MARKT UND MANAGEMENTQuelle: Wohnbaugenossenschaft wagnis eGHaus Mitte (li) <strong>und</strong> Haus West: Bei<strong>de</strong> Häuser sind mit Brücken verb<strong>und</strong>en, so können Rollstuhlfahrer über <strong>de</strong>nAufzug von Haus zu Haus gelangen. Die oberste Brücke führt zu<strong>de</strong>m auf eine DachterrasseGemeinschaftliches WohnenNachbarschaften wie früherBei Wagnis wohnt man an<strong>de</strong>rs: Die vier Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wohnanlage im neuen Münchner Stadtteil Ackermannbogengruppieren sich um eine Art Dorfplatz. Die gut 200 Menschen, die hier leben, 80 davon Kin<strong>de</strong>r, legenWert auf Gemeinschaft <strong>und</strong> das prägt die Architektur: Es gibt Gemeinschaftsräume <strong>und</strong> -terrassen, die fürFeste <strong>und</strong> Geburtstage allen offen stehen, kulturell Interessierte organisieren im Nachbarschaftstreff Spielr<strong>und</strong>en,Ausstellungen o<strong>de</strong>r Kinoaben<strong>de</strong> – nicht nur für die Hausgemeinschaft von Wagnis I, son<strong>de</strong>rn für dasgesamte Wohnquartier.Hartmut Netzfreier Journalist, MünchenDie im Jahre 2000 gegrün<strong>de</strong>te Wohnbaugenossenschaftwagnis eG (Wagnis) hat <strong>de</strong>m anonymen Nebeneinan<strong>de</strong>rin <strong>de</strong>r Großstadt <strong>de</strong>n Kampf angesagt.Sie verfolgt <strong>de</strong>n Gegenentwurf <strong>de</strong>s nachbarschaftlichenMiteinan<strong>de</strong>rs: Man will „gemeinsam planen,bauen <strong>und</strong> wohnen“. Bislang hat die junge MünchnerGenossenschaft über 230 Wohnungen errichtet– alle nach <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>s nachbarschaftlichenWohnens. In Wagnis-Häusern kennt je<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n;man hilft sich gegenseitig beim Kin<strong>de</strong>rhüten o<strong>de</strong>rRenovieren <strong>de</strong>r Wohnung, die Jüngeren schauennach <strong>de</strong>n Älteren <strong>und</strong> Feste wie Silvester wer<strong>de</strong>nmiteinan<strong>de</strong>r gefeiert. Zu <strong>de</strong>n Wagnis-Prinzipiengehört auch die Selbstverwaltung: Die Hausgemeinschaftenentschei<strong>de</strong>n selbst über die Gartengestaltungo<strong>de</strong>r ob <strong>de</strong>r Gemeinschaftsraum gestrichenwird. Das Konzept vom nachbarschaftlichenWohnen kommt an: Die Zahl <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r ist von21 auf knapp 900 gestiegen. Derzeit plant Wagnisdas fünfte Bauvorhaben.Die Sozialwissenschaftlerin Doris Knaier vom VereinUrbanes Wohnen, <strong>de</strong>r Bauherren bei nachbarschaftlichenWohnprojekten berät, spricht sogar60 4 | 2013
Blick auf die Ostseite mit Treppenhaus <strong>und</strong> Eingang zum Café.Schön zu sehen sind die individuell gestalteten Nischen, die von <strong>de</strong>n Laubengängen aus zu erreichen sindvon einem b<strong>und</strong>esweiten Trend zum Miteinan<strong>de</strong>r:„Immer mehr Menschen wollen nachbarschaftlich<strong>und</strong> selbstbestimmt wohnen“, sagt Knaier. Ob inNürnberg o<strong>de</strong>r Stuttgart, in Hannover o<strong>de</strong>r Berlin,überall in <strong>de</strong>n Städten sprießen Initiativen wie Pilzeaus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Insbeson<strong>de</strong>re Genossenschaftenmit ihren basis<strong>de</strong>mokratischen Strukturengelten als i<strong>de</strong>aler Nährbo<strong>de</strong>n für das Entstehenvon Gemeinschaft. Allein in München folgen dreiGenossenschaften, neben Wagnis noch Frauenwohnen<strong>und</strong> WOGENO, <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>r „neuenNachbarschaften“, wie Soziologen das Phänomenauch gerne nennen.Der Zukunftsforscher Horst Opaschowski gehtdavon aus, dass <strong>de</strong>n neuen Nachbarschaftendie Zukunft gehört: „Schon heute gilt: Je mehrNachbarn sich beim Vornamen kennen, <strong>de</strong>sto sichererist eine Gegend“, stellt Opaschowski fest.Angesichts <strong>de</strong>s <strong>de</strong>mografischen Wan<strong>de</strong>ls gewinnenNachbarschaften, die über distanzierteGrußbeziehungen o<strong>de</strong>r das Ausborgen von Mehlhinausgehen, tatsächlich an Be<strong>de</strong>utung. Da esan Kin<strong>de</strong>rn