«Faire Lösung» «Adieu spitze Feder ... - Die Schweizerische Post
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24 Leute Porträt<br />
<strong>Die</strong> <strong>Post</strong> Nr. 9/2006<br />
Literat und Päcklipöstler<br />
Der Zürcher Schriftsteller <strong>Die</strong>ter Zwicky ist kürzlich mit dem<br />
Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet worden.<br />
Von Montag bis Mittwoch arbeitet der Familienvater im<br />
Paketzentrum Frauenfeld als Mitarbeiter der Codiergruppe.<br />
Text und Bild: Christian Roth<br />
Es knackt<br />
Ich beobachte Luisa, während sie<br />
die Milch aufkocht. Luisa ist blond<br />
und gross. Ich bin überrascht. Sie<br />
blinzelt wie jedermann. Ihre Ohren<br />
sind unbeschreiblich schön, regelmässig.<br />
Ihre Ohrknorpel sind<br />
weich. Luisa hat vier Kinder. Sie<br />
trägt Hausschuhe. Ihre Socken sind<br />
dünn. Ihre Beine sind warm. Ich<br />
muss schon sagen, ich muss schon<br />
sagen: Ich fliege auf Luisa. Welch<br />
ein Unglück. Welche Trauer, wo ich<br />
stehe. Luisa weiss nichts. Sie hat<br />
nasse Hände. Sie steht am Spülbecken.<br />
Ihre Finger sind kurz. Sie<br />
missfallen mir. Ich bin etwas erlöst.<br />
Ich denke an mein geschwollenes<br />
Knie. Das ist die Erlösung. Ich<br />
lache. Luisa lacht mich befreit an:<br />
Weshalb ich lache? <strong>Die</strong>ser Moment<br />
ist schön. Ich trete auf ein Bonbon.<br />
Es knackt. Das Fenster ist offen.<br />
Man hört den Brunnen rauschen.<br />
Der Brunnen steht vor Grossmutters<br />
Haus. Luisa ist mit allem fertig.<br />
Jetzt wird es gespenstisch. Luisas<br />
� <strong>Die</strong>ter Zwickys Berufsweg schien absehbar,<br />
als er nach der Matur 1978 ein Theologiestudium<br />
aufnahm. Viele seiner Studienkollegen von<br />
damals leiten heute eine Pfarrei, sind Gefängnisseelsorger<br />
oder Missionar. <strong>Die</strong>ter Zwicky hielt<br />
zwar als Theologe einige Predigten und spendete<br />
einer handvoll Hochzeitspaaren den Segen.<br />
Schon vor dem Lizenziat in Theologie, das er<br />
1988 an der Universität Zürich abschloss, fing er<br />
an, literarisch zu schreiben.<br />
Sein erstes grosses Werk, der Roman «Totensonntag:<br />
Verweser» wurde bis heute nicht veröffentlicht,<br />
da sich kein Verleger fand. Dass er<br />
für die Fertigstellung des Romans einen finan-<br />
Als Schrifststeller und <strong>Post</strong>angestellter ist der 49-jährige<br />
<strong>Die</strong>ter Zwicky aus Uster beruflich in zwei Welten zuhause.<br />
Socken sind schwarz und dünn.<br />
Sie ist blond und gross. <strong>Die</strong> Nähe<br />
schmerzt. Es ist acht Uhr. Der<br />
Abend sollte beginnen. Luisas Kinder<br />
sind auswärts. <strong>Die</strong> Stube ist<br />
beleuchtet. Ich warte in der Küche.<br />
Grossmutter ist seit Jahren tot.<br />
Ich bin vollkommen starr. Ich bin<br />
Luisas Mann. Luisa ruft. Ich bin<br />
etwas erleichtert.<br />
Aus «Der Schwan,<br />
die Ratte in mir» –<br />
Prosa (S.25),<br />
<strong>Die</strong>ter Zwicky<br />
2002, bilgerverlag<br />
Zürich.<br />
