secretary of<br />
State for the Home Department)<br />
In: EuZW 2008, 8 S. 256.<br />
Rechtswidrige Ausbildungsförderung bei Sicherstellung der Ausbildung durch anzurechnendes<br />
Vermögen<br />
BAföG §§ 11 Abs. 2 , 26, 27, 28 Abs. 3 S. 1; SGB X § 45<br />
1. Forderungen des Auszubildenden, die nicht unter den abschließenden Katalog<br />
des § 27 Abs. 2 BAföG und nicht unter die nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BAföG vom<br />
Vermögen ausgenommenen Gegenstände fallen, gelten ungeachtet ihrer Rechtsnatur,<br />
ihres Ursprungs und Inhalts als Vermögen im ausbildungsförderungsrechtlichen<br />
Sinn. Dies gilt auch für (verdeckt) treuhänderisch gehaltene Forderungen.<br />
2. Der sich aus einem Treuhandverhältnis ergebende Anspruch des Treugebers gegen<br />
den Treunehmer auf Herausgabe des Treuguts kommt grundsätzlich als<br />
vom Vermögen des Auszubildenden nach § 28 Abs. 3 Satz 1 BAföG abzuziehende<br />
Schuld in Betracht. Voraussetzung dafür ist, dass der Auszubildende den<br />
Inhalt und das Bestehen des Treuhandverhältnisses im Zeitpunkt der Antragstellung<br />
substantiiert darlegt und nachweist.<br />
3. Der Abschluss und die Ernstlichkeit eines behaupteten Treuhandverhältnisses<br />
zwischen dem Auszubildenden und einem Familienangehörigen oder einer Person,<br />
zu der ein sonstiges Verhältnis besonderer persönlicher Nähe besteht, muss<br />
durch äußerlich erkennbare und objektiv nachweisbare Merkmale (objektive<br />
Indizien) nachgewiesen werden. Der Beweisantritt durch das Zeugnis von Familienangehörigen<br />
vermag fehlende objektive Beweisanzeichen nicht zu ersetzen<br />
und die Beweiskraft vorhandener gewichtiger Gegenindizien nicht zu erschüttern.<br />
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen – Urteil vom 11. Februar 2008 – 2 A<br />
959/05<br />
In: DVBl 2008, 10 S. 667.
266 WissR<br />
Anne-Kathrin Lange<br />
Übersicht der Neuerscheinungen<br />
Aufsätze<br />
Literatur<br />
Büchler, Andrea/Wohlers, Wolfgang: Bologna in der Schweiz – Zur Umgestaltung<br />
der juristischen Studiengänge an der Universität Zürich. In: ZEuP 2008, 1<br />
S. 110.<br />
Bull, Nele/Wieland, Friederike: Bucerius Law School: Alltag an einer privaten<br />
Hochschule: Studieren an der „Butze“. In: JuS-Magazin 2008, 3 S. 11.<br />
Frank, Beate: Universitätsmedizin im strukturellen Wandel: Vom Kooperationsmodell<br />
zum Integrationsmodell am Beispiel des rheinland-pfälzischen Entwurfes<br />
eines Universitätsmedizingesetzes. In: DÖV 2008, 11 S. 441.<br />
Francq, Stéphanie: Bologna Reform in Belgian Law Schools. In: ZeuP 2008, 1<br />
S. 135.<br />
Goebel, Joachim: Nachgelagert finanzierbare Studienbeiträge, Ausbildungsunterhalt<br />
und Kinderreichtum. In: NWVBl 2008, 6 S. 205.<br />
Goebel, Joachim: Nochmals: Kindesunterhalt, Studienbeiträge und kinderreiche<br />
Familien – Erwiderung zu dem Beitrag von Waldeyer. In: NWVBl 2008, 6<br />
S. 216.<br />
Hein, Lars/Schröder, Olaf: Zur sog. Handsteuerung in der juristischen Staatsprüfung<br />
– zugleich eine Besprechung des Urteils des OVG Nordrhein-Westfalen<br />
vom 9. Januar 2008 (DÖV 2008, 608 ff.). In: DÖV 2008, 14 S. 577.<br />