fehlt, die sich kümmern, wer<strong>de</strong>n sichdie Menschen künftig stärker selbst organisierenmüssen. Nachbarschaften könnten sich dadurch zuprivaten Netzwerken gegenseitiger Hilfe wan<strong>de</strong>ln,prognostizieren Sozialforscher, zu einer neuenForm <strong>de</strong>r Solidargemeinschaft, die wie eine Ersatzfamiliefunktioniert. „Die spontane Hilfsbereitschaftim Nahmilieu wird immer wichtiger“,sagt Opaschowski.Gemeinschaft braucht RaumDoch wie sollen Nachbarschaften im Sinne einessolidarischen Netzwerkes entstehen, wenn <strong>de</strong>rGebäu<strong>de</strong>bestand <strong>de</strong>n sich än<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Bedürfnissen<strong>de</strong>r Menschen kaum entspricht <strong>und</strong> das Gros<strong>de</strong>r Neubauten nachbarschaftsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Aspekteweitgehend außer Acht lässt? „Gemeinschaftbraucht Raum“, sagt Doris Knaier. „Es muss möglichsein, sich außerhalb <strong>de</strong>r eigenen vier Wän<strong>de</strong>zu treffen.“ Wohnungsunternehmen, die nachbarschaftlichesMiteinan<strong>de</strong>r för<strong>de</strong>rn wollen, müsstenGemeinschaftsflächen einplanen. Bei <strong>de</strong>r GenossenschaftWogeno ist das Standard: Fast alle <strong>de</strong>r15 WOGENO-Häuser verfügen über einen Gemeinschaftsraum.„Selbst in Altbauten, in <strong>de</strong>nen Gemeinschaftsräumeursprünglich nicht vorgesehenwaren, fin<strong>de</strong>t sich immer eine Möglichkeit“, sagtPeter Schmidt, Vorstand <strong>de</strong>r WOGENO MüncheneG. Kellerabteile wer<strong>de</strong>n etwas kleiner geplantals üblich, um Platz zu schaffen für einen lichtenKellerraum, in <strong>de</strong>m die Kin<strong>de</strong>r nach Herzenslust tobenkönnen. Neubauten <strong>de</strong>r Genossenschaft habenTreppenhäuser, die Platz bieten für einen Ratschunter Nachbarn; o<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n erschlossen durchgroßzügige Laubengänge, <strong>de</strong>ren balkonartige Ausbuchtungenzum Verweilen einla<strong>de</strong>n.Auch bei Wagnis setzt man auf nachbarschaftsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>Architektur, auf Quartiersplätze <strong>und</strong>Gemeinschaftsgärten, auf gemeinschaftlich genutzteGäste-Appartements für Besuch von außerhalb,auf lichte <strong>und</strong> verbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Durchgänge, diesich auch für Veranstaltungen <strong>de</strong>r Hausgemeinschafteignen. „Wir wollen, dass sich Menschenauch ungezwungen <strong>und</strong> ungeplant treffen“, sagtWagnis-Chefin Elisabeth Hollerbach. „So entstehenNachbarschaft <strong>und</strong> Gemeinschaft.“ Die Gemeinschaftsflächenfinanzieren die Bewohner miteinem Teil ihres monatlichen Mietzinses. Wer<strong>de</strong>nbei Wagnis o<strong>de</strong>r WOGENO Neubauten geplant,sitzen die künftigen Bewohner mit am Tisch <strong>und</strong>nehmen Einfluss auf die Gestaltung ihres neuenZuhauses. Auf diese Weise lernt sich die künftigeHausgemeinschaft schon frühzeitig kennen <strong>und</strong>hat im I<strong>de</strong>alfall bereits beim Einzug ein gutesnachbarschaftliches Verhältnis entwickelt.Wer sind die Mieter?Die Mieter in Wagnis- <strong>und</strong> WOGENO-Häusernentstammen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Milieus <strong>und</strong>Einkommensklassen – eine Vielfalt, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>rWohnungsmix in <strong>de</strong>n Häusern entspricht: Die bei<strong>de</strong>nGenossenschaften kombinieren in Neubauteno<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Sanierung bestehen<strong>de</strong>r Häuser freifinanzierteMiet- <strong>und</strong> Eigentumswohnungen mitöffentlich geför<strong>de</strong>rtem Wohnraum, <strong>de</strong>r entwe<strong>de</strong>rals klassische Sozialwohnung errichtet wird o<strong>de</strong>rim München-Mo<strong>de</strong>ll, für das die Einkommensgrenzeneiner Sozialwohnung plus 60 % gelten.In Wagnis- <strong>und</strong> WOGENO-Häusern leben Ärmere<strong>und</strong> Reichere, Singles <strong>und</strong> Familien, Junge <strong>und</strong>Alte. Allerdings wohnt man hier nicht zum Billigtarif:Die Mieten liegen meist nur knapp unter4 | 201361