Auf dem Weg in den Ersten WeltkriegDie deutsche Sozialdemokratie zurwilhelminischen »Welt«- und Flottenpolitik1897 bis 1900Dass sich an <strong>der</strong> Wende vom 19. zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t eingrundlegen<strong>der</strong> Wandel in den ökonomischen Strukturen <strong>der</strong>fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten vollzog, nicht zuletztim deutschen Kaiserreich, <strong>der</strong> sich zeitgleich auch auf ihre Innen-und Außenpolitik auszuwirken begann, gehört zu den Erkenntnissenmarxistischer historischer Forschung 1 , aber auch<strong>der</strong> Schule um den Hamburger Historiker Fritz Fischer 2 sowiemancher <strong>der</strong> sozialgeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaftlerin <strong>der</strong> BRD <strong>der</strong> 1960er und 1970er Jahre. 3Sie alle konnten in ihren Forschungsarbeiten auf wertvolleStudien zeitgenössischer Theoretiker zurückgreifen.Der damals sich vollziehenden Herausbildung des Finanzkapitalsals einer Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital,<strong>der</strong> Tendenz zur wachsenden Konzentration des Kapitalsund zur Monopolisierung, dem sich rapide entwickelnden Kapitalexport,den um sich greifenden Erscheinungen des außenpolitischenAbenteurertums und <strong>der</strong> innenpolitischen Repressionengalt auch die Aufmerksamkeit des bedeutendenTheoretikers <strong>der</strong> internationalen Arbeiterbewegung RudolfHilferding. Sein grundlegendes, 1910 publiziertes Werk »DasFinanzkapital« 4 , diente nicht zuletzt auch als Anregung undGrundlage <strong>der</strong> Forschungen an<strong>der</strong>er marxistischer Autoren 5 ,von denen Lenins Schrift »Der Imperialismus als höchstesStadium des Kapitalismus – Gemeinverständlicher Abriss« 6 ,veröffentlicht im Jahre 1917, bekanntlich den nachhaltigstentheoretischen und politischen Einfluss ausüben sollte.Im Vorwort <strong>der</strong> 1947 publizierten Neuauflage von HilferdingsWerk schrieb kein Geringerer als Fred Oelssner, ungeachtetmancher <strong>der</strong> von ihm formulierten kritischen Einwände:»Man kann die Ökonomie und die sozialen Bewegungen unsererZeit nicht richtig verstehen, ohne gründlich ›Das Finanzkapital‹studiert zu haben.« 7An dieser Stelle sei aber auch vermerkt, dass sich eine Füllevon oft hellsichtigen Beobachtungen und klugen Analysen<strong>der</strong> weit reichenden wirtschaftlichen und politischen Evolutionenin <strong>der</strong> damaligen Welt des Kapitals in den Spalten des»Vorwärts«, <strong>der</strong> »Neuen Zeit«, in an<strong>der</strong>en Publikationsorganen<strong>der</strong> deutschen Sozialdemokratie, aber auch in Reden undDokumenten <strong>der</strong> SPD-<strong>Partei</strong>tage finden lassen, die nach meinerBeobachtung in <strong>der</strong> Historiografie nicht immer die angemesseneBeachtung gefunden haben.In diesem Beitrag soll ausschließlich von den Anfängen <strong>der</strong>so genannten Weltpolitik und des damit zusammenhängendenFlottenbaus in den Jahren von 1897 bis 1900 die Redesein bzw. davon, wie die Sozialdemokratie sich hierzu positionierte.8 Dieser Gegenstand war in jenen Jahren eines <strong>der</strong>bedeutendsten Themen, vielleicht sogar das bedeutsamsteThema in den politischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen des wilhelminischenDeutschlands.I.Als <strong>der</strong> Admiral Alfred von Tirpitz 9 im Juni 1897 von Kaiser WilhelmII. zum Staatssekretär und Chef des Reichsmarineamtesernannt wurde, vollzog sich nicht allein ein personeller Wechselin diesem Amt, son<strong>der</strong>n die Personalie Tirpitz signalisierteden Beginn einer qualitativ neuen Etappe in <strong>der</strong> wilhelminischenAußen- und Militärpolitik. Worum es ging, war <strong>der</strong> gegenGroßbritannien gerichtete Bau einer Schlachtflotte mit eindeutigaggressiver Zielstellung. Zugleich sollte das Budgetbewilligungsrechtdes Reichstages durch die von <strong>der</strong> Regierungbeantragte parlamentarische Zustimmung zur langfristigenFinanzierung <strong>der</strong> neu zu bauenden Kriegsschiffe