Hellemacher, Leo; Knobloch, Thomas; Stelzner-Rothe, Thomas: Zukunft, Freiheit<br />
und Besoldung – Ergebnisse einer Evaluationsstudie. In: DNH 2008, 3 S. 30.<br />
Hirte, Heribert: Bologna und die deutsche Juristenausbildung – Zu den Schwierigkeiten<br />
Deutschlands bei der Übernahme des Bachelor-/Master-Modells in die<br />
Rechtswissenschaft. In: ZSchR 2008, 2 S.253.<br />
Jansen, Christoph: Rechtliche Anforderungen an die Kriterien für leistungsorientierte<br />
Vergabe von Mitteln für Forschung und Lehre an den Medizinischen<br />
Fakultäten. In: MedR 2008, 4 S. 185.<br />
Kalss, Susanne: Die Umsetzung des „Bologna-Prozesses“ in der österreichischen<br />
Juristenausbildung. In: ZEuP 2008, 1 S. 125.<br />
Kilian, Matthias/Lemke, Stefanie: Das Ende eines europäischen Sonderweges: Die<br />
Reform der Juristenausbildung in Spanien. In: BRAK-Mitt. 2008, 1 S. 10.<br />
Klug, Andrea: Das Arbeitnehmererfindungsgesetz – eine deutsche Besonderheit.<br />
In: DNH 2008, 3 S. 14.<br />
Wissenschaftsrecht Bd. 41 (2008) S. 266–272<br />
© Mohr Siebeck – ISSN 0948-0218
41 (2008)<br />
267<br />
Obwexer, Walter: Ausländische akademische Grade aus Lehrgängen universitären<br />
Charakters in Deutschland. In: EuZW 2008, 10 S. 300.<br />
Pitz, Andreas/Wicklein, Marco: Zukunft des Rechtsreferendariats. In: ZRP 2008, 4<br />
S. 131.<br />
Rutschow, Annika: Der LL.M.-Aufbaustudiengang: „Gemeinsamer Rechtsraum<br />
Europa“ in Dresden. In: EuZW 2008, 8 S. 228.<br />
Schömann, Matthias: Juristenausbildung. In: ZRP 2008, 1 S. 28.<br />
Schröder, Jürgen: Privat geht alles besser!? Anmerkungen zur Novellierung des<br />
sächsischen Hochschulrechts. In: SächsVBl 2008, 6 S. 133.<br />
Schubert, Torben/Schmoch, Ulrich: How Lazy are University Professors Really: A<br />
not so Seriously Meant Note on Observations Made During an Online Inquiry.<br />
In: SozW 2008, 1 S. 75.<br />
Wagner, Gerhard: Der Bologna-Prozess in der europäischen Juristenausbildung.<br />
In ZEuP 2008, 1 S. 109.<br />
Wahlers, Wilhelm: Das nordrhein-westfälische Hochschulmedizingesetz. Wegbereiter<br />
für eine nationale und internationale Spitzenposition? In: MedR 2008, 5<br />
S. 249.<br />
Waldeyer, Hans-Wolfgang: Kindesunterhalt, Studienbeiträge und kinderreiche Familien<br />
– Eine Erwiderung auf den Beitrag von J. Goebel. In: NWVBl 2008, 6<br />
S. 212.<br />
Rezensionen<br />
Literatur<br />
Klaus Ebling/Marcel Schulze (Herausgeber): Kunstrecht – Verlag C. H.<br />
Beck – München 2007 – 536 Seiten – € 98,00<br />
Die Symbiose von Wissenschaft und Kunst ist evident. Sie kommt vor allem im<br />
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zum Ausdruck, der den grundrechtlichen Schutz von Wissenschaft<br />
und Kunst gleichermaßen ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet. Aus<br />
unterverfassungsrechtlichem Blickwinkel gehen „Wissenschaft“ und „Kunst“ allerdings<br />
getrennte Wege. Lediglich für das Wissenschaftsrecht hat sich in den 60er<br />
Jahren eine eigenständige Rechtsdisziplin entwickelt, wobei deren Ausprägung als<br />
eine Querschnittsdisziplin für lange Zeit primär an dem Hochschulrecht ausgerichtet<br />
