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Die Verantwortung aber bleibt - GEW

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Detmar Grammel<br />

Shoshana Rabinovici: Dank meiner Mutter<br />

Erinnerungen einer Überlebenden als Thema im Deutsch-Unterricht<br />

Einführung für einen Workshop auf dem Seminar 1996<br />

Ich möchte mit euch heute nachvollziehen, wie mein<br />

Deutschkurs den Weg ins Buch (Shoshana Rabinovici,<br />

„Dank meiner Mutter“, nähere Angaben s. Anhang) gefunden<br />

hat. Um zu verstehen, warum dies nicht so<br />

einfach für sie war, muss ich etwas über die Ausgangsvoraussetzungen<br />

sagen:<br />

<strong>Die</strong> Berliner Schullandschaft und meine<br />

Lerngruppe<br />

<strong>Die</strong> Berliner Gesamtschulen sind integrative Gesamtschulen,<br />

in denen Schüler aller Begabungstufen in gemeinsamen<br />

Klassen unterrichtet werden, die für die<br />

Klassen 7 bis 10 konstant zusammenbleiben. In bestimmten<br />

Fächern erfolgt vom 2. Halbjahr der 7.<br />

Klasse an die Differenzierung nach Leistung auf zwei<br />

Ebenen, dem Grundkurs und dem Erweiterungskurs.<br />

In Deutsch beginnt die Differenzierung mit der 8.<br />

Klasse. Meine Lerngruppe ist ein Grundkurs mit 22<br />

Schülerinnen und Schülern, die hauptsächlich aus<br />

meiner eigenen Klasse kommen. Sie haben oftmals<br />

Probleme mit dem sinnerfassenden Lesen, mit der<br />

Rechtschreibung – <strong>aber</strong> sie sind offen für Neues. Einige<br />

von ihnen schleppen trotz ihrer jungen Jahre (sie<br />

sind 14 bis 17 Jahre alt) schon Lasten mit sich – Ma.<br />

und Mi. mit ihren palästinensischen Vätern, beide<br />

Mädchen Wanderer zwischen zwei Kulturen wie Ü.<br />

und T., in Berlin geborene Türken, M. mit gehörlosen<br />

Eltern, bei Pflegeeltern lebend, P., dem die Eltern abhanden<br />

gekommen sind und der bei den Großeltern<br />

aufwächst, I., die gerade auf dem Gymnasium gescheitert<br />

ist, A., 17 Jahre alt, in Kenia geboren, seit<br />

Dezember in Berlin und im 5. Monat schwanger, B.,<br />

in Polen geboren und aufgewachsen ... Es war ihnen<br />

wichtig, dass, wenn ich schon von unserer gemeinsamen<br />

Arbeit berichte, ich sie auch vorstelle.<br />

Wie finden wir Zugang zu diesem Buch?<br />

Wie erschließt sich für die Schülerinnen und Schüler<br />

die Zeit, das Geschehen, das Shoshana Rabinovici beschreibt?<br />

Wie wird der schrittweise Verlust der bürgerlichen<br />

Existenz für die Schülerinnen und Schüler<br />

erfahrbar? <strong>Die</strong> geschilderten Ausgangsvoraussetzungen<br />

verbieten das oft praktizierte Verfahren: Seite x –<br />

y lesen, Problemstellung, schriftliche Aufgabe, Diskussion<br />

– nächster Schwerpunkt. Für meine Schülerinnen<br />

und Schüler musste ich neben dem sachlichen<br />

einen emotionalen Zugang finden: Wo liegt dieses<br />

Land? Warum leben hier unterschiedliche Nationalitäten?<br />

Gibt es dafür geschichtliche Gründe? Wann findet<br />

das Geschehen statt? Was ist das für eine Familie?<br />

Wie lebt sie? Welchen beruflichen Hintergrund hat<br />

sie? Wie bricht das Verhängnis in die heile Welt der<br />

Erzählerin ein? Wie bei der „Puppe in der Puppe“<br />

oder einem Drop-down-Menü auf dem Bildschirm eröffnet<br />

jede Fragestellung neue, weitergehende, über<br />

den Buchtext hinausgehende Frage. Bei dieser Vorgehensweise<br />

haben mir Fotografien geholfen, die ich in<br />

Vilnius aufgenommen hatte. Damit wurden die<br />

Schauplätze für die SchülerIinnen real und mit ihnen<br />

die Personen der Handlung. Unbewusst wurden wir<br />

ein Teil der Familie – wir sprachen von „Großvater<br />

Indurski“, „Shoshana“, „Julek“ – es war nicht „der<br />

Großvater“, nicht „die Erzählerin“, nicht „der neue<br />

Mann der Mutter“. Auf dem Stadtplan verfolgten wir<br />

den Weg der Familie von der Wielkastraße ins Ghetto<br />

2 und Ghetto 1. Anhand der Zeitangaben lernten wir<br />

die jüdischen Feiertage kennen. <strong>Die</strong> Grundrisse der<br />

Wohnungen, angefertigt nach den Beschreibungen im<br />

Text, zeigten ganz konkret den Verlust der Privatheit.<br />

Mit Isaak Wekslers Verschwinden verlor der Vernichtungsort<br />

Ponar die Distanz der anonymen Zahl. <strong>Die</strong><br />

Untaten der scheinbar kultivierten Gestapo-Offiziere<br />

führten uns zu Haim Ginotts Fragen nach dem Zweck<br />

und Ziel von Erziehung (s.u.).<br />

Gruppenaufgaben:<br />

A. Vervollständige die Übersicht über die Familien<br />

Weksler/Indurski/Rauch. Trage farbig ein, was du<br />

über den Verbleib der Personen erfährst.<br />

B. Das Gedicht von Haim Ginott reflektiert Erfah-<br />

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