ausgehebeltwerden. Mehr noch: nach einmal festgelegten Fristen solltedie gewissermaßen automatische Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Flottedurch Neubauten ohne ein erneutes Votum des Reichstagesermöglicht werden (das so genannte Septennat bzw. Äternat).Deshalb titulierte Franz Mehring den Admiral Tirpitz in einemArtikel <strong>der</strong> »Neuen Zeit« hellsichtig als einen »Marine-Roon«,dem die Aufgabe übertragen worden sei, wie <strong>der</strong> preußischeKriegsminister Albrecht von Roon in <strong>der</strong> Zeit des Heeres-und Verfassungskonfliktes <strong>der</strong> 1860er Jahre 10 , gegenden erklärten Willen <strong>der</strong> Mehrheit des Volkes und des Parlamentesgroß dimensionierte Rüstungsmaßnahmen durchzupeitschen,koste es, was es wolle. Hiergegen müsse <strong>der</strong>Reichstag, so Mehring, »den Mut haben, <strong>der</strong> Regierung ein›bis hierher und nicht weiter!‹ zuzurufen«. Er habe die Kraftaufzubringen, »diesen Standpunkt siegreich durchzufechten«.Das Parlament, so fuhr er fort, habe »noch einmal die vermutlichletzte Gelegenheit, sich ein Stück Macht zu erobern.« 11II.Worum ging es beim geplanten Aufbau einer schlagkräftigenSchlachtflotte? Nach dem Willen ihrer Befürworter sollte siein nicht allzu ferner Zukunft in <strong>der</strong> Lage sein, im Kriegsfal-62
le die mächtige, als unangreifbar geltende britische »homefleet« zu neutralisieren, wenn nicht sogar in einer offenenSeeschlacht in <strong>der</strong> Nordsee zu besiegen. 12Öffentlich wurde dies strikt geleugnet. Der von April 1917bis zum Juli 1918 amtierende Staatssekretär im AuswärtigenAmt, Richard von Kühlmann, schrieb hierzu in seinen Memoiren:»In Wirklichkeit war es sein (Tirpitzens-R.Z.) Wunsch undseine Hoffnung, die englische Flotte überbauen zu können.Ich habe mit eigenen Ohren gehört – damals als Student <strong>der</strong>Rechte in Berlin weilend –, wie er in einem Privathause imvertrauten Kreise vor Reichstagsabgeordneten seine Hoffnung,<strong>der</strong> englischen Flotte den Rang abzulaufen, offen undrückhaltlos darlegte.« 13Letztlich ging es um den Anspruch des deutschen Imperialismus,den Status <strong>der</strong> beherrschenden Weltmacht zu erlangen,es ging um die Neuaufteilung <strong>der</strong> Welt zu Gunsten des DeutschenKaiserreiches, es ging perspektivisch um die Ersetzung<strong>der</strong> führenden imperialistischen Weltmacht Großbritanniendurch die aufstrebende ökonomische wie militärische GroßmachtDeutschland.Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Bernhard von Bülow,hatte in seiner berühmten Reichstagsrede vom 6. Dezember1897 die Grundmelodie dieses politischen Kurses eingängigmit folgenden, seither immer wie<strong>der</strong> zitierten Wortenformuliert: »Wir wollen niemanden in den Schatten stellen,aber wir verlangen auch unseren Platz an <strong>der</strong> Sonne.« 14 Allerdingslag es auf <strong>der</strong> Hand, »dass im Zeitalter <strong>der</strong> vollendetenAufteilung <strong>der</strong> Erde … <strong>der</strong> ›Platz an <strong>der</strong> Sonne‹ so knappgeworden war, dass je<strong>der</strong> Imperialismus, <strong>der</strong> mehr ›Sonne‹für sich beanspruchte, diese einem an<strong>der</strong>en entzog.« 15 An<strong>der</strong>sgesagt: Der deutsche Imperialismus konnte nur mit Hilfekriegerischer Konflikte, womöglich eines Weltkrieges, daraufhoffen, Einfluss-Sphären und Kolonien zu seinen eigenenGunsten neu verteilen zu können – ganz zu schweigen vonAbsichten, Territorien an<strong>der</strong>er imperialistischer Mächte Europas,wie Frankreichs o<strong>der</strong> Russlands, zu annektieren. Seit <strong>der</strong>Wende vom 19. zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelte sich dabei<strong>der</strong> Gegensatz zwischen Deutschland und Großbritannien zurHauptquelle <strong>der</strong> Kriegsgefahr o<strong>der</strong>, wie es <strong>der</strong> Generalleutnantund Erste Generalquartiermeister <strong>der</strong> Dritten OberstenHeeresleitung im Ersten Weltkrieg, Wilhelm Groener, signifikantformulierte: »Die Geschichtsschreibung wird die Periodevon 1890 bis 1918 durch die Überschrift charakterisieren:›Kampf Deutschlands mit England um den Weltmarkt‹.