gewesen ist (s. pars pro toto das in 1. Auflage 1982 und in 2. Auflage 1996 erschienene<br />
„Handbuch des Wissenschaftsrechts“; zur Entwicklung des Wissenschaftsrechts<br />
in ausländischen Rechtsordnungen s. Krüger, Internationaler Rechtsvergleich,<br />
in: Flämig u.a. [Hrsg.], Handbuch des Wissenschaftsrechts, 2. Aufl. 1996,<br />
S. 1711 ff., 1723 ff.). Von der verdienstvollen Untersuchung von Lynen (Kunst im<br />
Recht, Erläuterungen zum Spannungsfeld von Kunst, Recht und Verwaltung, Düsseldorf<br />
1994) abgesehen, lassen sich jedoch für die Kunst – unbeschadet einer Vielzahl<br />
von Abhandlungen zu kunstrechtlichen Detailfragen – bis in die heutige Zeit<br />
hinein kaum Ansätze für die Entwicklung einer rechtswissenschaftlichen Disziplin<br />
„Kunstrecht“ erkennen.
268 Literatur<br />
WissR<br />
Um so mehr verdient Aufmerksamkeit, dass im Jahre 2007 Klaus Ebling und<br />
Marcel Schulze zusammen mit einigen der „Kunst“ zugewandten Juristen als Autoren<br />
das Wagnis eingegangen sind, ein Werk mit dem ambitiösen Titel „Kunstrecht“<br />
herauszugeben. Sicherlich lag den beiden Herausgebern für das Projekt nicht<br />
die Idee zugrunde, mit dieser Publikation nunmehr eine neue Rechtsdisziplin zu<br />
begründen. Man wird eher vermuten, dass mit dem Einstieg in das „postmaterielle<br />
Zeitalter“ auch ein Werk über das „Kunstrecht“ irgendwie „in der Luft“ lag.<br />
Ohnehin zeichnet sich auf dem Kunstmarkt schon seit geraumer Zeit vor allem<br />
auf dem Hintergrund seiner Internationalisierung ein Paradigmenwechsel ab. Immer<br />
mehr wird Kunst zum Statussymbol, durch deren Besitz man überlegenen<br />
Geschmack oder Stil demonstrieren kann. Auf dem Kunstmarkt vollzieht sich<br />
hiernach ein – von überörtlichen Tageszeitungen auf der Seite „Kunstmarkt“ mitunter<br />
ungläubig begleiten 1 – Wandel, der sich insbesondere darin zeigt, dass Kunstwerke<br />
zu einem Spekulations- und Investitionsobjekt („Trophäen-Shopping“) sowie<br />
zu einem Werbemittel im globalisierten Kulturbetrieb werden (vgl. Watson,<br />
From Manet to Manhattan, The Rise of Modern Art Market, 1992, passim). Angesichts<br />
der Metamorphose des vor allem von Auktionshäusern, Galerien und privaten<br />
Sammlern beherrschten internationalen Kunstmarktes in einen „Kapital“-<br />
Markt (mit einem jährlichen Umsatzvolumen von ca. 20 Mrd. EUR) entfaltet der<br />
Kunstmarkt eine „kapitalistische“ Dynamik, die mehr denn je der rechtlichen<br />
Hilfe und Korrektur bedarf, damit die Kunst – wie der Fall der im Juni 2008 im<br />
Kunsthandel ausgestellten Bilder von Jörg Immendorf zeigt – vor „Schaden“ bewahrt<br />
werden kann.<br />
Vor dem Hintergrund der Entwicklung des Kunstmarktes ist es daher durchaus<br />
verständlich, dass die Herausgeber des Werkes über das „Kunstrecht“ im „Vorwort“<br />
die pragmatischen Zielsetzungen ihres „Handbuches“ recht freimütig herausstellen.<br />
Entsprechend breit angelegt ist auch der Kreis der Adressaten, dem der<br />
„Gebrauch des Handbuches“ nahegelegt wird; er reicht über die Angehörigen der<br />
beratenden Berufe weit hinaus in das Umfeld der Akteure, die – wie Museen, Galerien,<br />
Kunstversicherer und Kunstverwerter – den Kunstmarkt dominieren.<br />
