Die Verantwortung aber bleibt - GEW
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forschen, bedeutet, die vergangene und zerstörte Welt<br />
neu zu entdecken und zu erfahren, was verloren ging.<br />
Überall stoßen wir auf Spuren dieser Vergangenheit,<br />
in der Schule, in der wir lehren oder lernen, der<br />
Straße, in der wir wohnen, dem Haus, in dem wir<br />
leben, der Universität, den Banken ... Uns bekannte<br />
Orte, zu denen wir eine Beziehung haben, stellen eine<br />
Verbindung zwischen uns und der Vergangenheit her,<br />
eine Beziehung, die Interesse weckt und dazu anregt,<br />
Fragen zu stellen. Der regionalgeschichtliche Ansatz<br />
stellt damit die Frage in den Vordergrund, in welchem<br />
Verhältnis Vergangenes und Gegenwärtiges stehen.<br />
Geschichte ist insofern nicht ein abgeschlossenes Kapitel,<br />
sondern wirkt prozesshaft in unser heutiges<br />
Leben ein. Geschichte zu erforschen, heißt, zu entdecken,<br />
vor welchem Hintergrund wir das wurden,<br />
was wir heute sind. In diesem Sinne kann der lokalhistorische<br />
Ansatz in besonderer Weise zur Identitätsentwicklung<br />
beitragen...<br />
<strong>Die</strong> Beschäftigung mit dem Schicksal der Menschen,<br />
die während der Nazizeit verfolgt und ermordet wurden,<br />
eröffnet noch eine weitere Dimension: Sie gibt<br />
ihnen ihre menschliche Würde zurück. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />
wirkt dem Vergessen entgegen, die Opfer erhalten<br />
einen Namen und ein Gesicht. <strong>Die</strong> menschliche<br />
Dimension des Völkermords rückt so ins Blickfeld.<br />
<strong>Die</strong>ser inhaltliche und methodische Zugang ermöglicht<br />
somit in besonderer Weise Verständnis für und<br />
Einfühlung in die Opfer und die Fähigkeit zur Trauer.<br />
Gedenken setzt voraus zu wissen, wer die Opfer waren<br />
und was mit ihnen verloren ging. Wirkliche Trauer ist<br />
nur dort möglich, wo ein Gefühl von Verlust entsteht.<br />
<strong>Die</strong> Beschäftigung mit Biographien führt somit zur<br />
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Frage, wie der Opfer in angemessener Weise gedacht<br />
werden kann.<br />
Der regionalgeschichtliche und biographische Ansatz<br />
steht daher in enger Verbindung mit der Gedenkstättenpädagogik,<br />
vor allem dann, wenn Zusammenhänge<br />
zu Orten, von denen Menschen in die<br />
Konzentrationslager deportiert wurden, hergestellt<br />
werden. Einerseits wirkt diese Verknüpfung einer verharmlosenden<br />
heimatgeschichtlichen Geschichtsschreibung<br />
entgegen. („<strong>Die</strong> letzten Juden verließen xy<br />
am ...“.) Andererseits wird dabei die Komplexität der<br />
Problemstellungen deutlich. <strong>Die</strong> Geschichte vieler<br />
Orte wird oft erst über Erinnerungen erschlossen,<br />
weshalb in der Arbeit der lokalen Projekte Gespräche<br />
mit Zeitzeugen eine zentrale Rolle spielen. Daher ist<br />
es wichtig, solche Kontakte und Begegnungen zu<br />
schaffen, um die Erinnerungen der Zeitzeugen, solange<br />
dies noch möglich ist, festzuhalten und zu dokumentieren.<br />
Tonband- und Videoaufnahmen, Fotos,<br />
historische Dokumente wie Bilder, Briefe ermöglichen<br />
die spätere Weitergabe der biographischen Berichte.<br />
Nicht vergessen werden sollte, dass die an den<br />
Projekten Beteiligten als Multiplikatoren ihre Erfahrungen<br />
und Eindrücke ebenfalls weitergeben können.<br />
<strong>Die</strong> Verknüpfung zwischen dem früheren jüdischen<br />
Leben und dem Massenmord weist noch auf eine andere<br />
Dimension hin. Juden werden in Schulbüchern<br />
immer noch überwiegend als Opfer und Objekte der<br />
Geschichte dargestellt. <strong>Die</strong> Diskriminierung und Verfolgung<br />
der jüdischen Bevölkerung in der Abfolge<br />
staatlicher Maßnahmen steht im Mittelpunkt, an<br />
Juden geschieht etwas. Biographische Berichte und Begegnungen<br />
mit Zeitzeugen stellen im Gegensatz zu offiziellen<br />
behördlichen Dokumenten die Perspektive<br />
der vom Naziterror Betroffenen dar. Lebensberichte<br />
rücken die Sicht der Betroffenen, ihr Selbstverständnis,<br />
ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Lösungsversuche<br />
ins Blickfeld.<br />
Damit verändert der biographische Ansatz auch den<br />
Blick auf Geschichte. Lebensgeschichten zeigen die<br />
Menschen nicht nur als Objekte von Geschichte und<br />
Politik, sondern immer auch gleichzeitig als handelnde<br />
Subjekte. <strong>Die</strong> Beschäftigung mit Menschen und mit<br />
Biographien gibt einen Einblick in Lebensbedingungen,<br />
in Entscheidungen und Handlungsspielräume.