« 16Maßgebliche Kreise <strong>der</strong> ökonomisch und politisch Herrschenden:<strong>der</strong> Kaiser und seine Entourage, die Spitzen <strong>der</strong> Admiralitätund <strong>der</strong> Generalität sowie bedeutende Exponentendes Großkapitals, standen diesem Projekt, den »Griff nach<strong>der</strong> Weltmacht« (Fritz Fischer) zu wagen, ungeachtet seineshöchst abenteuerlichen Charakters, nichtsdestowenigermit großer Sympathie und Zustimmung gegenüber. Zu nennenwären hier zum Beispiel die von den maritimen Rüstungenprofitierenden Unternehmen <strong>der</strong> Herren Krupp und vonStumm-Halberg, letzterer von den Zeitgenossen als »Scheichvon Saarabien« bezeichnet, aber auch Finanzinstitute wie dieDeutsche Bank und die Disconto Gesellschaft. 17Zeitgleich mit <strong>der</strong> beginnenden Flottenrüstung gegen Großbritanniengriff das Deutsche Reich nach allen Landstrichenund Gebieten, so klein sie auch immer sein mochten, umdas eigene Kolonialreich (Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo,Deutsch-Südwestafrika) auszudehnen, das im Vergleich zudenen <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> und Franzosen einen eher bescheidenenCharakter aufwies: Kiautschou (1898), die Marianen- undKarolineninseln, die Insel Palau, Südsamoa (jeweils 1899),ein kleiner Teil des französischen Kongo (1911).III.Entschiedenste Opposition gegen diese unvermeidlich auf einenKrieg hinsteuernde »Weltpolitik« wurde allein von <strong>der</strong> Sozialdemokratiepraktiziert. Der sich herausbildende deutscheImperialismus wurde von Beginn an durch solche Politiker undTheoretiker <strong>der</strong> SPD scharfsinnig analysiert wie August Bebelund Wilhelm Liebknecht, Paul Singer und Franz Mehring. WilhelmLiebknecht hob in einer Rede vor dem Reichstag am27. April 1898 hervor, dass die so genannte Weltpolitik darinbestünde, »sich eigentlich in alles, was in <strong>der</strong> ganzen übrigenWelt vorgeht, einzumischen, eine Politik, die sich einbildet,die Weltvorhersehung zu spielen, und die will, dass Deutschland<strong>der</strong> Weltgendarm sein soll, <strong>der</strong> überall dafür zu sorgenhat, dass <strong>der</strong> deutsche Einfluss maßgebend ist.« 18Und auf dem sozialdemokratischen <strong>Partei</strong>tag in Mainz, <strong>der</strong> imSeptember 1900 stattfand, analysierte Paul Singer: »Die Entwicklungdes Kapitalismus hat dahin geführt, dass durch dieKonzentration des Kapitals und durch die dem Kapital innewohnendeExpansionskraft er seiner Gier nach Vermehrungnicht mehr im Inland Ausdruck geben kann. Das Streben desKapitalismus geht dahin, alle Ausbeutungsgelegenheiten zubehaupten, welche es ihm ermöglichen, sich immer mehr zukonzentrieren. (…) Im Namen <strong>der</strong> Zivilisation geht man, in <strong>der</strong>einen Hand die Bibel, in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en die Flinte, nach fernenLän<strong>der</strong>n; im Namen <strong>der</strong> Zivilisation raubt man den Leuten ihrLand, und wenn sie sich dagegen wehren, schießt man siewie die Hunde nie<strong>der</strong>; im Namen <strong>der</strong> Zivilisation zwingt mansie in die ökonomische Sklaverei <strong>der</strong> Eroberer …« 19Weite Verbreitung fanden auch mehrere Broschüren, die überdie tiefer liegenden ökonomischen und politischen Motiveaufklärten, die den maritimen Rüstungen zugrunde lagen. Zunennen sind hier insbeson<strong>der</strong>e Alexan<strong>der</strong> Helphands (Pseudonym:Parvus) ebenso kurz gefasste wie präzise Analyse »Marinefor<strong>der</strong>ungen,Kolonialpolitik und Arbeiterinteressen«, diebereits 1898 publiziert wurde, Franz Mehrings Band »Weltkrachund Weltmarkt« sowie Julian Marchlewskis (Pseudonym:Karski) Buch »Flottenkoller und Weltmachtpolitik«, diebeide im Jahre 1900 erschienen.IV.Doch die kompromisslose Opposition <strong>der</strong> Sozialdemokratiegegen die »Welt«- und Flottenpolitik des wilhelminischen Rei-63
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