Bei allem Verständnis für den utilitaristischen Ansatz hätte es auch einem<br />
„Handbuch zum Kunstrecht“ gut zu Gesicht gestanden, wenigstens in der „Einführung“<br />
sich als „Lehrbuch“ zu begreifen. Dem Gebot, zumindest in der „Einführung“<br />
die Grundlagen des Kunstrechts – auch und gerade in Abgrenzung zum<br />
„Medienrecht“ – auszubreiten, werden die Ausführungen von M. Schulze jedoch<br />
nicht gerecht. Dessen Präsentation der „Verfassungsrechtlichen Grundlagen“ des<br />
Kunstrechts begnügt sich unter Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung<br />
des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen der Kunstfreiheit (Art. 1 Abs. 1;<br />
Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) und zu der Lehre vom „geistigen Eigentum“ (Art. 14 Abs. 1<br />
S. 1 GG) mit Ausführungen auf wenigen Seiten (S. 1–5; s. auch S. 58). Das durchaus<br />
gehaltvolle und in den Kommentaren zum Grundgesetz ausgebreitete Schrifttum<br />
1 In dem Beitrag von D. Baumer über „Bilder im Kaufrausch, Rekorde im Dutzend“,<br />
in: Süddeutsche Zeitung vom 15.02.2007, gipfelt das Urteil über den Kunstmarkt<br />
in dem Satz „Der europäische Kunstmarkt taumelt in schierer Potenz.“
41 (2008)<br />
Literatur<br />
269<br />
zur Kunstfreiheit wird nicht einmal im Ansatz in die Diskussion über die verfassungsrechtlichen<br />
Grundlagen des Kunstrechts eingebracht. Dieses Defizit ist um<br />
so gravierender, da das Kunstrecht – in Parallele zum Wissenschaftsrecht – in hohem<br />
Maß grundrechtsgeprägt ist. Vielleicht bedarf „Kunst“ angesichts ihrer Funktion<br />
für die freie individuelle Entfaltung nach Maßgabe undefinierbarer Offenheit<br />
und Vielgestaltigkeit im Hinblick auf die Verwerfungen auf dem Kunstmarkt sogar<br />
noch mehr als die „Wissenschaft“ der grundrechtlichen Gewährleistung. Immerhin<br />
ist die Kunstfreiheit als solche in der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
nicht geschützt; sie ist lediglich Teil der Meinungsfreiheit und damit den Schranken<br />
in Art. 10 Art. 2 EMRV unterworfen.<br />
Im übrigen entzieht sich M. Schulze in der „Einführung“ auch in den weiteren<br />
Ausführungen der Aufgabe, die dem Kunstrecht zugrunde liegenden Grundwertungen<br />
aufzuzeigen. Vielmehr sind seine Darlegungen lediglich eine Zusammenfassung<br />
der im Anschluss daran in dem „Handbuch“ auf mehr als 500 Seiten behandelten<br />
Sachkomplexe – von dem „Künstler und sein Werk“ über die „Kunstvermarktung“<br />
bis hin zu dem Steuer- und Zollrecht. Für Irritationen sorgt dabei, dass<br />
– in Erweiterung dessen, was in der „Einführung“ schon in dem Abschnitt über<br />
„Internationale Organisationen, Gemeinschaftsrecht“ ausgeführt wird – dies noch<br />
einmal im 1. Teil als „Internationale Grundlagen“ ausgebreitet wird. Diese Darstellung<br />
hat jedoch zumindest eine hohe informatorische Relevanz, da damit den<br />
Benutzern des „Handbuches“ die mit der Digitalisierung dramatisch gewachsene<br />
Internationalisierung des Kunstmarktes in konzentrierter Form vor Augen geführt<br />
wird.<br />
Im 2. Teil des „Handbuches“ erhöht sich allerdings für das Kunstrecht zunehmend<br />