ziellen Zustupf in Form eines Werkjahres des<br />
Kantons Zürich erhielt, bestätigte Zwicky in<br />
seiner Überzeugung, statt Pfarrer Schriftsteller<br />
zu werden.<br />
Von Mülligen nach Frauenfeld<br />
Schon als Student hatte Zwicky in den Ferien<br />
und während des Semesters Teilzeit im Paketzentrum<br />
Zürich-Mülligen gearbeitet. Aus seiner<br />
Freitagabendschicht wurde mit der Zeit ein 50-<br />
Prozent-Pensum. <strong>Die</strong>ter Zwicky machte den<br />
Umzug ins Paketzentrum Frauenfeld mit, wo er<br />
seit einigen Jahren immer Montag bis Mittwoch,<br />
jeweils von 7 bis 15.20 Uhr arbeitet. Donnerstag<br />
www.post.ch/personalzeitung<br />
und Sonntag sind seine Familientage, an denen<br />
er sich zu Hause in Uster um seine achtjährige<br />
Tochter und den dreijährigen Sohn kümmert.<br />
Der Freitag ist fürs Schreiben reserviert.<br />
Nebst Veröffentlichungen in der Neuen Zürcher<br />
Zeitung und Literaturzeitschriften wie<br />
«drehpunkt», «Entwürfe» sowie «Manuskripte»<br />
erschien 2002 das Buch «Der Schwan, die Ratte<br />
in mir» (siehe Text «Es knackt»).<br />
<strong>Die</strong>sen Frühling erschien der Prosaband<br />
«Reizkers Entdeckung» (siehe Buchhinweis).<br />
<strong>Die</strong>ter Zwicky erhielt dafür am 16. August den<br />
mit 10 000 Franken dotierten Schillerpreis der<br />
Zürcher Kantonalbank (ZKB).<br />
«Denkprosa»<br />
<strong>Die</strong> Jury der <strong>Schweizerische</strong>n Schillerstiftung<br />
charakterisiert das neue Buch mit dem<br />
Begriff «Denkprosa». Aus dem Urteil der Jury:<br />
«<strong>Die</strong> Texte gehen von einer Beobachtung aus,<br />
einer ‘Entdeckung’, welche zum Innehalten<br />
und Nachdenken über das Funktionieren unserer<br />
Vorstellungen zwingt, über den trügerischen<br />
Zusammenhang zwischen Worten und<br />
Dingen. Zwickys Texte suggerieren intensive<br />
Bilder, provozieren ein Schmunzeln, hinterlassen<br />
Rätsel.»<br />
Inzwischen arbeitet <strong>Die</strong>ter Zwicky bereits an<br />
seinem nächsten Werk. Der längere Text hat den<br />
Arbeitstitel «Cottonville», spielt im afrikanischen<br />
Staat Benin, und es kommen darin unter anderem<br />
«Packbeizettel» vor. «Was das genau ist,<br />
weiss ich selber nicht», gesteht <strong>Die</strong>ter Zwicky<br />
schmunzelnd ein, «gut möglich, dass es etwas<br />
mit der <strong>Post</strong> zu tun hat.»<br />
<strong>Die</strong>ter Zwicky<br />
Reizkers Entdeckung<br />
ISBN: 3.908010.79.9<br />
www.bilgerverlag.ch<br />
Erhältlich für CHF<br />
30.– im Buchhandel<br />
oder direkt beim bilgerverlag<br />
in Zürich<br />
www.bilgerverlag.ch<br />
«<strong>Die</strong> Gipfelweinflasche,<br />
bedeute ich meinem ohrengeschädigten<br />
Vater schon jetzt derart laut, dass die<br />
leicht nach Nordosten hängende Gipfelraststelle<br />
einfach mithören muss, die gekühlte<br />
Weinflasche habe ich zu Hause am inneren<br />
Klosettrand erledigt, das heisst zerschellt!»<br />
<strong>Die</strong> NZZ am Sonntag schreibt: «Heiter<br />
durchsonnt wie Kafkas und Becketts Prosa<br />
sind Zwickys Geschichten.»