der Erkenntnisgewinn. In diesem Teil, der dem „Künstler und seinem Werk“<br />
gewidmet ist, werden von drei Autoren höchst unterschiedliche Sachbereiche präsentiert.<br />
Die Problematik von „Eigentum und Besitz“ an Kunstwerken diskutiert<br />
in mitunter recht kühler Diktion (s. insbesondere S. 52 zur Verjährung) K. Siehr.<br />
Im Mittelpunkt des 2. Teils steht eine mit instruktiven Beispielen aus der „Kunstgeschichte“<br />
angereicherte Einführung in das (nationale) „Urheberrecht“ von W.<br />
Nordemann. Abschließend referiert M. Schulze über das jüngst wieder in die<br />
rechtspolitische Diskussion geratene „Künstlersozialversicherungsrecht“.<br />
Ein „Highlight“ offenbart das „Handbuch“ im 3. Teil über den „Kulturgüterschutz“.<br />
Die bezeichnenderweise über den Schutz von Kunstwerken (!) hinausgehenden<br />
Ausführungen W. Siehr zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie sich<br />
nicht allein an der Vergangenheit („Holocaust Art“ sowie Raub- und Beutekunst)<br />
orientieren. Vielmehr ist dem Verf. auf dem geopolitischen Hintergrund von „Krieg<br />
und Kunst“ offenkundig daran gelegen, primär ein umfassend angelegtes (Ziel-)<br />
Programm über den national und international ausgerichteten Schutz von Kulturgütern<br />
vorzulegen (s. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen über „Zukünftige<br />
Entwicklungen“ auf S. 127 ff.). Da die Phantasie derer, die sich der Kulturgüter<br />
nicht nur um des Kunstgenusses willen zu bemächtigen versuchen (s. die Variante<br />
„Art Napping“), jede Grenzen überschreitet, muss sich W. Siehr auch mit<br />
dem Problem der Wirtschaftskriminalität („Geldwäsche“) auseinandersetzen.<br />
Dazu bedient sich der Verf. nicht nur einer äußerst anschaulichen Sprache; viel-
270 Literatur<br />
WissR<br />
mehr vermittelt er über eine Vielzahl von Beispielen ein Höchstmaß an „Plastizität“<br />
für ein Phänomen, das man nicht zuletzt angesichts der Beteiligung staatlicher<br />
Museen an dem illegalen Kunsthandel nur mit dem Etikett „Kulturschande“ versehen<br />
kann.<br />
Demgegenüber sind die Ausführung im 5. Teil des „Handbuches“ über die<br />
„Kunstvermarktung aus urheberrechtlicher Sicht“ eher rechtstechnisch, wenn<br />
auch nicht ausschließlich ausgerichtet. Diese Einschränkung gilt insbesondere für<br />
die Darlegungen von G. Schulze über den Werkoriginalvertrag sowie über den<br />
Kunstvertrag. Demgegenüber zeichnet sich die Darstellung von R. Kirchmaier<br />
über den „Leihverkehr“ vor allem durch die rechtstatsächliche Erkenntnis aus, dass<br />
der Umfang des internationalen Leihverkehrs in jüngster Zeit erheblich zugenommen<br />
hat – eine im Sinne der Völkerverständigung begrüßenswerte Entwicklung,<br />
die jedoch erst jüngst von Seiten der Wortführer staatlicher Museumspolitik einer<br />
kleinkarierten Kritik ausgesetzt gewesen ist. 2 Freilich wirft die Zunahme des internationalen<br />
Leihverkehrs (insbesondere im Zusammenhang mit sog. Dauerleihgaben)<br />
eine Vielzahl von über das Versicherungsrecht („Staatsgarantie“) hinausgehenden<br />
rechtlichen Fragestellungen auf, für die der Verf. eine umfassend angelegte<br />
Antwort bietet.<br />
Geradezu monographischen Charakter weist der von K. Ebling bearbeitete 5.<br />
Teil über das „Steuerrecht“ auf. Zusammen mit dem von R. Rüsken verfassten 6.<br />
Teil über das „Zollrecht“ nehmen die abgabenrechtlichen Ausführungen mehr als<br />
die Hälfte des Umfangs des „Handbuches zum Kunstrecht“ ein. Ob diese Gewichtung<br />
zugunsten des Steuer- und Zollrechts (noch dazu mit einem eigenen Stichwortverzeichnis!)<br />
angemessen ist, sei dahingestellt. Zumindest bietet sie dem Verf.<br />
nicht nur die Gelegenheit einer umfassenden Darstellung des geltenden nationalen<br />
Steuerrechts. Darüber hinaus offeriert K. Ebling – sicherlich einem Desideratum<br />
für die Akteure im Kunstmarkt folgend – einen Überblick über die Besteuerung<br />
ausländischer Künstler. Selbst der steuerlichen Problematik des Kunstsponsorings<br />
und der Kunstsammlungen widmet der Verf. einen eigenen Abschnitt. Auch zu<br />
rechtspolitischen Initiativen über die steuerliche Förderung von Kunst meldet sich<br />
K. Ebling zu Wort. Um so erstaunlicher ist (angesichts des deutlichen Hinweises<br />
auf S. 67) dessen Zurückhaltung, sich ausführlich dem Steuerrecht für (Kunst-)<br />
Stiftungen zuzuwenden (s. aber S. 383 f.).<br />
Die (vielleicht zu) kritischen Bemerkungen über das von K. Ebling / M. Schulze<br />
herausgegebene Werk über das „Kunstrecht“ finden in der Science Community sicherlich<br />
Unterstützung mit dem Hinweis, dass eine unter dem Titel „Kunstrecht“<br />
präsentierte Veröffentlichung nicht nur als „Handbuch“ über einzelne Sachbereiche<br />
einer Rechtsdisziplin verstanden werden kann. Diesen Befund gilt es vor allem<br />
dann als Defizit herauszustellen, wenn sich dieses Rechtsgebiet – insbesondere im<br />
Zeitalter der von der digitalen Technik mehr denn je beherrschten Informationsgesellschaft<br />
– noch nicht etabliert hat, sondern erst im Werden begriffen ist. Ohnehin<br />
muss sich das „Kunstrecht“ – wenn es sich als rechtswissenschaftliche (Quer-<br />
2 K.-D. Lehmann, Die Weltkunsthauptstadt in der Wüste, in: Süddeutsche Zeitung<br />
vom 22.02.2007.
41 (2008)<br />
Literatur<br />
271<br />
schnitt-) Disziplin begreifen sollte – mit der zentralen Frage nach dem „Kunstbegriff“<br />
(s. S. 59 im Urheberrechtsteil und S. 261, 268 im Steuerrechtsteil) im Sinne<br />
einer intranationalen Harmonisierung des Kunstrechts auseinandersetzen. Von<br />
daher ist die wohl nicht unberechtigte Erwartung an die Herausgeber heranzutragen,<br />
in der (ohnehin wegen des Zweiten Gesetzes zur Regelung des Urheberrechts<br />
in der Informationsgesellschaft [BGBl. I 2007, 2513] erforderlichen) 2. Auflage des<br />
Werkes „Kunstrecht“ auch Ausführungen über die dem Kunstrecht vorgegebenen<br />
Grundwertungen und Strukturelemente insbesondere auf dem Hintergrund der<br />
die Kunstfreiheit erwähnenden Esra-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes<br />
vom 13.06.2007 3 vorzulegen.<br />
Christian Flämig<br />
Antonius Assheuer: TV-L, Kommentar für Verwaltung, Hochschulen und<br />
Forschung – Verlag Luchterhand/Wolters Kluwer – Köln 2008 – 460 Seiten<br />
– € 69,00<br />
Mit Abschaffung des BAT und Einführung von TVöD und TV-L hat ein grundlegender<br />
Wechsel im Besoldungsrecht stattgefunden. Das vorliegende Werk von Antonius<br />
Assheuer, Abteilungsleiter für Tarifpersonal und nebenberufliche Beschäftigte<br />
an der Fernuniversität Hagen, hat zum Ziel, laut Klappentext sowohl Praktikern aus<br />
Personalverwaltung als auch Führungskräften und Personalräten gleichsam als Hilfestellung<br />
im täglichen Geschäft zu dienen. Gedacht ist der Kommentar dabei auch<br />
zur Verwendung in Verwaltung, Hochschulen und Forschung.<br />
Der Kommentar behandelt sowohl den TV-L als auch den Überleitungstarifvertrag<br />
(TVÜ-Länder), hält die dazugehörigen Anlagen – allerdings unkommentiert<br />
– bereit, und schließt mit den ebenfalls unkommentierten Tarifverträgen für<br />
Auszubildende der Länder in Ausbildungsberufen nach dem Berufsbildungsgesetz<br />
(TVA-L BBIG) und in Pflegeberufen (TVA-L Pflege).<br />
Die Kommentierung im Einzelnen ist dem Umfang des Werkes geschuldet<br />
durchgehend knapp gehalten. Gleichwohl leistet sie eine inhaltliche Auseinandersetzung<br />
und Erläuterung der Vorschriften des TV-L ohne sich- wie dies bei Kurzkommentaren<br />
mitunter vorkommt – in der bloßen Wiederholung des Gesetzeswortlautes<br />
zu üben. Positiv ist dabei anzumerken, dass zur Erläuterung der Vorschriften<br />
mit kleinen Beispielsfällen gearbeitet wird, die dem Anwender in der<br />
täglichen Praxis dienlich sind. Negativ fällt auf, dass sich die Kommentierung bezüglich<br />
Verweisen auf Rechtsprechung und weiterführende Literatur oder andere<br />
Kommentierungen – beispielsweise Bredemeier/Neffke, TVöD/TV-L, 3. Auflage,<br />
2007; Hamer, Basiskommentar zum TV-L, 2007, Kuner, Leistungsorientierte Be-<br />
3 BVerfG-Beschluss – 1 BvR 1783/05 – vom 13.06.2007, NJW 2008, 39; zu den Entscheidungen<br />
der Vorinstanzen s. LG München (GRUR – RR 2004, 92), OLG München<br />
(ZUM 2003, 426) und BGH (JZ 2006, 193).
272 Literatur<br />
WissR<br />
zahlung in TVöD und TV-L, 2007 – merklich zurückhält. Kritisch zu sehen ist zudem<br />
die Art der Zitierung gerichtlicher Entscheidungen, die sich auffallend oft lediglich<br />
auf das Aktenzeichen und das Verkündungsdatum beschränkt. Ohne einen<br />
juris-Zugang o.ä. sind derartige Angaben in der Praxis praktisch unbrauchbar.<br />
Sinnvoller wäre hier die Nennung von Quellen in gängigen Periodika wie NJW,<br />
NZA, PersR, ZTR etc. gewesen, zumal derartige Literatur bei den Adressaten des<br />
Werkes regelmäßig vorhanden sein dürfte. Eine stichprobenartige Überprüfung<br />
einiger Quellenangaben ergab zudem, dass sämtliche überprüfte Quellen ebenfalls<br />
in einer der genannten Periodika, jedenfalls aber über juris zu finden waren. Wenigstens<br />
ein Hinweis auf die juris-Datenbank wäre daher angezeigt gewesen.<br />
Diese Art der Darstellung mag jedoch auch dem Umstand geschuldet sein, dass<br />
das Buch- so der Verfasser – als Hilfestellung für den Praktiker und nicht für den<br />
wissenschaftlichen Diskurs gedacht ist. Insoweit ist der Kommentar als sinnvolle<br />
Ergänzung zu empfehlen, obwohl es mit 69,00 € zu Buche schlägt.<br />
Eckhard Wesemann